Am Dichter aufgelaufen

von Brigitta Niederhauser

Bern, 27. April 2013. Keine einzige Glühbirne geht kaputt. Unzählige liegen da, wie Sterne, die noch nicht ganz verglüht sind. Als hätten die Himmelskörper ihre Schwerelosigkeit aufgegeben und ihre ganze Energie einem geschenkt, der ihre Kraft zum Überleben brauchte, um seine heftigen Gefühle zu meistern, sie mit seinen Gedichten zu bannen. Himmelblau und Abendrot, Regen und Eis, Wind und Nebel – kein Naturphänomen war dem estnischen Dichter Juhan Liiv (1854-1912) zu wuchtig für Sehnsucht und Liebe, Einsamkeit und Not, Verlorenheit und Tod.

Ein wenig verloren stehen auch die vier Schauspielerinnen und drei Schauspieler von NO99 in der großen Halle der Dampfzentrale, eine der Bühnen des Berner Theaterfestivals Auawirleben. Bereits zum vierten Mal tritt die Truppe aus Tallin hier auf. Unvergessen ist ihr Schlachtruf "Juhuia", als sie am Aua von 2007 erstmals eine Bühne im Westen enterten. Seither wollen sie alle, die Theaterfestivals von Hamburg bis Wien, diese wilden Esten.

Ein funkelnder Schatz

Kein trotziges Trüppchen, das weder Russen noch Kapitalismus und elitäres Kunstverständnis fürchtet, tritt diesmal auf. Ungekünstelt ist die Andächtigkeit, mit der Liivs Gedichte im Original rezitiert werden, lang der Atem, auf dass dem Publikum genug Zeit fürs Lesen der deutschen Übersetzung und das Echo in den eigenen Köpfen bleibt. Für diese betörenden Bilder, in denen sich das tragische Schicksal des Dichters, der im Wahnsinn endete, und seine schwierige Liebe zur Heimat spiegelt. NO99 hebt da nicht nur einen Schatz, die Truppe lässt ihn auch ganz schön funkeln, und schon nach kurzer Zeit kommt man nicht um die Frage herum, warum Liiv außerhalb Estlands kaum bekannt ist, geschweige denn seine Gedichte ins Deutsche übersetzt worden sind.

iga eht suedameloeoek 1 280 tiit ojasoo u© Tiit Ojasoo Doch dann zieht sich das Firmament wieder zurück, strahlt nun über den Köpfen der Protagonisten. Die Sterne sind wieder weiter weg, und Juhan Liiv auch. Mit seinen Gedichten im Gepäck ist die Truppe zwar für ihr jüngstes Stück "Iga eht südamelöök" (Jeder echte Herzschlag) aufgebrochen. Jeder der Truppe hatte sich allein für drei Wochen abgesetzt, nach Kambodscha, Japan oder Finnland. Crowdfunding im Internet machte diese Reisen möglich, die das Budget der Truppe sonst gesprengt hätten. Neue Gefühle wollten gesammelt werden, und Liivs Gedichte waren da der Notvorrat, um als Tourist dem Leben light in der großen Welt nicht zu erliegen. Ein Kompass sind sie auch, um Authentizität zu orten bei dieser Suche nach neuen Empfindungen, die dann zu Hause soweit gehäutet hätten werden sollen, dass ihre Echtheit auch auf der Bühne noch aufscheint.

Sex oder Weihnachten?

Doch das will nicht gelingen, mit diesen lose verknüpften Szenen, die einem viel Kryptisches zumuten: Seltsame Tänze und seltsame Laute, Omeletts backen und immer wieder kurze Befragungen. Wobei "wie schnell ist dein Prozessor?" und "Sex oder Weihnachten?" noch zu den originellsten Fragen gehören. Antworten werden vermieden, und die viel gesuchte Echtheit will sich nur in wenigen Szenen einstellen. Zum Beispiel als eine Frau nach Hause kommt, ihren Platz auf dem Sofa von einer anderen besetzt findet und an der stummen Feigheit des Mannes aufläuft. Oder wenn sich eine Frau mit geschlossenen Augen und verklärtem Lächeln an ihren Liebsten zu schmiegen versucht, der ob so viel offensichtlicher Blindheit mit seinem Messer immer aggressiver um den Körper der Frau herumfuchtelt. Diesen starken Bildern zum Trotz läuft die Truppe bis zuletzt auf an Liivs Gedichten. An zeitlos gültigen Zeilen wie "Jeder echte Herzschlag zermalmt mich zu Staub / und wirft mich nieder / jeder echte Herzschlag für dich / mein Leben nimmt er für dich".

 

Iga eht südamelöök (Jeder echte Herzschlag)
von NO99
Regie: Ene-Liis Semper, Tiit Ojasoo, Text: Ene-Liis Semper, Tiit Ojasoo & Ensemble, mit Gedichten von Juhan Liiv, Dramaturgie: Eero Epner.
Mit: Rasmus Kaljujärv, Eva Klemets, Risto Kübar, Mirtel Pohla, Gert Raudsep, Inga Salurand, Marika Vaarik.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.auawirleben.ch  
www.no99.ee

 

 

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