Du sollst nicht nuscheln!

von André Mumot

Berlin, 23. Mai 2013. Bevor wir über das sprechen können, worauf es hier vielleicht ankommt, über die Unerträglichkeit des Todes zum Beispiel und über die Unerträglichkeit des Verlassenwerdens, müssen wir über Baby sprechen. Baby macht sich breit auf der Bühne. Baby muss herumkommandiert und zusammengestaucht und ins Badezimmer geschickt werden. Aber wenn Baby nicht da ist, ist die Leere dann doch nicht zu ertragen. In dem Howard Hawks-Film Bringing up Baby, aus dem René Pollesch für sein neues Stück einige Dialoge gesampelt hat, ist Baby ein Raubtier, ein Leopard. In der Volksbühne ebenfalls, allerdings in Gestalt eines deutschen Panzers. Ein rollender, schussbereiter Kalauer in hellem Holz, der ein kleines Bisschen Heiterkeit in einen erstaunlich missmutigen Abend bringt.

So entsteht ein wenigstens halbwegs komischer Moment, wenn Lilith Stangenberg in ihrem glitzernden Harlekinkostüm und mit ihrer resignierten Mäuschchenstimme aufstöhnt: "Was sollen denn meine Freunde sagen, die linken Pazifisten, wenn ich hier mit einem Panzer auf der Bühne stehe? Die denken doch wieder, das ist kritisch gemeint!"

general 2 560 lenore blievernicht hTwo Ladies and a tank: Lilith Stangenberg und Silvia Rieger  © Lenore Blievernicht

Gebrabbelte Gedankenkaskaden

Eine Sorge, die allerdings unbegründet ist, denn was hier womöglich kritisch gemeint sein könnte, interessiert zu diesem Zeitpunkt ohnehin nur noch die wenigsten. Die Anstrengung, dabei zuzuhören, wie die zart verhuschte Stangenberg sich zusammen mit ihrer miesepetrigen Kollegin, Castorf-Veteranin Silvia Rieger, hilflos durch die typischen Pollesch-Gedankenkaskaden gebrabbelt hat, ist schlicht zu viel gewesen.

Es beginnt schon mit den Passagen, die John Fords Western-Requiem The Man Who Shot Liberty Valance entnommen wurden. Erinnerungen an eine Fahrt ins Unzivilisierte (der Leopard könnte auch eine Postkutsche sein), Erinnerungen daran, wie James Stewart den Hinterwäldlern Lesen und Schreiben und Demokratie beibringt, sie zu besseren, aber auch zu traurigeren Menschen macht. "Lauter!" ruft jemand im Publikum, weil man Polleschs Hauptdarstellerinnen kaum versteht. Die reagieren mit kindischem Trotz und sprechen den gesamten Dialog noch einmal von vorn, diesmal noch leiser. Ein unwürdiges Schauspiel.

Dann werden sie wieder lauter, zitieren Adorno, und man hat das Gefühl, dass Silvia Rieger mit konstant beleidigter Miene irgendwas aufsagt, das ihr vollkommen wurscht ist, und dass sie nur darauf achtet, nicht durcheinanderzukommen, was dann natürlich mehrmals passiert. Und bald schon möchte man sagen: Flüstert doch bitte wieder. Oder besser noch: Sagt gar nichts.

Sehnsucht nach dem Festhalten

"Der General" ist ein Pollesch-Abend, der nur dazu da ist, daran zu erinnern, was so ein Pollesch-Abend zum Überleben braucht: Schauspieler, die sich mit emotionaler Wollust ins Abstrakte hineinwühlen, die im großen Gedanken das große Gefühl finden oder die entwaffnende Pointe. Man braucht die wilden, ironischen Charmeure, die Rois, den Wuttke oder den Hinrichs oder einen der vielen anderen, die oft genug bewiesen haben, wie viel Lust es machen kann, durch die unbekümmerten Gedankensprünge, durch Filme, Texte, Schmerzen und Klamauk zu stolpern und außer Atem zu kommen. Schön ist es dann auch, wenn dem Regisseur ein paar poetische Spielereien einfallen, ein bisschen profaner Budenzauber.

Hier aber soll es um den leeren Raum gehen, und so hängen nur einige Volksbühnenbanner im Hintergrund, die dann auch noch fallen – um deutlich zu machen, dass wir uns in der großen Leere immer nur das Unmögliche vorstellen und nicht das, was wirklich wünschenswert wäre. Ein Leben ohne den Tod, ohne den Verlust der Liebe.

Denn eigentlich artikuliert sich hier immer noch der waidwunde René, der uns seit einigen Jahren mit seinen großen Gefühlsbekenntnissen beeindruckt, mit seiner Sehnsucht nach dem Festhalten, nach der Konsequenz in Herzensdingen. Aber, ach, dann kommt da wieder die Rieger in goldenen Glitzerstiefeln gänzlich unsentimental über den roten Lackboden gestampft und rauft sich die langen Haare, brabbelt unwirsch herum, und trifft die Töne nicht.

Ein Panzer ist nicht genug

Vielleicht kann es eine neue Generation ja richten. Hierfür öffnet sich die Panzerluke, und drei Mitglieder des Jugendtheaters der Volksbühne klettern heraus: Johannes Gäde, Judith Gailer und Luis Krawn setzen sich auf den Leoparden und diskutieren freundlich und kunstlos über Polleschs großes Thema: Dass es keine Liebe nach der Liebe geben darf, keine Ex-Liebe, so wie es bislang keine Ex-Päpste gegeben hat.

