Sparendopolos! Versprocholos

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 1. Juni 2013. Knallrot ergießt sich das Theaterblut über die elegant ineinander verknoteten nackten Körper König Agamemnons und seiner Sexsklavin Kassandra – gemeuchelt in der Badewanne, von Agamemnons Gattin Klytaimnestra und ihrem Lover Aigisthos. Der suhlt sich im Blut, haut seine Zähne gierig in die Körpermitte des toten Kontrahenten und spuckt dann etwas Undefinierbares aus. Das Publikum jault leise auf: Igitt. Agamemnons Sohnemann Orest, der die hochdekorierte Uniform des Vaters nicht ausfüllen kann, mordet daraufhin im Gegenzug – heißhungrig mehr nach Macht und Geld als nach Rache – Klytaimnestra und Aigisthos, spielt mit ihren übereinanderliegenden Körpern lechzend noch einmal den Geschlechtsakt nach.

orestie1 560 matthiasdreher uAn Kunstblut wird nicht gespart: Volker Löschs Version der "Orestie" in Stuttgart.
© Matthias Dreher
Blutrachefluch hin oder her – die Familie der Atriden hat einen gehörigen Knall: läuft aufgedreht, wild und meist blutbesudelt durch die Gegend und leckt an scharfen Klingen. Volker Lösch hat Aischylos' Tragödien-Trilogie "Die Orestie" als kurzweilige Eineinhalb-Stunden-Farce inszeniert, für das große Abschiedstheaterfest "Aus die Faust!" zum Ende der Ära Hasko Weber am Stuttgarter Schauspiel.

Viva la Schauspiel!

Die Fete fand im zugigen Staatstheater-Probenzentrum im Norden Stuttgarts statt, weil die Sanierung des Schauspielhauses noch immer nicht abgeschlossen ist. Ein quirliges Volksfest bot sich im "Nord". Das Straßenfest war nach drinnen verlegt worden, weil der Himmel derzeit nun mal eben eine alte Heulsuse ist.

Vorbei an sehr langen Würstchen- und Bierbuden-Schlangen, an TV-Geräten mit Menschentrauben davor, die das Pokalendspiel mitverfolgten, an Staatsschauspiel-Fanartikel-Stand und Kinderaufbewahrung quetschte man sich durch das Menschengewühl, um in die theatral bespielten Räumlichkeiten zu gelangen: Zum "Faust-Club" etwa, in dem fünf Stunden nonstop Highlight-Szenen aus einigen der gut 250 Inszenierungen der letzten acht Jahre zu sehen waren. Oder zu Christian Weises buntem Abend "Viva la Schauspiel", in dem Haus und Theater ordentlich auf die Schippe genommen wurden: im Crashkurs Bühnenslapstick zum Beispiel, in der Lesung der Schauspielhaus-Baumängelliste (Stand 28. Mai), oder bei der genauen Anpassung der Nacktkostüme im Zimmer der Gewandmeisterin.

"Liebe Hellenen, macht mal eure Hausaufgaben"

Und auf der großen Bühne dann zweimal "Die Orestie": Erst die Premiere, gleich danach die Dernière. Es war vorerst der letzte Lösch in Stuttgart. Und wie gewohnt holte er den mörderischen Mythos in die Gegenwart. Ins heutige Griechenland, dem Merkel und Schäuble einen Urlaubsbesuch abstatten, um den Menschen dort zu zeigen, "dass wir für sie da sind", und um ihnen mitzuteilen: "Liebe Hellenen, macht mal eure Hausaufgaben."

