Presseschau vom 28. April 2013 – Dirk Pilz betrachtet in der Berliner Zeitung 50 Jahre Theatertreffen

Die große Modenschau

Die große Modenschau

Berlin, 28. April 2013. Anlässlich des 50. Geburtstags des Berliner Theatertreffens schreibt Dirk Pilz im Magazin der Berliner Zeitung (27./28. April 2013) einen langen Essay über Vergangenheit und Gegenwart dieses alljährlichen Schaulaufens der "bemerkenswertesten" zehn Inszenierungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Vom Hörensagen werden die glorreichen Anfangszeiten mit Fritz Kortner, Samuel Beckett, Peter Zadek und Peter Stein berichtet. Legenden des Theatertreffens wie Claus Peymann (siebzehn Einladungen) kommen als Kritiker der aktuellen Zustände zu Wort. Dass Peymann trotz hoher Besucherzahlen mit seinen Inszenierungen am Berliner Ensemble, nicht mehr in die Riege der Eingeladenen passt, will dem Kritiker durchaus einleuchten, denn das Theatertreffen "sucht den Kontakt zum Hier und Heute. Und es will Kunst zeigen, ästhetisch Bemerkenswertes, nicht Auslastungserfolge."

Ähnlich stehe es mit Peter Stein (ebenfalls siebzehn Einladungen), der seit einigen Jahren nicht mehr zum Kreis der Auserwählten gehört: Seine Kunst, in der das Theater in "treuer Dienerschaft" noch hierarchisch dem Text und dem Dichter unterstellt sei, "passt nicht in eine Zeit, die ihren Glauben an starke Männer, stabile Herrschaftsstrukturen und geschlossene Milieus verloren hat. Das ganze Denken in Oben und Unten hat an Überzeugungskraft eingebüßt".

Das Theatertreffen, das heute als "Bundescheflobbyist des Theaterbetriebs" auftrete, werde in puncto Aufgeblasenheit nur noch von den Salzburger Festspielen übertroffen. "Aber dort ist das Publikum braver, vielleicht biederer, in jedem Fall nicht so ausgesucht lässig und zynisch und altklug wie in Berlin." Im Prinzip lehnen sich die Berliner "hochnäsig zurück und tun so, als hätten sie alles schon gesehen und alles längst gewusst." Wobei diese Attitüde wohl auch zum Erfolg des Theatertreffens beitrage: "Hier zu bestehen, das ist schon was."

Pars pro Toto für die quasi rituelle Kritik an der Theatertreffenjury wird Benjamin Henrichs' Kommentar zum Jahrgang 1979 (als nur fünf Arbeiten eingeladen wurden und Künstler wie Pina Bausch, Robert Wilson und George Tabori fehlten) zitiert. In Gremien wie solchen Jurys zeige sich, "dass sich eine Majorität nur noch für das Mittlere und Maßvolle finden lässt." Und: "Was in politischen Affären noch einen Sinn geben mag (die Liquidierung der Extreme durch die Mehrheit), ist in ästhetischen eine Katastrophe", so Henrichs. Im Rückblick, konstatiert Pilz, müsse man allerdings sagen: "Wenn es darum geht, die wesentlichen Entwicklungen im deutschsprachigen Theater einzufangen, dann haben die Juroren des letzten halben Jahrhunderts wahrscheinlich kaum etwas übersehen."

Auch heute funktioniere das Theatertreffen als "Karrierebeschleuniger" und Schaufenster für die neuesten Moden: Momentan in Mode sei ein "Reden von Umbrüchen, Erschütterungen, deren Rückseite die Huldigung von Vitalität und Vielgestaltigkeit ist". Gleichzeitig gewinnt Pilz den "mulmigen Eindruck, als würde der Theaterbetrieb zusehends zum Schauplatz eines seltsamen Paradoxes: Je mehr er die Vielfalt feiert, desto ähnlicher werden die Inszenierungen, nicht formal, aber inhaltlich". Es scheint, "als glichen sich die Weisen des Denkens und Wahrnehmens immer mehr an".

Im "Lob der Vielfalt" macht der Kritiker "die derzeitige Hauptmode" aus: "ein Denken in Fortschrittskategorien", das eben Leute wie Peymann oder Stein als altmodisch ausschließt. Von hier aus mündet der Essay in eine Kritik an der kulturindustriellen Funktion des Theatertreffens: "Wer als Regisseur im Theaterbetrieb mitmischen will, muss den Moden folgen, wie bewusst auch immer. Man muss sich dem Wettkampf stellen, man muss zum Theatertreffen wollen. Man muss die Ranking-Rangelei mitmachen und zum Wetteiferer werden. Das gesamte Theatertreffen ist zum Schauspiel einer Kulturindustrie geworden, die alles und alle duldet. Außer jene, die sich des Wettkampfs entziehen."

Tatsächlich gäbe es aber in der Provinz, etwa am Vogtlandtheater Plauen oder in Aalen, Theater für das die "Bestenschau in Berlin keine Rolle" spiele. "Nicht für die Macher, schon gar nicht für das Publikum vor Ort." Die "Stärke" des Theaters sei sein lokaler Bezug. Theater sei – mit Peter Sloterdijk gesprochen – "Kaff-Kunst", also "gebunden an das Kaff, wo ein Haus steht, sei's in Berlin oder Plauen".

(Berliner Zeitung / chr)

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Berliner Zeitung zu 50 Jahre Theatertreffen: Hinweis
http://www.zeit.de/2013/18/berliner-theatertreffen-schweiz/komplettansicht
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