Auf Stöckelschuhen über Albtraumgrund

von David Baltzer

Beirut, 15. Mai 2013. Einer fremden Großstadt sich im Taxi zu nähern ist eine gute Lektion in touristischer Demut. Der Preis vom Flughafen zum Hotel beträgt für den unkundigen Ankömmling 33 Dollar. Die gleiche Strecke beim selben Fahrer auf dem Rückweg 25 Dollar. Glaubt man Kollegen, ist das auch für 20 Dollar zu haben usw. usf. In Beirut selbst, wo Taxen den Großteil des öffentlichen Verkehrs bestreiten, kommt der Einheimische für 1,30 Dollar über die normale Strecke.

Das auch als Weißnase zu schaffen, ist schon eine Art Adelsschlag. Matthias Lilienthal erzählt, dass er aus bis zu 15 Wagen wieder aussteigt, bis einer bereit ist, über seinen westlichen Status hinwegzusehen. Seine zehn Monate in Beirut, wo er 14 Postgraduate Students an der "Lebanese Association for Plastic Arts, Ashkal Alwan" unterrichtet hat, sind jetzt fast zu Ende.

beirut-iv 560 fritz-engel hStraßenszene in Beirut. © Fritz Engel / Zenit

Stadtbeglückungsprogramm für Beirut

Das Projekt "X Apartments Beirut" ist eine weitere Auflage des Stadtbeglückungsprogrammes "X Wohnungen" (bisher u.a. in Duisburg, Berlin, Caracas, Wien, Sao Paulo, Johannesburg, Warschau, Istanbul und Mannheim). Im Unterschied zu den bisher realisierten performativen Miniaturen, in denen vor allem geladene Künstler aus aller Welt ihren Nektar in die Fluchtburgen privater Orte legten, haben hier vier europäische und zehn libanesische/arabische Studenten die Stadt auf ihre perforativen Stellen hin durchsucht und an 15 Orten kleine Geschichten aufgefächert. Diese werden uns in zwei Touren zu jeweils drei Stunden präsentiert: einmal geht's durch ein vorwiegend armenisch bewohntes, einmal durch ein von muslimischen Milizen geprägtes Viertel.

Die Reise in Zweiergruppen wird mit Hilfe einer Wegbeschreibung (englisch oder arabisch) bestritten, die, wenn man sie sich als Hörspiel vorstellt, bereits eine kleine Aufführung bzw. Lehre über Wahrnehmungskunde an sich ist. So wie man in bekannten Gegenden das Tatsächliche oft nicht mehr sieht, verführen einen die benannten Landmarks dazu ("Am Ende des Kopfsteinpflasters ist links eine grüne Fassade mit Plakaten, hier biegen Sie rechts ab"), über alles dazwischen Liegende hinwegzusehen. So macht sich schnell ein trügerisches Gefühl von Bekanntheit/Heimat breit, weil die erzeugte Erwartung einer lesbaren Stadt so prompt eintreten. Für die Einheimischen geben wir vielleicht ein ebenso zur Verkürzung einladendes Bild ab, wie wir hier in ihrem Viertel unterwegs sind, mit einer Hand voll Zettel vor dem Kopf.

Pelz auf den sandigen Resten der kriegsversehrten Stadt

Die erste Station auf der armenischen Tour führt über einen dieser großartigen Parkplätze, die wie Unkraut in den vielen Baulücken wuchern. Autos, die dicht an dicht stehen, Versprechen auf Fortkommen und Bewegung sind, eine Art Pelz auf den sandigen Resten dieser von Kriegen versehrten Stadt.

beirut-ii hoch 280 fritz-engel h© Fritz Engel / ZenitBeim Graffiti 'Mafia' werden wir in eine Art komfortablen Slum geführt und bekommen gleich die erste Lektion in Romantizismus. Wir sehen zwei Schuhmacher in ihrer Werkstatt, Vater und Sohn, wuselnde Nachbarkinder und Schuhe, Schuhe, Schuhe. Schuhe der hohen und prächtigen Art. Highheels, sozusagen die Minarette oder Kirchtürme des Geschlechterkampfes, in allen nur denkbaren Ausführungen. Teuerste Schlangenhaut liegt achtlos auf Plagiaten, und die Fantasie des Besuchers schießt sofort ins Kraut. Ja, so ist die Welt: An ihren traurigsten Plätzen wird an den luxuriösen Illusionen der Reichen gewerkelt, Wohlstandszentrismus in seiner schönsten Ausprägung.