Kodderschnauze Rahel Ohm merkelt herrlich, reißt in Kumpanei mit Markus Lerch alias Schäuble, der nicht wirklich in seinem Rollstuhl sitzen bleiben will, am laufenden Band zynische Witze: Wie grillt man auf griechische Art? "Ohne Kohle." Wie antwortet ein Bankomat, der kein Geld mehr auszuspucken hat? "Auf Griechisch."

orestie 560 matthiasdreher uVerkrampftes Fähnchenschwenken hinter Athene-Merkel und Appolon-Schäuble.
© Matthias Dreher

Auf Akropolis-Tour mit Merkel und Schäuble

"Wie hängen die denn hier rum?", frotzelt Ohms Merkel, als die Akropolis in Sichtweite gerät und sie dort mit ihrem eigenen Klischeewitz konfrontiert wird: mit einer brachliegenden Baustelle und Griechen, die sich in weiße Manteltücher gehüllt in Sonnenstühlen fläzen und Merkelbildern Hitlerbärtchen anmalen. Volkes Stimme formiert sich immer wieder zum zornigen BürgerInnenchor, der fordert, kommentiert, als vielstimmige Person Dialogpartner ist und sich am Schluss in schwarze, bedrohliche Attentätermaskerade wirft, um als Erinnyen Orest zu verfolgen und seinen Tod zu fordern.

Am Ende wird Pallas-Athene-Merkel den Griechen das atridische Gesetz vom "Auge um Auge, Zahn um Zahn" austreiben und die Demokratie bringen: Orest wird mit Apollon-Schäuble als Rechtsanwalt an der Seite und per Geschworenengericht freigesprochen. Ordnung und Recht haben ein neues Gesicht. Und das heißt "sparendopolos", so Merkel, ihr Athenemäntelchen abwerfend. Und das mit den Hitlerbärtchen soll das Volk bitte mal lassen und endlich seine Zinsen zahlen. "Versprocholos", beschwichtigt der griechische Ministerpräsident Andonis Samaras, und alle Griechen schwenken brav und verkrampft die Fähnchen. Die Deutschen sollten endlich anfangen, nicht mehr deutsch, sondern wie Europäer zu denken, mahnte eine hungrige Griechin zu Beginn des Stücks.

Lösch, Pollesch, Weise – und die Schauspieler!

Keine Frage, Volker Lösch hat als Hasko Webers Hausregisseur dessen Intendanz, die gleich in der Eröffnungsspielzeit 2005/06 mit der Auszeichnung zum "Theater des Jahres" belohnt wurde, entscheidend mitgeprägt. Das Emblem des Hauses, die geballte Faust, die für Kampf, Aufbruch und Aktion stand, dürfte vor allem mit seinem politischem Chor-Theater assoziiert werden. Dieses auf regionale und globale Missstände direkt reagierende Gesellschaftsanalysetheater holte gern das "Echte", Volkes Stimme, in Gestalt von Laien-BürgerInnenchören auf die Bühne – ob gebürtige Schwaben oder Menschen mit Migrationshintergrund – und mischte sich natürlich auch massiv in die Stuttgart-21-Diskussion ein.

Ob Klassiker, Bühnenadaptionen von Kinofilmen oder Romanen, ob Uraufführungen oder die Förderung jüngerer Regietalente – Hasko Weber hat sein zu Beginn angekündigtes Ziel, politisch engagiertes und vom Ensemblegeist befeuertes Theater in die Stadt zu tragen, durchweg engagiert verfolgt. Und dabei geschickt der politischen Relevanz immer auch Sprachkunst und gute Unterhaltung zur Seite gestellt – ob René Polleschs fremde Geisteswiesen abgrasendes Wortwurfmaschinen-Theater oder Christian Weises anarchisches, Slapstick- und Travestie-verliebtes Komödiantentheater. Vor allem aber dem hervorragenden, perfekt aufeinander eingespielten Ensemble wird so manch einer Tränen nachweinen.

 

Die Orestie
nach Aischylos
Regie: Volker Lösch, Bühne: Carola Reuther, Kostüme: Teresa Grosser, Chorleitung: Bernd Freytag, Dramaturgie: Beate Seidel.
Mit: Markus Lerch, Rahel Ohm, Katharina Ortmayr, Toni Jessen, Florian von Manteuffel, Nadja Stübiger, Bijan Zamani, Jan Jaroszek, Dorothea Arnold, Chor der BürgerInnen.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause.

