Endstation Alltagsrealität

von Sarah Heppekausen

Bochum, 15. Mai 2013. Sie kann sich nicht bewegen. Wie versteinert sitzt Anita auf ihrem Stuhl, festgezurrt unter meterlangen Spinnenweben. Ein Haufen altes Leben. Die Zeit hat sichtbare Spuren hinterlassen. Anita ist etwa 65 Jahre alt, pensionierte Grundschullehrerin, seit einem Jahr verwitwet. Sie glaubt an Gott und an das Gute. Dass die Dinge sich schon wieder entkrampfen werden, das ist ihre zuversichtliche Sicht auf die Welt. Eine versponnene Frau.

Anita ist die Protagonistin in Christoph Nußbaumeders neuem Stück "Mutter Kramers Fahrt zur Gnade". Eine weitere Nußbaumeder-Figur, die sich mit dem Leben, mit menschlichen Unmenschlichkeiten herumschlagen muss. Die raue Realität des alltäglichen Arbeitskampfes bricht mit Rudi in Anitas Haus. Der arbeitslose Konditor bringt ihr das verlorene Portemonnaie zurück. Er hilft ihr beim Verfassen eines Briefes an Tochter Carmen, mit der Anita seit einem halben Jahr keinen Kontakt mehr hat. Er trinkt mit ihr Schlehenschnaps. Und er übernachtet bei ihr. Rudi nennt sich Hudi, weil es so viele Rudis gibt. Aber er ist der eine, der Anita aus dem Pensionsprinzessinnenschlaf erweckt.

mutter-kramer-i 560 diana-kuester uFlieg, Mütterchen, flieg! © Diana Küster

Was der Gesellschaftskritiker Nußbaumeder in schnörkellos-realistischem Ton beschreibt, bekommt in der Uraufführungsinszenierung von Heike M. Götze tatsächlich märchenhafte Züge. Hudi nimmt Anita den Realitätsschleier, er befreit sie aus ihrem Spinnennetz. Mit Nußbaumeder heißt das schlicht: Hudi erklärt Anita die Welt der Jobcenter, der Nachweise über eine erfolglose Wohnungssuche und der Hoffnungslosigkeit. Götze genügt sich nicht mit Bühnenrealismus. Sie protzt mit allen (handwerklichen) Mitteln des Theaters.

Alltagsuntaugliche Extravaganz
In der Zechenhalle König Ludwig ½, die seit dieser Saison das Theaterzelt als Spielort für die Uraufführungen der Ruhrfestspiele ersetzt, hat Dirk Thiele eine Bürgerhausfassade errichtet; in der Größe herrschaftlich, in der Ausstattung provisorisch. Die Holztreppen lassen sich ein- und ausfahren, auf manchen Türen sind die Markierungen für die Technik zu lesen. Die Souffleuse spricht die Regieanweisungen ein. Die Schauspieler flirten nicht nur miteinander, sondern auch mit dem Publikum. Und sie tragen Kostüme, die in ihrer Extravaganz alles andere als alltagstauglich sind. Extralange Clownsschuhe, eine überlange Strickjacke, ein pompöses Hochzeitskleid, eine halbe russische Tracht, die den Po der Putzfrau kaum bedeckt. Götze hat Typen ausgestattet, keine Menschen.

mutter-kramer 560 diana-kuester uLost in Tapestry © Diana Küster

Raiko Küsters Hudi ist ein Charlie Chaplin mit Spielmacher-Befugnis. Bettina Engelhardts Elena ist eine Putzfrau mit Teilzeit-Akzent und geziertem Gebaren auf Absatzschuhen. Nachwuchsjournalist Felix (Damir Avdic) trägt Tarnfarben, um Missstände aufzudecken. Lauter klischierte Extreme, die Anitas Glauben an das Gute im Menschen nicht mehr als naiv, sondern vielmehr als abstrus erscheinen lassen. Es sind ja kaum mehr Menschen, die sie umgeben. Anke Zillich verleiht ihrer Anita eine der Inszenierung wohltuende Warmherzigkeit, sie ist immerhin eine Geerdete in diesem Puppenspiel. Mit nackten Füßen stellt sie sich den Fakten des Lebens.

Demonstration des Theatralen
Und die haben es in sich. Hudi ist vorbestraft und geht im Jobcenter mit dem Messer auf einen Mitarbeiter los. Er hat Anita bloß das Portemonnaie gestohlen und wiedergebracht, um an ihr Geld zu kommen. Elena, die Putzfrau, hat ihm von den Goldmünzen erzählt. Die hat mit Anitas verstorbenem Mann ein Kind. Tochter Carmen (Sabine Osthoff) zickt rum, weil sie ums Erbe fürchtet. Und ihr Freund Ralf (Krunoslav Šebrek) besticht den Journalisten, dessen Artikel eigentlich Hudi rehabilitieren sollte. Egoismus allerorten. Nußbaumeders Stück knüpft an den Stummfilm "Mutter Krausens Fahrt ins Glück" von Phil Jutzi (1929) und Fassbinders "Mutter Küsters Fahrt zum Himmel" (1975) an. Aus den beiden proletarischen Frauen macht der Autor eine gutsituierte Bildungsbürgerin. Ihre Gnade ist es, die Welt am Ende so zu sehen, wie sie da draußen vor ihrem Haus vor sich geht. Anita wagt den radikalen Neuanfang.  

