Heiner Goebbels' programmatische Stuttgarter Rede zur Zukunft der Kultur
Zeitgenössische Kunst als Institutionskritik
von Heiner Goebbels
28. Mai 2013. Wenn wir hier in der Staatsgalerie über die Zukunft der Kultur nachdenken und die Geschichte der Künste im vergangenen Jahrhundert im Blick haben, fällt auf, wie schnell sich die bildenden Künste entwickeln, wie stark sie sich von Darstellung und Repräsentation entfernt haben – und auch, wie ihre Entwicklung gesellschaftlich angenommen wird.
Die Schwerkräfte der Institution
Es fällt aber auch auf, wie schwer sich dagegen die darstellenden Künste von ihren ästhetischen Konventionen trennen; allen voran – oder sollte man besser sagen hinterher: die Oper. Damit meine ich nicht die 'ewigen Flammen der Vergangenheit' von deren Bedeutung Serge Dorny gerade gesprochen hat, sondern die Entwicklung der Oper, also der Frage, wie es mit ihr im 21. Jahrhundert weitergehen mag.
Für die beharrenden Kräfte in den darstellenden Künsten mag es viele Gründe geben, die auch mit unseren Wünschen und Bedürfnissen, mit den Implikationen unserer Sinne und Wahrnehmung zu tun haben. Vor allem aber hat es m.E. mit den Schwerkräften zu tun, die diese ästhetischen Konventionen zu einem großen Teil institutionell bestimmen.
Unsere Kunst- und Kulturinstitutionen sind allesamt das Ergebnis einer künstlerischen Praxis vergangener Jahrhunderte; und unsere Theater-, Opern-, Konzert-Häuser sind in Stein gehauene Strukturen, die auf einem Kunstbegriff basieren, der mehr als hundert Jahre alt ist. Selbst neu gebaute Konzerthäuser werden für ein Klangideal der Orchestermusik des 19. Jahrhunderts entworfen.
Manifestationen bürgerlichen Kunstwillens
Diese in Stein gehauene Manifestation bürgerlichen Kunstwillens gilt zwar auch für die Museen, aber sie stellen Resultate aus, d.h. Kunstwerke, die an anderer Stelle, in den Ateliers und Werkstätten oder im Kopf der Künstler und unter in der Regel selbst gewählten, freien Bedingungen entstehen. Wenn der schottische Videokünstler Douglas Gordon mit einem Elefanten drehen möchte, lädt er ihn in eine New Yorker Garage ein – kein Opernhaus hätte einen Elefanten im Ensemble.
Aber wenn wir über Musik, Theater und Tanz sprechen, sind es die Häuser selbst, in denen eine Oper, ein Schauspiel, eine Choreographie erarbeitet wird. Diese Häuser sind strukturiert durch Architektur, mit Arbeitsteilungen und strengen Hierarchien, mit "wenig Luft zum Atmen" wie Herr Ministerpräsident Kretschmann es gerade formuliert hat, mit Haltungen, Technik, gewerkschaftlichen Verträgen und Arbeitszeiten, mit einem konditionierten Ensemble aus Musikern und Schauspielern. Und täuschen wir uns nicht: Nichts von alledem – nicht einmal die Technik – ist neutral. Und vor diesem Hintergrund ist 'künstlerische Freiheit' relativ.
Trennung der Elemente
Was Adolphe Appia 1921 für die ästhetische Selbstständigkeit des Lichts formulierte, musste warten, bis Bob Wilson es ein halbes Jahrhundert später durchzusetzen in der Lage war.
Brechts Idee von der Trennung der Elemente – heute ein entscheidender Code für zeitgenössische Wahrnehmung im Theater – scheiterte letztlich an der hierarchischen Praxis in den Theatern.
Auch die Ideen der Futuristen, die mit vielem von dem, was das postdramatische Theater inzwischen eingelöst hat, schon experimentierten, konnten sich nicht dagegen durchsetzen‚ wie Theater 'eben so gemacht wird'. Und wenn man überlegt, dass Luigi Russolo vor genau hundert Jahren – im März 1913 – sein Manifest zur Geräuschkunst (L'arte rumori / the art of noises) formuliert hat, wundert man sich doch, wie lange es gedauert hat, bis die Musik von Helmut Lachenmann endlich einmal von den Berliner Philharmonikern gespielt werden konnte.