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

"Mit der Urtragödie um Tochteropfer, Gatten- und Muttermord mit anschließendem Volksgericht plus Gottesurteil ist es bei Lösch nicht getan", schreibt Barbara Miller in der Schwäbischen Zeitung (3.6.2013). Die familiären Massaker würden selbstverständlich im wahrsten Sinne des Wortes ausgeschlachtet. In der Reihenfolge ihres Auftretens nähmen die Figuren Blutbäder. "Der zurückkgehrte Trojakämpfer ist ein Operettengeneral, die treulose Gattin eine Schlampe in Nilgrün und der Rächer Orest zunächst ein ziemlicher Milchbubi (Jan Jaroszek)." Aber darauf komme es der Regie offensichtlich nicht so sehr an. Wichtiger sei die Einbettung in eine muntere Conference von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble. "Nachtigall: Es geht um Griechenland."

Als "grotesk verzerrt" beschreibt Adrienne Braun diese Orestie in der Süddeutschen Zeitung (3.6.2013). Volker Lösch führe seine Strategien noch einmal exemplarisch vor: "Ein klassischer Theaterstoff wird in den Kontext jüngster Politik gerückt, es gibt einen Laienchor auf der Bühne, und Blutorgien gibt es auch." Es sei eine Inszenierung, der man stellenweise ansehe, dass sie unter Zeitdruck gestemmt werden musste – "aber doch ein versöhnlicher Abschied von Volker Lösch". Zum Abschluss der Weber-Intendanz schreibt Braun: "Stuttgart wird heute von einem grünen Oberbürgermeister regiert und hat sein Image grundlegend verändert hat – woran auch das Schauspiel seinen Anteil hatte." Die Ära von Hasko Weber werde weniger wegen der überregionalen Erfolge in Erinnerung bleiben. Aber: "Die geballte Faust, die als Motto zunächst nur die erste Spielzeit zum Auftakt mit Goethes 'Faust' illustrieren sollte, ist zum Symbol der sich empörenden Stadtgesellschaft geworden."

"Die letzte Premiere dieser Intendanz wird aber auch ein wenig Löschs Digest, denn noch einmal wird dem Publikum alles geboten, womit der Regisseur in Stuttgart in den vergangenen Jahren ein kleines Stück Theatergeschichte geschrieben hat", so Tim Schleider in der Stuttgarter Zeitung (3.6.2013). Da sei der Bürgerchor aus perfekt geschulten und choreografierten Laien, der ästhetische Mix aus grellbunten Uniformen und Abendkleidern, "und noch einmal sein scharfer Kontrast zwischen dem hohen Tragödienton und den grotesken Plattheiten einer offiziellen Politik und all ihrer Machenschaften, die Lösch nun mal nicht anders sehen kann denn als Ansammlung von Lug und Trug im Interesse des großen Kapitals." Was die Tragödie angehe, gelingen Lösch in der "Orestie" starke Bilder. Was die Groteske angeht, verleitet er Rahel Ohm als Angela Merkel und Markus Lerch als Wolfgang Schäuble zur Comedy-Klamotte.

Mit "seinem pragmatisch-nüchternen Elan und sportlichen Mannschaftsgeist" habe Intendant Hasko am Schauspiel Stuttgart "tatsächlich eine kleine Revolution vollbracht", so reflektiert Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.6.2013) die Leistung des Schauspielchefs. Er stand "linkes, politisch engagiertes Theater und buchstabierte Werte wie Solidarität und 'gesellschaftliche Relevanz' auf seine eher leise, unaufgeregte Weise sehr bestimmt." Die finale Inszenierung von Volker Lösch – "mit seinen Bürgerchören so etwas wie der Markenkern und Muhammad Ali der Ära Weber"– sei "eine Politfarce am Rande der Selbstparodie: kurz, hart, schrill. Blut muss fließen, wenn sich auf einer – tadellos funktionierenden – Drehbühne die Geburt der europäischen Demokratie aus dem Geiste altgriechischer Splattermythen vollzieht."