Kein Krieg für Öl?

Die gegenteilige Lektion (inhaltlich wie ästhetisch) bekommen wir einen Tag später in einer Buchbinderei in einem von muslimischen Milizen (Amal Movement) beherrschten Viertel. Eine strenge Dame begrüßt uns in ihrem Verein "Occupy Irak". Es gibt kein Entkommen vor der Mitgliedschaft, weil allein die Anreise mit dem Flugzeug (kein Krieg für Öl?) einen (un)freiwillig zum Vereinsangehörigen macht. Am Ende des kleinen stringenten Verhörs bekommen wir einen Pass, den die Buchbinderei hergestellt hat und der in Stapeln neben religiösen Bändchen von fast der gleichen Farbe liegt, die hier sonst das Geschäft bestreiten. Dieser Pass fasst uns in einer Schicksalsgemeinschaft zusammen, wie jeden, der ohne sein Zutun in eine Nationalstaatlichkeit hineingeboren wurde und damit dem Treiben der Kräfte in seiner Heimatregion ausgesetzt ist.

So scheinen mir diese Pässe, in einem von Krisen umlagerten Land, fast das politischste Statement auf dem Weg entlang der 15 Stationen zu sein. Neben den Highheels im armenischen Viertel, die sich zu einem in Schäfte gegossenen Scherz mausern: Stöckelschuhe aus der Hand eines Volkes, dessen gemeinschaftsstiftende Erzählung von Völkermord, Flucht und Vertreibung handelt.

Doppelbett überschwemmt Zimmer

Intensiv auch die Besuche in zwei Wohnungen, die jeweils Privatestes öffnen. In der ersten bekommen wir in einem schmalen Treppenhaus, das bei offenen Häuserwänden wie ein Bergbach aus den oberen Stockwerken hinabstürzt, zwei iPods in die Hand gedrückt. Auf den kleinen Bildschirmen steigt ein junger Mann eben diese Treppe hinauf, und wir folgen dem digitalen Bild wie einem Geist, den unser Gehirn tatsächlich auf der realen Treppe zu wandeln wähnt. Oben sitzt er ganz real auf seinem Bett und beglaubigt in persona die von uns mitgehörten Geschichte vom Finden des Glücks mit einer asiatischen Frau. Die Einsamkeit zu zweit, hier ist sie zu spüren, in einem fast vom Doppelbett überschwemmten Zimmer. Kleiner Platz, aber nicht zu klein für das echte Leben.

x-apartments hoch 280 david-baltzer h"X Apartments" © David Baltzer / ZenitIm muslimischen Viertel sitzen wir in abgedunkelten Zimmern und hören und lesen die Berichte eines Sohnes, dessen Vater nach langer Missachtung die Mutter derart schlug, das sie die Familie verließ. So phänotypisch die Geschichten von häuslicher Gewalt, so bedrückend sind die Räume, Erinnerungsräume vielleicht, in deren Verschattung vor der Hitze des Tages sich die Familientragödie abgespielt haben könnte: Ein Mann, der sich nicht zu helfen wusste, eine Frau, die davonlief, und ein Sohn, der Zeuge wurde und diese familiären Verhältnisse als seine 'normale' Welt erfuhr.