Wieder traut sich Pollesch zu sagen, dass das Selbstverwirklichungs-Diktum, immer seinem Gefühl, immer dem Herzen zu folgen, zwangsläufig jede Liebe ruiniert. Am Eingeständnis, dass alles enden muss, dass immer der Tod kommt, soll und muss hier noch einmal gelitten werden. Es könnte einem wieder einmal das Herz brechen dabei, tut's aber nicht. Ein Panzer allein genügt eben nicht, um heil über den Flickenteppich der unverbundenen Zitate zu kommen. Und himmelsstürmende Utopien sollten nicht vernuschelt werden. Zu viel Brei, Baby.

 

Der General
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne und Kostüm: Bert Neumann, Dramaturgie: Anna Heesen.
Mit: Silvia Rieger, Lilith Stangenberg, Johannes Gäde, Judith Gailer, Luis Krawen, Henry Krohmer.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.volksbühne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

Von einem seltsam zerfallen und kränklich wirkenden Abend spricht Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (25.5.2013). Worum es gehe, sei eher dem Programmzettel zu entnehmen. Auch die Schauspielerinnen scheinen zum Verständnis des Abends nicht wirklich wesentlich beizutragen. Besonders "die konfuse und desinteressiert wirkende Silvia Rieger" zieht sich aus Seidlers Sicht "ins manierierte Brabbeln und Zappeln zurück". Doch wenn es, so Seidler, "in einem Text um Dinge geht, die sich der Vorstellungskraft entziehen, wenn also von Undenkbarem und Unverstehbarem die Rede ist, dann wäre es von Vorteil, wenn man diesen Text verstünde". Vielleicht sei es aber auch Absicht, dass der Abend implodiere, schreibt der Kritiker.

Auch wenn Lilith Stangenberg "mit einem sperrig-komödiantischen" und Silvia Rieger "mit einem eher grantigen, mithin ebenfalls nicht uninteressanten Charme aufwartet, gewinnt der Pollesch-Sound aus Sicht von Christine Wahl vom Berliner Tagesspiegel (25.5.2013) "keine erhellend-markante Färbung wie etwa zuletzt bei Fabian Hinrichs, sondern wirkt in der Tat utopiefrei ermüdend."

Polleschs Theater möge "manchmal etwas abstrakt-trocken wirken, doch angesichts der Hirnlosigkeit zahlreicher Aufführungen sind seine Abende zumindest intellektuell meist anregend", findet Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.5.2013) und kann dieses Mal insbesondere dem Duo Lilith Stangenberg/Silvia Rieger etwas abgewinnen: "Schwungvoll und gescheit arbeitet sich das sehenswerte Duo durch Polleschs 'Tod, wo ist dein Stachel'-Diskurs, ohne dass es dabei viel zu spielen hätte". Fazit: "Kunstgerecht verknüpft René Pollesch Pop, Philosophie und Politik und mischt sie zu seinem unverwechselbaren Theorie-Sound, ohne je aus den Augen zu verlieren, was Adorno 'die Veränderung des Ganzen' genannt hat: zum Beispiel in Form eines Lebens ohne Tod".

Auf Welt-online (1. 6. 2013) findet Reinhard Wengierek die Veranstaltung ("Tinnef") symptomatisch für den gegenwärtigen Zustand des Pollesch-Theaters. Vor etwas mehr als zehn Jahren seien dessen "aberwitzig zerschnippelten Aufbereitungen schwer lesbarer philosophisch-soziologischer Theorie-Texte" als verrücktes Entertainment schnell Kult geworden. Denn das sei "bewundernswert theatralischer Hochleistungssport" gewesen, "Ballermann verblüffender Verfremdungskunst". Mittlerweile habe der begeisterte Antikapitalist dieses Format "inflationär allüberall und in vornehmlich größten Häusern vervielfacht und, nebenbei bemerkt, zu allerhand Geld gemacht hat." Dabei sei Polleschs Diskurstheater "verkommen zum ausgeleierten, zunehmend kryptischer werdenden Redeschwall-Betrieb". Als jüngstes Beispiel für diesen Verfall betrachtet der Kritiker "Der General". Da werde nur "unentwegt monologisch gebrabbelt", den Aktricen mangele es an Sprechtechnik. Was "allein übrig blieb vom Entertainment der frühen Pollesch-Jahre, war schließlich die Popmusik als schriller Weckruf für so manchen Kritiker-Kollegen aus dem Minutenschlaf."

"René Pollesch surft in seinem neuen Stück an der Berliner Volksbühne mal wieder lustig und clever durch Theaterästhetiken und Theoriebruchstücke", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (3.6.2013). Pollesch stelle einmal mehr die Theater-Künstlichkeit so deutlich wie möglich aus. "Also hat sich Silvia Rieger als Geisha verkleidet, also zitiert und travestiert Lilith Stangenberg ziemlich hinreißend und komisch den gesamten Harlekin-Kitsch der Film- und Theatergeschichte." Ansonsten gehe es unter anderem um den Tod, die Utopie, Adorno, die Liebe, Foucault, Heterotopien und den Papst, "warum auch nicht".

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