Sparendopolos! Versprocholos

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 1. Juni 2013. Knallrot ergießt sich das Theaterblut über die elegant ineinander verknoteten nackten Körper König Agamemnons und seiner Sexsklavin Kassandra – gemeuchelt in der Badewanne, von Agamemnons Gattin Klytaimnestra und ihrem Lover Aigisthos. Der suhlt sich im Blut, haut seine Zähne gierig in die Körpermitte des toten Kontrahenten und spuckt dann etwas Undefinierbares aus. Das Publikum jault leise auf: Igitt. Agamemnons Sohnemann Orest, der die hochdekorierte Uniform des Vaters nicht ausfüllen kann, mordet daraufhin im Gegenzug – heißhungrig mehr nach Macht und Geld als nach Rache – Klytaimnestra und Aigisthos, spielt mit ihren übereinanderliegenden Körpern lechzend noch einmal den Geschlechtsakt nach.

orestie1 560 matthiasdreher uAn Kunstblut wird nicht gespart: Volker Löschs Version der "Orestie" in Stuttgart.
© Matthias Dreher
Blutrachefluch hin oder her – die Familie der Atriden hat einen gehörigen Knall: läuft aufgedreht, wild und meist blutbesudelt durch die Gegend und leckt an scharfen Klingen. Volker Lösch hat Aischylos' Tragödien-Trilogie "Die Orestie" als kurzweilige Eineinhalb-Stunden-Farce inszeniert, für das große Abschiedstheaterfest "Aus die Faust!" zum Ende der Ära Hasko Weber am Stuttgarter Schauspiel.

Viva la Schauspiel!

Die Fete fand im zugigen Staatstheater-Probenzentrum im Norden Stuttgarts statt, weil die Sanierung des Schauspielhauses noch immer nicht abgeschlossen ist. Ein quirliges Volksfest bot sich im "Nord". Das Straßenfest war nach drinnen verlegt worden, weil der Himmel derzeit nun mal eben eine alte Heulsuse ist.

Vorbei an sehr langen Würstchen- und Bierbuden-Schlangen, an TV-Geräten mit Menschentrauben davor, die das Pokalendspiel mitverfolgten, an Staatsschauspiel-Fanartikel-Stand und Kinderaufbewahrung quetschte man sich durch das Menschengewühl, um in die theatral bespielten Räumlichkeiten zu gelangen: Zum "Faust-Club" etwa, in dem fünf Stunden nonstop Highlight-Szenen aus einigen der gut 250 Inszenierungen der letzten acht Jahre zu sehen waren. Oder zu Christian Weises buntem Abend "Viva la Schauspiel", in dem Haus und Theater ordentlich auf die Schippe genommen wurden: im Crashkurs Bühnenslapstick zum Beispiel, in der Lesung der Schauspielhaus-Baumängelliste (Stand 28. Mai), oder bei der genauen Anpassung der Nacktkostüme im Zimmer der Gewandmeisterin.

"Liebe Hellenen, macht mal eure Hausaufgaben"

Und auf der großen Bühne dann zweimal "Die Orestie": Erst die Premiere, gleich danach die Dernière. Es war vorerst der letzte Lösch in Stuttgart. Und wie gewohnt holte er den mörderischen Mythos in die Gegenwart. Ins heutige Griechenland, dem Merkel und Schäuble einen Urlaubsbesuch abstatten, um den Menschen dort zu zeigen, "dass wir für sie da sind", und um ihnen mitzuteilen: "Liebe Hellenen, macht mal eure Hausaufgaben."