Alptraumort

Während uns der Weg am Beginn über die Weite eines Parkplatzes führte, verengt sich die Tour durch diese Stadt, die ihre Viertel wie begrenzende Stempel hart aneinander stellt, in ihrer letzten Station: einem Kino. Ein Bau von erschütternder Tristess, eingezwängt von einer Haupverkehrsstraße, einer mit Stacheldraht bewehrten Spinnerei und dem Eingang in Beiruts ältestes Quartier, das sich wie ein Ghetto von dem geschichtsloseren Viertel daneben abgrenzt. Der Kinosaal liegt im Keller des Gebäudes und öffnet sich in die gewohnte Architektur von Balkon, Klappsitzen und geschwungenen Wänden. Allerdings liegt die Feuchtigkeit dichter Watte fett in der Luft und das kalte Kinolicht verwandelt den dunklen Raum in einen Alptraumort möglicher Gefangenschaft und Folter.

Kaum einer hält es hier länger aus, auch wenn das Versprechen der letzten Station einen aus der harten Fron der stadttourig verketteten Acht-Minutenauftritte der vorangeganenen Stationen befreit. So verhallen die Bilder aus vergangenen, zusammengeschnittenen Spielfilmen ohne den geduldigen Zuschauer, der vermocht hätte, einer Erzählung von Zurückliegendem bis in die Gegenwart zu folgen.

Begegnungslos wohnen

Der Beginn der Tour durch das muslimische Viertel hatte uns unmittelbar und ohne einladende Geste mitten in das Wohnzimmer einer Familie geworfen, die umstandslos um uns 'Gäste' herumlebte. Mehrere Kameraleute filmten die Theatertouristen, und alles blieb in der Begegnungslosigkeit stehen, an der wir selbst mitwirkten.

Der schroffe Gegensatz von kunstvoll gestalteten Geschichten, die in "X Apartments" oft parallel zum echten Leben stattfinden, das nicht inszeniert, nicht Teil der Geschichte ist, verweist auf die Unvermittelbarkeit von Fremdem, das sich auch durch die Nähe mehrerer Körper im gleichen Raum nicht überwinden lässt. Bei uns lassen diese sich ins Reale hineinbohrenden Fiktionen vieles zugleich wuchern, wir machen uns die ferne Welt erzählbar durch die "Tyrannei der Intimität" (Richard Sennett). Was wohl die anderen denken?

beirut hoch 280 fritz-engel hBeirut by Night. © Fritz Engel / ZenitMenetekel unter strahlendem Himmel

Zurück in Beirut, das wild entschlossen ist, dem Geld der Bodenspekulation zu folgen. Das seine Baugruben so tief schürft, als erwarte es den Gewinn der kommenden Tage schon im Dreck der alten Viertel zu finden. Quasi das Pendant zur Berliner Gedächtniskirche ist das sogenannte 'Egg' unweit der großen Mohammad al-Amin Moschee: ein betonener Kinosaal auf Stelzen, Rest einer nie zu Ende gebauten fünfstöckigen Mall, eines zweitürmigen Ensembles, wie die Twintowers in NY, dem der Krieg die restlichen Untermauern und seinen Abschluss weggeschossen hat. Wie ein Menetekel steht es unter strahlendem Himmel, ein dauerschwangerer Bauch vergangener Vergnügungen, ein Versprechen, dass andere Geschichten als die der Muezzine erzählt werden könnten.

Der Bau, der 1965 begonnen wurde und ein Paradebeispiel moderner Architektur sein sollte, diente im Bürgerkrieg ab Mitte der 70er Jahre Scharfschützen als Plattform, um die Stadt mit Blei zu belegen. Jetzt ist er Space for free Art und – wie der umbaute Saal des Hotel Esplanada am Potsdamer Platz – kommender bernsteinartiger Einschluss einer Vergangenheit, die die Stadt den Investoren zur Überbauung überlässt. Abends feiert die Jugend in den Straßen, und die Schaufensterpuppen tragen eine geradezu pornografische Plastiknacktheit zur Schau.

Lilienthal sagt, im Straßenverkehr sei die erste Lektion, nicht in den Rückspiegel, sondern immer nach vorn zu blicken und zu hoffen, dass die anderen einen sehen. Auch die Stadt Beirut schaut nicht zurück.

 

David Baltzer ist Fotograf und Autor. Er begleitete "X Apartments" mit der Kamera.

