Worüber wir lachen und weinen

von Wolfgang Behrens

Berlin, 10. Mai 2013. 1998 saß ich zu mitternächtlicher Stunde lautstark streitend mit Freunden im Hof des Berliner Ensembles. Wir hatten gerade Christoph Schlingensiefs Uraufführung des "Rosa Luxemburg"-Fragments von Bertolt Brecht gesehen, und der Vorwurf, der seitens einer Freundin in der Luft hing, war, Schlingensief habe seine behinderten Darsteller Werner Brecht und Achim von Paczensky ausgestellt und lächerlich gemacht.

Ich weiß nicht mehr, auf welche Weise genau ich dagegen hielt – ich werde wahrscheinlich Schlingensief zitiert haben, der einmal von dem Grundrecht eines jeden Menschen auf den Bühnenraum gesprochen hat. Oder Herbert Feuerstein, den ehemaligen Sidekick von Harald Schmidt, von dem der seltsame Satz stammt: "Jeder Behinderte hat ein Recht auf Verarschung."

Die Fragen sind auch 15 Jahre später noch dieselben. Wie damals über Werner Brecht und Achim von Paczensky lachen wir heute über Julia Häusermann, Tiziana Pagliaro, Remo Beuggert, Gianni Blumer und all die anderen Menschen mit geistiger Behinderung, die sich in Jérôme Bels "Disabled Theater" dem Publikum stellen; wir lachen darüber, wie sie selbstchoreographierte Soli tanzen, zur selbstgewählten Musik von Abba bis Oomph!, und wie sie, aufgereiht auf ihren Stühlen, mit unverhohlener Empathie und mitunter wie unter einem Nachahmungszwang stehend auf die Soli der anderen reagieren. Und wieder steht diese Frage im Raum: Werden sie ausgestellt?

disabled theater 560 michael bause uAufscheinende Utopie © Michael Bause

Meine Antwort lautet: Ja, natürlich werden sie ausgestellt. Wie sollte es anders sein? Jeder Mensch, der eine Bühne betritt, wird ausgestellt und stellt sich selber aus – mit all seinen Eigenheiten, Vermögen und Einschränkungen. Nur dass bei den vermeintlich normalen Darstellern dieses Ausstellen als eine Selbstverständlichkeit hingenommen wird. Doch worüber lacht man beispielsweise, wenn bei Christoph Marthaler ein Schauspieler der eher beleibten Sorte grazile Tanzschritte ausführt? Die Vermutung liegt nahe, dass hier nicht nur über die Kunst des Schauspielers, sondern auch ganz handfest über eine seiner Eigenheiten gelacht wird – über seine Eigenschaft, dick zu sein.

Wenn Jérôme Bel Menschen mit Behinderung ausstellt, wenn diese Menschen sich selbst zur Schau stellen, dann werden sie, wie jeder andere Darsteller auch, vor allem eines: sichtbar. In all ihrer Kraft, Körperlichkeit, Individualität und Eigenheit. Und dass Eigenheiten mitunter komisch sind, daran kann wohl kein Zweifel bestehen. Also darf man über Jérôme Bels Tänzer lachen, man soll es sogar: Gianni Blumer etwa gibt es explizit als sein Ziel aus, das Publikum zum Lachen zu bringen. Und wenn dieser Abend neben den Diskussionen über Normalität und Andersheit, die er wohl immer und überall auslösen wird, etwas bewirkt, dann ist es das, dass man irgendwann nicht mehr über die Eigenheiten der Darsteller, sondern mit ihnen lacht.

Das Publikum der Theatertreffen-Premiere von "Disabled Theater" lachte aber nicht nur, es bejubelte auch jedes Solo frenetisch. Und weil im mitunter wilden und ungebärdigen Tanzen dieser elf Menschen auch immer wieder so etwas wie eine Utopie aufscheint – die Utopie des gegen alle widrigen Umstände befreiten Körpers –, kann dieser Abend in all seiner Lust und Lustigkeit auch weinen machen. Ich jedenfalls, ich habe geweint, für einen kurzen Moment puren Theaterglücks.

Hier gehts zur nachtkritik der Premiere von Disabled Theater beim Festival d'Avignon im Juli 2012.

Mehr zum Thema Behinderung und Theater? In einem Essay hat Georg Kasch die aktuellen Entwicklungen des Inklusionstheaters umrissen.

Kommentare  
Disabled Theater, TT 2013: genau so geweint
Danke für den Text. Ich habe genau so geweint, heute, bei einem Solo, und es war ein in der Tat befreiendes Weinen, traurig und hoch glücklich gleichermaßen, wegen einer in der Tat aufscheinenden Utopie.
Disabled Theater, tt13: beharrlich und unerbittlich
Disabled Theater negiert oder leugnet das Anderssein nicht. Nicht immer kann das Publikum den Darstellern folgen und nie verschwindet auch das Unwohlsein ganz, kommt die Unsicherheit immer wieder zurück, ob man denn jetzt lachen dürfe oder nicht. Der voyeuristische Blick, er ist nie ganz abwesen. Die Schauspieler wissen darum und erinnern uns daran, lassen uns nicht so leicht davonkommen. "Ich habe ein Chromosom mehr als ihr", schleudert Damian Bright dem Publikum entgegen, als er aufgefordert wird, seine Behinderung zu nennen – ein Satz voller Ironie aber auch nicht frei von Anklage, ein Satz wie ein Spiegel, in den der Zuschauer blickt. So zwingt der Abend den Zuschauer immer wieder aufs Neue, seinen eigenen Blick zu hinterfragen. Wir selbst sind mindestens so sehr Gegenstand von Disabled Theater wie die elf Schauspieler. Dabei ist der erhobene Zeigefinger dem Abend ebenso fremd wie jede Form herablassenden Wohlwollens oder gar die Romantisierung von Menschen mit Behinderung als die vermeintlich besseren, weil ursprünglicheren Menschen. Sind sie nicht und wollen sie nicht sein. Was sie wollen ist, dass wir sie wahrnehmen und das ertrotzen sie sich, beharrlich und unerbittlich. Wer Disabled Theater erlebt hat, weiß, wie sehr sich das lohnt. Und am Ende haben wir vielleicht nicht nur ein paar äußerst interessante Menschen kennengelernt, sondern womöglich auch ein ganz klein wenig mehr von uns.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2013/05/13/wir-anderen/
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