Kodderschnauze Rahel Ohm merkelt herrlich, reißt in Kumpanei mit Markus Lerch alias Schäuble, der nicht wirklich in seinem Rollstuhl sitzen bleiben will, am laufenden Band zynische Witze: Wie grillt man auf griechische Art? "Ohne Kohle." Wie antwortet ein Bankomat, der kein Geld mehr auszuspucken hat? "Auf Griechisch."

orestie 560 matthiasdreher uVerkrampftes Fähnchenschwenken hinter Athene-Merkel und Appolon-Schäuble.
© Matthias Dreher

Auf Akropolis-Tour mit Merkel und Schäuble

"Wie hängen die denn hier rum?", frotzelt Ohms Merkel, als die Akropolis in Sichtweite gerät und sie dort mit ihrem eigenen Klischeewitz konfrontiert wird: mit einer brachliegenden Baustelle und Griechen, die sich in weiße Manteltücher gehüllt in Sonnenstühlen fläzen und Merkelbildern Hitlerbärtchen anmalen. Volkes Stimme formiert sich immer wieder zum zornigen BürgerInnenchor, der fordert, kommentiert, als vielstimmige Person Dialogpartner ist und sich am Schluss in schwarze, bedrohliche Attentätermaskerade wirft, um als Erinnyen Orest zu verfolgen und seinen Tod zu fordern.

Am Ende wird Pallas-Athene-Merkel den Griechen das atridische Gesetz vom "Auge um Auge, Zahn um Zahn" austreiben und die Demokratie bringen: Orest wird mit Apollon-Schäuble als Rechtsanwalt an der Seite und per Geschworenengericht freigesprochen. Ordnung und Recht haben ein neues Gesicht. Und das heißt "sparendopolos", so Merkel, ihr Athenemäntelchen abwerfend. Und das mit den Hitlerbärtchen soll das Volk bitte mal lassen und endlich seine Zinsen zahlen. "Versprocholos", beschwichtigt der griechische Ministerpräsident Andonis Samaras, und alle Griechen schwenken brav und verkrampft die Fähnchen. Die Deutschen sollten endlich anfangen, nicht mehr deutsch, sondern wie Europäer zu denken, mahnte eine hungrige Griechin zu Beginn des Stücks.

Lösch, Pollesch, Weise – und die Schauspieler!

Keine Frage, Volker Lösch hat als Hasko Webers Hausregisseur dessen Intendanz, die gleich in der Eröffnungsspielzeit 2005/06 mit der Auszeichnung zum "Theater des Jahres" belohnt wurde, entscheidend mitgeprägt. Das Emblem des Hauses, die geballte Faust, die für Kampf, Aufbruch und Aktion stand, dürfte vor allem mit seinem politischem Chor-Theater assoziiert werden. Dieses auf regionale und globale Missstände direkt reagierende Gesellschaftsanalysetheater holte gern das "Echte", Volkes Stimme, in Gestalt von Laien-BürgerInnenchören auf die Bühne – ob gebürtige Schwaben oder Menschen mit Migrationshintergrund – und mischte sich natürlich auch massiv in die Stuttgart-21-Diskussion ein.

Ob Klassiker, Bühnenadaptionen von Kinofilmen oder Romanen, ob Uraufführungen oder die Förderung jüngerer Regietalente – Hasko Weber hat sein zu Beginn angekündigtes Ziel, politisch engagiertes und vom Ensemblegeist befeuertes Theater in die Stadt zu tragen, durchweg engagiert verfolgt. Und dabei geschickt der politischen Relevanz immer auch Sprachkunst und gute Unterhaltung zur Seite gestellt – ob René Polleschs fremde Geisteswiesen abgrasendes Wortwurfmaschinen-Theater oder Christian Weises anarchisches, Slapstick- und Travestie-verliebtes Komödiantentheater. Vor allem aber dem hervorragenden, perfekt aufeinander eingespielten Ensemble wird so manch einer Tränen nachweinen.

 

Die Orestie
nach Aischylos
Regie: Volker Lösch, Bühne: Carola Reuther, Kostüme: Teresa Grosser, Chorleitung: Bernd Freytag, Dramaturgie: Beate Seidel.
Mit: Markus Lerch, Rahel Ohm, Katharina Ortmayr, Toni Jessen, Florian von Manteuffel, Nadja Stübiger, Bijan Zamani, Jan Jaroszek, Dorothea Arnold, Chor der BürgerInnen.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause.

