Krawattenträume vom Übermenschentum

von Martin Krumbholz

Recklinghausen, 3. Juni 2013. Lauter verblüffende Ähnlichkeiten. Der Spießbürger Theobald Maske, der seiner Frau den Hintern versohlt, weil sie bei einer kaiserlichen Parade ihre Hose (ihre Unterhose!) verloren hat, ähnelt dem Proleten Paul Schippel, der von den Bürgern verachtet wird, aber gleichwohl als wahrer Heldentenor einspringt und beim Wettsingen die Ehre des Herrenquartetts rettet.

Aus wilhelminischer Zeit

Maskes geschundene Frau Luise gleicht Thekla Hicketier, der Schwester des Gold- und Ränkeschmieds unter den Gesangsfreunden: beide auffällig schwankend zwischen Unterwürfigkeit und Anflügen von Trotz und Eigensinn. Der Friseur Benjamin Mandelstam, übrigens "aus rein deutscher Familie", der bei Maske Quartier sucht, nachdem die verlorene Unterhose der Hausherrin ihn entflammt hat – er wiederum ähnelt in Stimmfall und Habitus dem perfekt verpanzerten höheren Beamten Heinrich Krey aus dem Quartett: beide wissen nicht ein noch aus in ihrer begehrlichen Verklemmtheit.

DieHose1 560 MarionBuehrle uBürger vor dem Bullauge: Pius Maria Cueppers und Thomas Nunner © Marion Buehrle

1911 bzw. 1913 sind die beiden Stücke "Die Hose" und "Bürger Schippel" von Carl Sternheim entstanden, groteske Sittenbilder der wilhelminischen Zeit; man führt sie heutzutage, wenn überhaupt (eigentlich sind sie aus den Spielplänen verschwunden), gern gebündelt auf: Der Regisseur David Mouchtar-Samorai, der sich ganz zu Recht für diese bizarr-komischen Vorboten des deutschen Faschismus interessiert, hat zwei Texte genommen und sie ineinander verschraubt wie zwei Teile eines größeren Spielzeugs. Der Abend – eine Koproduktion der Ruhrfestspiele mit dem Schauspiel Nürnberg – dauert dennoch nur zweieinhalb Stunden, da der Regisseur weglässt, was er jeweils für entbehrlich hält.

Besetzungstechnisch geht das ohne weiteres auf – Hauptdarsteller Thomas Nunner beispielsweise springt zwischen der Maske- und der Schippel-Rolle hin und her, indem er sich eine Krawatte umbindet bzw. sie entfernt. Doch der inhaltliche Mehrwert der Doppelung hält sich in Grenzen. Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass man ähnlich verlaufende Geschichten in identischen Milieus zweimal erzählt: Geschichten von Herrenmenschentum, rigoroser Anpassung und im Keim erstickter Emanzipation.

DieHose3 hoch MarionBuehrle uTanzbeinschwinger: Louisa von Spies und Thomas Nunner © Marion Buehrle

Arsenal nichtssagender Floskeln

Der exquisiten Sprachbehandlung des Artikel- und Pronomenhassers Sternheim schenkt Mouchtar-Samorai dabei keine besondere Aufmerksamkeit. Von Sternheim läuft eine Linie zu Walter Kempowski, eine andere zu Werner Schwab: Das Bürgertum rüstet sprachtechnisch auf, vergewissert sich eines ganzen "Arsenals nichtssagender Floskeln", will Nietzsche und Kant gelesen haben, träumt heimlich vom Übermenschen und feiert die Ehe als einen Zusammenstoß "zweier ein Ding bildender Faktoren".

Nachdem Theobald Maske seine Frau in die Kirche geschickt hat, fällt er über das alleinstehende dreißigjährige Fräulein von nebenan her (im Jargon der Zeit: eine "alte Jungfer"). Und die anfängliche Wut über die verlorene Hose lässt sich umstandslos mit einem Sonntagsbraten besänftigen – den Luise sich allerdings bei dem besagten Fräulein ausleihen muss.

Die Bühne von Christoph Rasche ist blaustichig und mit den Porträts vieler deutscher Berühmtheiten tapeziert und gepflastert; ein großes Bullauge im Hintergrund dient zu Auf- und Abtritten. Trotz der vielen schönen Konterfeis ist der Raum in seinem entschiedenen Antinaturalismus extrem hässlich, und das ist sicher Absicht. Doch die verzwickte Dramaturgie des Abends hemmt die Entfaltung der Komik, auf die bei Sternheim doch alles ankommt. Die sieben Schauspieler geben sich redliche Mühe, aber sie heben nicht ab. Ein schönes Figurenporträt gelingt Pius Maria Cüppers in der Rolle Mandelstam/Krey: ein Einsamer, der seine blockierten Leidenschaften immer wieder mal zur folgenlosen Explosion bringt. Ansonsten bleibt die Inszenierung im Rahmen einer allzu gediegenen Konvention.


