Airport und Spitzendeckchen

von Christiane Wechselberger

München, 7. Juni 2013. Gestern Abend eröffnete Kammerspiele-Intendant Johan Simons sein Theaterfestival "Relations" in München. Vorgestellt werden dort dreizehn Produktionen aus zehn Städten und drei Kontinenten. Simons hat nicht nur Regisseure und Gruppen eingeladen, die bereits zur Kammerspiele-Familie gehören – wie den Letten Alvis Hermanis oder die Argentinierin Lola Arias – oder die gar als sein Nachfolger für die Intendanz der Kammerspiele gehandelt werden wie Luk Perceval. Spartenübegreifende Kollektive wie Wunderbaum aus Rotterdam oder die interdisziplinäre Gruppe um Alain Platel aus Brüssel sowie der chinesische Avantgardist Tian Gebing und sein hoch gelobtes Paper Tiger Studio aus Peking, die nach neuen Ausdrucksformen zeitgenössischen Theaters suchen, ergänzen das Spektrum.

Während am Eröffnungsabend Lotte van den Berg aus Utrecht mit ihrer Gruppe OMSK ihr Publikum via Handy auf die Spur ihres Protagonisten führt und "Agoraphobia" erleben lässt, verknüpft Lola Arias in "Melancolia y Manifestaciones" die Geschichte der argentinischen Militärdiktatur mit der depressiven Erkrankung ihrer Mutter und erforscht das Öffentliche auf dem Weg über das Private im Werkraum.

Die Welt des Isaac B. Singer

Gleichzeitig montiert Hermanis im Schauspielhaus fünf Erzählungen des jiddisch schreibenden, US-amerikanischen Autors Isaac Bashevis Singer zu einem Abend um Weggehen und Ankommen. Bühnenbildnerin Monika Pormale hat ihm dafür einen ungewohnt schmucklosen Schauplatz gebaut: die Gepäckausgabe eines Flughafens. Für Hermanis ist dies der einzige Ort, an dem ein Außenstehender überhaupt auf orthodoxe Juden, die Chassidim, treffen kann. Deren Welt beschreibt der polnischstämmige Singer in seinen Erzählungen, die Welt der osteuropäischen Schtetl vor der Zerstörung durch die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg, ihre Traditionen, ihre Erzählungen, ihre Mystik. Ein anderes, immer wiederkehrendes Motiv des Literaturnobelpreisträgers ist die Figur des Schriftstellers und seiner Liebesverwirrungen.kabbalah 560 gintsmalderis uDie Einsamkeit des Gepäckbandes © Gints Malderis

Auf der Leinwand im Hintergrund landet eine Air-Baltic-Maschine in Tel Aviv, man meint beinahe, aus dem Fenster aufs Rollfeld zu schauen. In die Gepäckausgabe stöckelt eine Amy-Winehouse-Gestalt (Elita Klavina) und reißt heftig die Plastikfolie von Koffern auf dem Band ab. Ein alter Orthodoxer hievt mühsam einen großen Koffer nach dem anderen auf seinen Wagen. Der letzte Koffer reißt den Mann in einer komischen Nummer hin und her wie einen Baum im Wind, bis er ihn endlich oben hat, und um den schiefen Turm zu stabilisieren, setzt er seinen Hut obendrauf. Das scheint ganz logisch. In einem Gepäckwagenballett umkreisen sich die beiden und erkennen sich wieder.

Das Gepäckband als Bühne

Damals in Warschau sind sie sich begegnet, und schon sind wir in der titelgebenden Erzählung "The Secrets of Kabbalah" um eine Frau, einen Schriftsteller, eine Flucht und ein Manuskript. Während auf der Leinwand im Hintergrund die schönsten Flugstrecken und Wolkenbildungen vorbeigleiten, funktionieren die Schauspieler das Gepäckband zur Bühne um, auf der sie mit flatternden Fingern, flatternden Händen und Armen in flatternden Gesten die Geschichte der Varietékünstlerin und des Schriftstellers vorbeiflanieren lassen.

Die durchgängigen Rückprojektionen begleiten die Geschichten mit Szenen aus dem Leben orthodoxer Juden. Das funktioniert immer dann, wenn eine kommentierende Instanz vorhanden ist wie in der ersten und in der letzten Erzählung, der vom Totengräber. Da sitzt das Dorf auf der Bank und erzählt sich die Geschichte, ergänzt hier, hinterfragt dort.

Mutterwitz versus Putzigkeit

Die drei Stories zwischendrin verfangen sich in einer von Hermanis gewohnten überladenen Spitzendeckchenästhetik. Da wird aus pantomimischen Tätigkeiten fast ein Tanz, der an die Bewegungsstruktur klassischer Scherenschnittfilme erinnert und eine Putzigkeit entfaltet, die bald übersättigt. Der Charme und Mutterwitz der Geschichten aus einer fernen fremden Welt wird unter einem Berg von verzierenden Gesten und illustrierenden Bildern begraben, die bis zur Klamotte reichen und gelegentlich eine bodenlose Naivität entwickeln, wenn nicht Elita Klavina als Amy-Winehouse-Double eine wohltuend kaputte Energie reinbringt.

 

The Secrets of Kabbalah
von Isaac Bashevis Singer
Deutschlandpremiere
Regie: Alvis Hermanis, Bühne und Kostüme: Monika Pormale, Videokünstler: Katrina Neiburga, Licht: Peteris Seso, Sound und Video: Gatis Builis, Produktion: Jaunais Riga Teatris
Mit: Elita Klavina, Regina Razuma, Gundars Abolins, Andris Keiss, Jevgenijs Isajevs
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

Vor vier Jahren brachte Alvis Hermanis in Köln bereits eine deutschsprachige Version der "Geheimnisse der Kabbala" auf die Bühne.

 

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