Auf der Bühne hat sich Anita Hosen angezogen, emanzipiert sich wie Ibsens Nora. Aber sie tänzelt auch wie eine nicht mehr zurechnungsfähige Alte. Ihre letzten Sätze spricht sie an der Rampe, Hand in Hand mit den anderen Schauspielern wie beim Schlussapplaus. Das ist kein Aufbruch, das ist die konsequente Demonstration des theatralen Spiels. Götze läuft keine Gefahr, Nußbaumeders unverfremdeten Text als biederes Aufsagetheater aufzuführen. Aber die Überzeichnung nimmt ihm die sozialkritische Bedeutsamkeit.


Mutter Kramers Fahrt zur Gnade (UA)
von Christoph Nußbaumeder
Regie: Heike M. Goetze, Bühne: Dirk Thiele, Kostüme: Heike M. Götze, Video: Bibi Abel, Dramaturgie: Sabine Reich.
Mit: Anke Zillich, Raiko Küster, Bettina Engelhardt, Klaus Weiss, Sabine Osthoff, Krunoslav Šebrek, Damir Avdic.
Dauer: 1 Stunde und 50 Minuten, keine Pause

www.ruhrfestspiele.de
www.schauspielhausbochum.de

Kritikenrundschau

"Das Stück spielt in einem Hier und Heute, in dem die neue Armut eine des Herzens ist. Überall Neid und Missgunst. Kinder schielen aufs Erbe. Arbeitslose schieben Frust und laufen Amok", schreibt Kai-Uwe Brinkmann in den Ruhrnachrichten (17.5.2013). Schlaglichter auf eine Gesellschaft seien das, wo jeder für sich kämpft. "In ihrer Güte ist Mutter Kramer ein Relikt von gestern: die 'versponnene' Alte im Porzellan-Museum – eine schöne Bildmetapher. Ein starkes Stück. Exzellent gespielt, forsch zupackend gesprochen, voller schräger Ideen." 

Anders sieht das Ulrich Fischer auf Deutschlandradio Fazit Kultur vom Tage (16.5.2013). Nußbaumeder sei ein interessantes, aktuelles, provozierendes und gesellschaftskritisches neues Volksstück geglückt. Aber: "Heike M. Götze hat es bei ihrer Uraufführungsinszenierung verhunzt. Alle Figuren sind ins Absonderliche getrieben", sie sprechen zu laut und selten miteinander, sondern meistens ins Publikum und die Kostüme, die die junge Regisseurin auch noch entworfen hat, haben Zeigecharakter weit entfernt vom Alltag, "ein Musterbeispiel für Regiewillkür".

Stefan Keim stöhnt in der Welt (17.5.2013): "Gebrüll, Gehampel, Gedöns. Es ist zu viel." Die Regieeinfälle würden prasseln. "Doch immer wieder kommt die Aufführung zur Ruhe, und dann spürt man die Qualitäten des Stückes, seine Bodenhaftung, die genaue Beobachtung, die Sympathie für Menschen, die sich Augenblicke der Ehrlichkeit trauen." Nussbaumeder bringe einen eigenen Ton in die zeitgenössische Dramatik und sei ein Erbe von Horváth, Fassbinder und Kroetz, des kritischen Volkstheaters. "Seine Texte in die formalen Stereotypien der Regietheatermoden zu pressen ist keine besonders gute Idee."

Die Regisseurin treibe dem Stück fast jeden Realitätsbezug aus, so Arnold Hohmann im Online-Portal der WAZ-Gruppe DerWesten (16.5.2013). "Lauter putzig gestaltete Charaktere umschwirren uns", alles sei überdeutlich. "Hier traut jemand der Vorlage nicht, die ein bürgerliches Trauerspiel mit Hoffnungsschimmer sein will. Hier haut nur jemand lautstark auf die Ideen-Pauke."

Das Stück besitze "die typischen Macken eines Auftragswerks", so Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.11.2013) nach der Bochum-Premiere. "Die Handlung wirkt zurechtgeschustert, die Nebenfiguren bleiben schmal; abgenutzte Motive, überdeutliche Symbole. Kolportage." Götzes habe ihre Regie noch einmal überarbeitet: "Während Fotos im Programmheft die Figuren in grell-bizarren Kostümen und einem zweistöckigen Puppenstuben-Bühnenbild zeigen, sind in den Kammerspielen die Äußerlichkeiten zu Abbildlichkeiten zurückgenommen."

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