X Apartments Beirut
lief vom 12.-15. Mai 2013, wurde u.a. vom Goethe-Institut Beirut gefördert und ist angeschlossen an das 6. Home Works Festival (14.-26. Mai 2013), eines der wichtigsten Festivals für freie performative Kunst im arabischen Raum, das ebenfalls von Ashkal Alwan organisiert wird.

Kuratiert von Matthias Lilienthal, Produktionsleitung Nesrine Khodr, Mohamad Hamdar und Clara Bosse.
Von und mit: Den Ashkal Alwan-Postgraduate Studenten Dareen Abbas (Syrien), Hisham Awad (Libanon), Alex Baczynski-Jenkins (GB/Polen), Liane Al Gusain (Kuwait), Romain Hamard (Frankreich), Marwan Hamdan (Libanon), Sara Hamde (Ägypten), Maxime Hourani (Libanon), Jessika Khazrik (Libanon), Raed Motar (Irak), Monira Al Qadiri (Kuwait), Monica Restrepo (Kolumbien), Urok Shirhan (Irak/Niederlande), Stefan Tarnowski (Libanon/GB); außerdem Renate Boden, Patrick Buhr, Sabine Yi-Ling Sam, Sina Seifee, Leon Wilmanns, Alexandra Bachlechner, Benjamin Ramirez-Perez, Stefan Ramirez-Perez, Monira Al Qadiri, Iante Roach, Hicham Awad.

www.ashkalalwan.org

 

Kritikenrundschau

Barbara Villiger Heilig ließ sich für die Neue Zürcher Zeitung (23.5.2013) durch Beirut führen. Dass sich Türen und Törchen zu privaten Bereichen öffnen, dazu sei geduldige Recherchierarbeiten und ein beträchtlicher Aufwand an Gesprächen mit der Lokalbevölkerung nötig gewesen. Am meisten zeigt sich die Autoren vom Viertel Khandaq al-Ghamiq beeindruckt, das einst christlich war und jetzt streng muslimisch ist. "Man sieht ihm die angespannten politischen Verhältnisse nicht an, aufgrund deren es zu wüsten Schlägereien kommen kann." Lilienthals Projekt operiere nach aussen wie auch nach innen. "Wer Darsteller ist und wer Zuschauer, muss jeder Teilnehmer selbst entscheiden, für beide Seiten ändern sich im Lauf der Begegnungen die Perspektiven." Das Projekt "X Wohnungen" sei in Beirut ein Kaleidoskop: "Je mehr Vorkenntnis jemand mitbringt, desto mehr entdeckt er auf den Spaziergängen."

Matthias Lilienthal, der Regisseur dieser Tour, wirke in Beirut wie ein Ingenieur, der auf Montage ist – unbeeindruckt von Problemen, mit einem stoischen Blick auf den Grund der Dinge, ein Mann, der nicht gewillt ist, kleine Katastrophen und bad vibes anderer Leute persönlich zu nehmen, schreibt Peter Kümmel in der Zeit (29.5.2013). "Immerzu sieht man ihn telefonieren, und man bekommt den Verdacht, Lilienthal inszeniere nicht nur diese Wanderung durch Beirut, sondern eigentlich die ganze Stadt nach seinem Plan." Er sei ein Theatermann, der die gängigen Bühnen als "vernagelte Stadttheaterkisten" beschimpfe. "Warum? Weil ihre Kunst auf Betrug basiert: Auf der Bühne stehen Menschen, die so tun, als befänden sie sich allein in ihren vier Wänden und als merkten sie nicht, dass eine dieser Wände weggekippt ist, nämlich jene, die ihr Wohnzimmer von uns, den Betrachtern, trennt." Bei Lilienthal sei die vierte Wand wieder da: "Wir, die Zuschauer, verschwinden hinter ihr." Der Effekt der Tour nach Kümmel: "Die Stadt wird dem Gast sozusagen durchsichtig." Man übe den Radarblick durchs Gemäuer. Aber das habe im ruinenhaften Beirut einen eigenen Effekt. "Man lernt, wie viel Wärme, Rückzugstiefe, Geborgenheit hinter den Fassaden zu finden ist."