Die Stoffgeborenen

von Simone Kaempf

Berlin, 9. Mai 2013. Als die Bühnenarbeiter anfangs tütenweise Eiswürfel auf die Bühne schütten, geht ein anerkennendes Raunen durch die Reihen und das Publikum spendet gleich mal Applaus: fürs Bühnenbild. Das zeigt zwar nur eine große viereckige Spielfläche, aber die ist mit einer Schicht zerkleinertem Eis bedeckt. Das Eis funkelt und strahlt kristallen im Licht, es knirscht auch bei jedem Schritt der Schauspieler, als würden Eiswürfel zerbissen oder durch firnen Schnee gestapft.

Aber es sind keine Schneestiefel, sondern Highheels, die hier das Eis mit jedem Schritt weiter zerkleinern und in die Regisseur Johan Simons auch die männlichen Schauspieler steckt. Sie tragen Seidenstrümpfe, nudefarbene Hüftunterhosen oder Pelzmantel, dazu baumelt den fashion addicts eine Handtasche am Arm. Verpuppte Zwitterwesen sind das, optisch in einen Zwischenzustand versetzt, in dem sich auch Elfriede Jelineks Textkonvolut bewegt. Geschrieben hat sie den Text anlässlich des hundertsten Geburtstags der an der Maximilianstraße beheimateten Münchner Kammerspiele.

die strasse 560 julianroeder xMode auf Eis gestellt: "Die Straße. Die Stadt. Der Überfall" © Julian Röder

Die leitmotivische Sehnsucht, sich mithilfe der Mode zu verwandeln, löst sich darin in den allgemeineren Zusammenhang von Konsum, Politik, Geltungsdrang auf und endet dann mit dem tödlichen Überfall auf einen Modezaren, Rudolph Moshammer, der als Grabredner der Straße ihr Requiem hält.

Man fragt sich natürlich, ob der Abend in München noch böser wirken könnte, und doch funktioniert die Kombination Jelinek und Johan Simons auch beim Theatertreffen-Gastspiel in Berlin. "Die Straße. Die Stadt. Der Überfall" ist ganz bestimmt nicht Jelineks bester Text, aber Johan Simons zeigt hier seine besondere Fähigkeit, den Figuren existenzielle Grundierung mitzugeben, seine Liebe zu festem Grund. Man meint, dass die Schauspieler eher auf Dreck gehen, so geerdet stehen sie da. Besonderen Kräften sind sie jedenfalls ausgesetzt, subtil entfaltet sich dieses Kräftemessen: der Wille zur Veränderung gegen die Macht der Natur.

Sandra Hüller robbt in ihrem ersten Auftritt in einer Einkaufstüte heran, auch sie in einer nude-farbenen Korsage, sich selbst ihren inneren Offenbarungen aussetzend und bella figura äußeren Schein produzierend. Spielen die Männer – Benny Claessens, Hans Kremer oder Steven Scharf –, schon großartig, entfacht sie magnetische Wirkung, dabei Unmengen Monologtext seidig leicht durch sich durch sprechend. Der Jelineksche Text wird auch gesungen, in einer Art Schaufenster sitzen die Musiker mit der Bühne.

"Leicht, aber nicht seicht", wie es einmal in Text heißt, bekommt Simons das alles arrangiert. Zwar zieht sich einiges in Länge, weitere Kürzungen hätten gut getan. Sei's drum, die Eiswürfel geben schließlich ihre eigene, unerbittliche Dramaturgie vor: Es braucht seine drei Stunden, bis der größte Teil geschmolzen ist, Wasser steht in Pfützen, aller schöner Schein der Eiskristalle in Nichts aufgelöst. Und der die Metamorphose beschwörende Mensch hat sein unveränderbares Inneres offenbart. Genau gearbeitet ist diese Inszenierung, wenn auch keine bahnbrechende Neuerung. Nicht enthusiastischer Applaus beim Theatertreffen, aber sehr freundlicher für den Regisseur und vor allem für die Schauspieler.

Hier geht's zur Nachtkritik der Premiere von Die Straße. Die Stadt. Der Überfall an den Münchner Kammerspielen im Oktober 2012.

Kommentare  
Straße, Stadt, Überfall, TT 2013: schockierend leicht und seicht
Schockierend leicht und seicht, leider. Sandra Hüller in der Tat fantastisch, das Stück leider pennälerhaft. Wieso das für das Theatertreffen ausgewählt wurde, entzieht sich meiner Vorstellungskraft. Ärgerliche Langeweile...
Straße, Stadt, Überfall, TT 2013: lauwarm
Was ist nur mit dem Theatertreffen los? Die dritte lauwarme Inszenierung, die bei Kritik und Publikum nicht mehr als Wohlwollen und Schulterklopfen hervor ruft.
Straße, Stadt, Überfall, TT 2013: langweilig
Tatsächlich. DIESER Jelinek-Text ist zum Gähnen langweilig. Aber vielleicht liegt es ja auch daran, dass es eine Auftragsarbeit war? Warum schreibt denn eine/r eigentlich? Weil es ihr/ihm unter den Nägeln brennt. Weil sie/er sich nicht raushalten kann. Oder? Und das Thema "Mode" kann man eben nicht ewig ausreizen, ohne dass es irgendwann leerläuft. Allzu schnell wird klar, dass es hier um eine Kritik am Konsumkapitalismus bzw. an gekauften Lifestyle-Dingern geht. Benny Claessens bringt es auf den Punkt: "Wenn Sie nachher hier rausgehen, dann erwartet sie das Nichts." Oder so ähnlich. Wunderbar. Und Hans Kremer sieht aus wie Rolf Eden. Menschen, die sich alles kaufen können und trotzdem (oder gerade deswegen?!) unglücklich sind, verstehe ich einfach nicht. Heiner Müller würde es "Scheinprobleme" nennen.
Straße, Stadt, Überfall, TT 2013: Lücken nicht gestopft
Drei Stunden lang ist der Abend und eigentlich ist nach wenigen Minuten das meiste schon gesagt. Hier würde man sich vielleicht einen Regisseur wie Niclas Stemann wünschen, der den Text auseinanderreißen, neu zusammensetzen, mit anderem kombinieren oder einfach genüsslich die Zerstückelung feiern würde. Simons hingegen begegnet ihm mit strengem Ernst, kontrollierter Sachlichkeit, die angesichts der wenig inspirierten Kreisbewegung der Vorlage den Abend das eine ums andere Mal fast zum Stillstand bringt. Am Ende dient der Text nur noch dem “Immer weiter”, worüber da gesprochen wird, interessiert kaum noch. Was bleibt, ist ein vergleichsweise schwacher Text, eine zu behutsame Inszenierung, welche die Lücken der Vorlage nicht zu stopfen weiß – und eine Sandra Hüller, die ein Porträt des unbehausten, sich selbst suchenden Menschen gibt, das sich einbrennt und über so manche Schwäche des Abends hinweg sehen lässt.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2013/05/11/der-rock-und-das-ich/
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