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

"Mit der Urtragödie um Tochteropfer, Gatten- und Muttermord mit anschließendem Volksgericht plus Gottesurteil ist es bei Lösch nicht getan", schreibt Barbara Miller in der Schwäbischen Zeitung (3.6.2013). Die familiären Massaker würden selbstverständlich im wahrsten Sinne des Wortes ausgeschlachtet. In der Reihenfolge ihres Auftretens nähmen die Figuren Blutbäder. "Der zurückkgehrte Trojakämpfer ist ein Operettengeneral, die treulose Gattin eine Schlampe in Nilgrün und der Rächer Orest zunächst ein ziemlicher Milchbubi (Jan Jaroszek)." Aber darauf komme es der Regie offensichtlich nicht so sehr an. Wichtiger sei die Einbettung in eine muntere Conference von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble. "Nachtigall: Es geht um Griechenland."

Als "grotesk verzerrt" beschreibt Adrienne Braun diese Orestie in der Süddeutschen Zeitung (3.6.2013). Volker Lösch führe seine Strategien noch einmal exemplarisch vor: "Ein klassischer Theaterstoff wird in den Kontext jüngster Politik gerückt, es gibt einen Laienchor auf der Bühne, und Blutorgien gibt es auch." Es sei eine Inszenierung, der man stellenweise ansehe, dass sie unter Zeitdruck gestemmt werden musste – "aber doch ein versöhnlicher Abschied von Volker Lösch". Zum Abschluss der Weber-Intendanz schreibt Braun: "Stuttgart wird heute von einem grünen Oberbürgermeister regiert und hat sein Image grundlegend verändert hat – woran auch das Schauspiel seinen Anteil hatte." Die Ära von Hasko Weber werde weniger wegen der überregionalen Erfolge in Erinnerung bleiben. Aber: "Die geballte Faust, die als Motto zunächst nur die erste Spielzeit zum Auftakt mit Goethes 'Faust' illustrieren sollte, ist zum Symbol der sich empörenden Stadtgesellschaft geworden."

"Die letzte Premiere dieser Intendanz wird aber auch ein wenig Löschs Digest, denn noch einmal wird dem Publikum alles geboten, womit der Regisseur in Stuttgart in den vergangenen Jahren ein kleines Stück Theatergeschichte geschrieben hat", so Tim Schleider in der Stuttgarter Zeitung (3.6.2013). Da sei der Bürgerchor aus perfekt geschulten und choreografierten Laien, der ästhetische Mix aus grellbunten Uniformen und Abendkleidern, "und noch einmal sein scharfer Kontrast zwischen dem hohen Tragödienton und den grotesken Plattheiten einer offiziellen Politik und all ihrer Machenschaften, die Lösch nun mal nicht anders sehen kann denn als Ansammlung von Lug und Trug im Interesse des großen Kapitals." Was die Tragödie angehe, gelingen Lösch in der "Orestie" starke Bilder. Was die Groteske angeht, verleitet er Rahel Ohm als Angela Merkel und Markus Lerch als Wolfgang Schäuble zur Comedy-Klamotte.

Mit "seinem pragmatisch-nüchternen Elan und sportlichen Mannschaftsgeist" habe Intendant Hasko am Schauspiel Stuttgart "tatsächlich eine kleine Revolution vollbracht", so reflektiert Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.6.2013) die Leistung des Schauspielchefs. Er stand "linkes, politisch engagiertes Theater und buchstabierte Werte wie Solidarität und 'gesellschaftliche Relevanz' auf seine eher leise, unaufgeregte Weise sehr bestimmt." Die finale Inszenierung von Volker Lösch – "mit seinen Bürgerchören so etwas wie der Markenkern und Muhammad Ali der Ära Weber"– sei "eine Politfarce am Rande der Selbstparodie: kurz, hart, schrill. Blut muss fließen, wenn sich auf einer – tadellos funktionierenden – Drehbühne die Geburt der europäischen Demokratie aus dem Geiste altgriechischer Splattermythen vollzieht."

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