Die Hose / Bürger Schippel
von Carl Sternheim
Fassung von David Mouchtar-Samorai
Regie: David Mouchtar-Samorai, Bühne: Christoph Rasche, Kostüme: Urte Eicker, Musik: Ernst Bechert, Dramaturgie: Horst Busch.
Mit: Thomas Nunner, Heimo Essl, Pius Maria Cüppers, Ulrich Kuhlmann, Michael Hochstrasser, Louisa von Spies, Adeline Schebesch, Ernst Bechert.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.ruhrfestspiele.de
www.staatstheater-nuernberg.de

 

Mehr zu Carl Sternheim auf deutschsprachigen Bühnen: Der Zyklus "Aus dem bürgerlichen Heldenleben" lief jüngst in Braunschweig (Regie: Nicolai Sykosch) und in Hannover (Regie: Milan Peschel). "Bürger Schippel" wurde 2010 in Ulm gezeigt (Regie: Philipp Jescheck).

 

Kritikenrundschau

"In beiden Stücken gerät die Welt der braven Bürger gehörig ins Wanken – kein schlechter Gedanke also, sie an einem Abend zu spielen", so Harald Suerland in den Westfälischen Nachrichten (5.6.2013). Dem Regisseur Mouchtar-Samorai scheint auf der Suche nach einem klugen und originellen Ansatz der Witz der Werke aber abhandengekommen zu sein. Zwar schneide er geschickt die wechselnden Szenen seiner Fassung ineinander, "kann aber nicht plausibel machen, warum er das tut, warum er nicht beispielsweise im ersten Teile die Karriere des Schippel und im zweiten Teil das Fehlverhalten des Bürgers Maske zeigt." Fazit: "Insgesamt wirkt der Abend weder allzu witzig noch sonderlich bissig. Eher hübsch wie ein großes Kachelzimmer."

"Mehr an Aussage aber, als dass gewisse Typen sich eben wiederholen", könne Mouchtar-Samorai nicht aus seiner Dopplung herausholen, schreibt Arnold Hohmann auf derwesten.de (5.6.2013). "Während man langsam aggressiv wird durch die pene-trant blaue Tapete mit ihren prominenten deutschen Köpfen im Bühnenbild von Christoph Rasche, nimmt eine Inszenierung ihren Lauf, die als gediegen durchgehen kann."

Während Sternheims Sprache ihre Kraft behalten habe, seien der bissigen Handlung die Zähne ausgefallen, findet Bettina Jäger in den Ruhrnachrichten (5.6.2013). Mouchtar-Samorai habe die Stücke nicht inszeniert oder gar aktualisiert, sondern lasse sie "mit Standard-Gesten und Gefühlsausbrüchen von der Stange allenfalls ausführen". Ihr Fazit: "Das Publikum hat hier nichts zu lachen."

Eingehend schildert Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (10.6.2013) in einer Doppelbesprechung des Recklinghausener Abends mit einer Bochumer Sternheim-Inszenierung von Anselm Weber, wie Carl Sternheims Figuren je unterschiedliche Nuancen im "bürgerlichen Heldenleben" repräsentieren. Vor diesem Hintergrund kritisiert er, wie David Mouchtar-Samorai Sternheims Protagonisten miteinander identifiziert: "Das ist ein Betrug: am fernen Stück wie am nahen Zuschauer. Schippel wie Maske, gespielt vom selben Schauspieler, haben keine Nuance. Nur eine brüllende, schnauzbärtige Klotzigkeit. Heraushängendes Hemd statt aufmerkendes Hirn." Sternheims heute fremd wirkende Stücke verlangten, "wenn man sie denn spielt, ihre Ferne, ihr Historisches, Kaltes, Aufsteigendes, Triumphales, Klirrendes, Heldenverehrendes als Spiegel begreifen, in dem wir uns nicht sehen, hinter den aber Sternheim uns was steckt: Möglichkeiten. An Gier. Macht. Tricks. Trieben. Nuancen eben." In Recklinghausen tue man so, "als biege Sternheim um die nächste harmlose Comedy-Ecke".

 

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