Der Anschein des Natürlichen
Auch die Techniken, mit denen auf den Bühnen gesprochen und gesungen und getanzt wird, wie sie in Schauspielschulen und Tanz- und Opernklassen gelehrt werden, entspringen – wie Alles in diesen Genres – einer spezifischen Tradition und sind letzten Endes ideologisch: Eine unhinterfragbare Voraussetzung künstlerischer Arbeit an den Institutionen, die aber den Anschein des Natürlichen vorspiegelt. Natürlich, auf jeden Fall 'macht man das halt so'.
Die Institute, die Schauspieler, Tänzer, Instrumentalisten, Sänger und Regisseure ausbilden, tun nämlich das, wozu sie gegründet wurden: Sie versorgen diesen in Deutschland noch sehr großen, auf alten Kunstbegriffen beruhenden institutionellen 'Markt' mit Nachwuchs. Im Unterschied zu den Kunsthochschulen sind sie keine Forschungsstätten für Kunst.
Gegenbewegungen
Natürlich gibt es Gegenbewegungen: Bühnen, die keine Schauspieler mehr engagieren, die von den Schauspielschulen kommen, weil sie ihnen zu standardisiert erscheinen; oder Regisseure abseits der Institutionen wie Helgard Haug, Daniel Wetzel und Stefan Kaegi von Rimini Protokoll, die mit Laien oder 'Experten des Alltags' arbeiten, Choreographen wie William Forsythe, die die Tänzer sprechen lassen, oder Leute wie ich, bei denen die Instrumentalisten singen und tanzen müssen. Oder Chöre wie 'Graindelavoix', die auf die individuelle Eigenart jedes einzelnen Sängers setzen und nicht auf die makellose Neutralität eines idealen Gesamtklangs.
Das sind alles Maßnahmen, um einer klassischen, mitunter klischierten Standardisierung der Körper und Stimmen und Gesten zu entkommen.
Den Tanz sollte man dringlich ausnehmen, denn die Randstellung, die er an den Bühnen einnimmt, hat ihm bereits eine doppelte Freiheit beschert: die Freiheit, die ihn bedroht und permanent an die Grenzen seiner Existenz treibt; aber auch die Freiheit sich ohne Rücksicht weiterzuentwicklen, seine Grundannahmen in Frage zu stellen, zu einem sichtbaren Nachdenken über Bewegung zu werden.
Neue Musik aus dem Laptop
Und die elektronische Musik, die Laptop-Konzerte junger Musiker (die oft nicht mal Noten lesen können, die auf kaum einer Musikhochschule aufgenommen würden) ist oft der zeitgenössischen, akademischen Musik um Längen voraus, wenn es um die Entdeckung des Klangraums, die Grenzen der Wahrnehmung geht; um die Ausdifferenzierung pulsierender Rhythmen und um einen zeitgenössischen Kunstbegriff, der auf eine starke ästhetische Erfahrung setzt und nicht nur auf eine neue Seite in der Geschichte komplexer Partituren der E-Musik seit den 50er Jahren.
Aber ein Komponist, der nicht die Orchester bedient, der nicht für die institutionellen Klangkörper schreibt (die heftig mit Aufträgen winken, um ihre Existenz im 21. Jahrhundert zu legitimieren), hat hier wenig Chancen.
Woher also wird die Zukunft der Künste kommen, wenn wir nicht nur die Texte im Theater, die Klänge in der Oper und die Schrittfolgen beim Tanz austauschen und renovieren wollen?
Ich glaube, wir müssen strukturell darüber nachdenken.
Die Forderung: Freie Häuser
Wie verhindern wir, dass diese absolut schützenswerten und für die Präsentation des Repertoires einzigartigen Institutionen, über die wir zur Zeit noch verfügen, nicht die beherrschenden, beharrenden Schwerkräfte sind, denen gegenüber mehr und mehr und ganz zurecht die Kritik laut wird, sie seien 'nicht für die Kunst und die Künstler da', sondern verlangten im Gegenteil von den Künstlern, 'was gut für das Haus ist': für das Abo, für den Spielplan, für die Besetzung, für das Budget, die zur Verfügung stehende Probenzeit etc. ... Aber der Kompromiss ist ein schlechter Regisseur.
Was uns fehlt sind Häuser, die frei sind – aber nicht 'im doppelten Sinne', sondern genauso ausgestattet wie ein Opernhaus, wie ein Stadt- oder Staatstheater –, Produktionsmöglichkeiten, wie ich sie zum Beispiel glücklicherweise zurzeit bei der Ruhrtriennale vorfinde.
Ich schlage vor, in jedem Bundesland erstmal ein Theater umzuwandeln. Wir haben ja 150 Theater und 80 Opernhäuser. Man muss das nur politisch wollen. Nichts muss so bleiben wie es ist.
Neue Autos werden nicht am Fließband entwickelt
Ein 'freies Haus' heißt: ohne feste Vorgaben von Effektivität, Auslastung, Repertoire – mit kleiner Stammbesetzung aus Technik, Verwaltung und Leitung – denn je mehr definiert und geregelt ist, desto untauglicher ist es als Produktionsstätte für die Erfindung dessen, was wir noch nicht kennen. Also ohne festes Orchester, ohne Chor, ohne Schauspiel- oder Tanzensemble – aber ausreichend mit Mitteln dafür ausgestattet, sich von Projekt zu Projekt neu zu definieren und zu erfinden – und zu erarbeiten, was gut für die Kunst ist.
Ich benutze zur Beschreibung dessen, was ich meine, gerne das Bild vom Labor. Ein neues Auto wird auch nicht am Fließband entwickelt. Aber die Repertoiretheater sind in gewisser Weise Fließbänder.
Was uns auch fehlt, sind Ausbildungsinstitutionen für Theater und Musiktheater, die ebenso frei sind; die Anderes als den bestehenden 'Markt' im Blick haben, sondern selbst schon Labore sind, in denen die jungen Studierenden den Spielraum haben, eine eigene Ästhetik zu entwickeln – für die Zukunft der Künste jenseits bekannter Disziplinen.
Ausbildungen, bei denen die Studierenden von den Lehrenden nicht auf den Kanon der Klassiker eingeschworen werden, wo sie nicht das Käthchen von Heilbronn als Vorsprechrolle lernen; sondern darüber nachdenken können (und ausprobieren), was Kunst heute alles sein kann.
Wo Lehrende bereit und fähig sind, für eine Ästhetik auszubilden, von der sie selbst noch nicht wissen, wie sie einst aussehen wird. Wir müssen dabei neue Produktionsweisen modellhaft entwickeln.
Das utopische Moment liegt in der Form
Wenn wir am Verhältnis zum Zuschauer, an den Arbeits-Verhältnissen untereinander und an den Produktionsverhältnissen nichts ändern, können wir auch gleich die Inhalte so lassen wie sie sind. "Das utopische Moment", sagt Heiner Müller, "liegt in der Form". Deswegen ist zeitgenössische darstellende Kunst immer auch Institutionskritik.
Heiner Goebbels, geboren 1952 in Neustadt an der Weinstraße, ist Musiker, Komponist, Hörspielautor, Regisseur und seit 1999 Professor für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Er ist künstlerischer Leiter der Ruhrtriennale 2012 bis 2014. Zu seinen zahlreichen nationalen und internationalen Auszeichnungen gehören der Preis des Internationalen Theaterinstituts (ITI) zum Welttheatertag 2006 und der Internationale Ibsen-Preis 2012. Für sein Lebenswerk erhielt er vom Birmingham Conservatoire der Birmingham City University 2012 die Ehrendoktorwürde. Seine Stuttgarter Rede hielt er am 19. April 2013 in der Staatsgalerie.
Siehe zum Thema auch den Lexikon-Eintrag Stadttheaterdebatte.
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