Zerrüttungsstudie unter Singles

von Christian Rakow

Berlin, 14. Juni 2013. An einem Opernhaus hätten sie aber Szenenapplaus bekommen: die Sänger Maraike Schröter und Gyula Orendt für packend dargebotene Arien aus Tschaikowskis "Eugen Onegin" und den Liedauftakt von Schuberts "Winterreise". Und der Schaubühnen-Schauspieler Franz Hartwig, der einmal wie ein wildgewordener Entertainer einen Endlosfragenkatalog aus dem eDarling-Universum auf die Bühne hämmert. Oder Helgi Hrafn Jónsson, der seine auf der E-Gitarre locker hingezupften Songwriter-Einwürfe eng am Elektro-Pop von Radiohead entlangschlenzt. Und der Tänzer Franz Rogowski, der eine Minute oder länger einen Handstand auf die Bühne zaubert. Wohlgemerkt mit angewinkelten Armen. Es steckt wahrlich Kraft in dieser groß angelegten Crossover-Produktion "For The Disconnected Child".

Ansichten digital verbogener Großstadtexistenzen

Falk Richter hat sie als Autor, Regisseur und Choreograph für die Berliner Schaubühne in Kooperation mit der Berliner Staatsoper mit einem Kammerorchester und sieben Komponisten Neuer Musik für das Festival für Neues Musiktheater INFEKTION! entworfen. Ein zweigeschossiges Gerüst überragt das Bühnenplateau, darin Wohnzellen mit kargen Matratzen-Gestellen (Bühne: Katrin Hoffmann). Ihre Rückwände übermalt Video-Maestro Chris Kondek mit Bildern des modernen Transitalltags: Hotelzimmer, ausgeräumte Innenstädte. Kalte Architekturen für leere Herzen.

disconnected child 560 arnodeclair uTransiträume für ausgeräumte Seelen  © Arno Declair
Falk Richter, der Multimedia-Soundsammler unter den Autorregisseuren unserer Tage, ist also in jeder Hinsicht daheim oder vielmehr unterwegs in seinem Stammthema: bei Ansichten moderner Großstadt-Existenzen im Zeitalter ihrer digitalen Verbiegung. In gewohnt schnell geschnittenen Szenen wirft er Männer und Frauen in den mittleren Jahren ins Rund, die sich in Rudimentärdialogen gegenseitig ihre Liebesunfähigkeit bezeugen: "ich würde gern / dass wir uns nah sind" – "wie nah" – "nah" – "sorry, aber das ist mir zu abstrakt".

In der Mitte hält er wie einen kleinen Kristall die Geschichte einer Assessment-Trainerin Tatjana (Ursina Lardi), die Menschen "auf ihre emotionale Kompetenz hin" bewertet und gleich mal einen emotional etwas übereifrig munteren Prüfling durchfallen lässt (Franz Hartwig). Der rächt sich später böse, wenn er der Single-Frau und Mutter zweier Kinder als neuer Berater der Partnervermittlung eDarling entgegentritt und ihr in einer langen Fragesession ihre Chancenlosigkeit auf dem Online-Heiratsmarkt vorbuchstabiert. Trost kann da auch nicht die Mama (Borjana Mateewa) spenden, die als Opernsängerin in Japan dafür bezahlt wird, dass sie "nicht singt". Denn ihre Skype-Verbindung bricht ständig zusammen.

Prototyp Eugen Onegin

Das alles versteht sich als moderne Variation der zentralen Szene des "Eugen Onegin", in der die Gutstochter Tatjana von Onegin, dem sie rückhaltlos ihre Liebe offenbart hat, zurückgewiesen wird. Der unstete Dandy Onegin gilt hier gewissermaßen als Prototyp aller Liebesfreibeuter 2.0. Aber der Witz geht noch über das Inhaltliche hinaus, und darin wird der Abend wesentlich launiger und verwickelter als die Diskurs-und-Tanzkreationen Trust (2009) oder Protect Me (2010), die Richter an der Schaubühne mit der Choreographin Anouk van Dijk schuf: Weil die Oper traditionell auch als "Schule des Herzens" gilt, gibt es herrliche Querbezüge und Synthesen.

"Ich gehe auch gerne in die Oper, um mein emotionales Spektrum zu erweitern", bekennt Stefan Stern im Assessment-Center als wunderbar streberhaft hohltönender Job-Aspirant. Immer wieder werden Dialogpartien eingesungen, von fiepender und schneidender Neuer Musik getragen. In einem fabulösen Trennungskrach murrt Tilmann Strauß "hör auf zu weinen / nicht weinen, das hatten wir so vereinbart", während die Sopranistin Maraike Schröter in höchsten Tönen schluchzt, quasi echtes Koloratur-Quengeln.

disconnected child 280h arnodeclair uOben: Ursina Lardi. Unten: Borjana Mateewa und Jorijn Vriesendorp  © Arno Declair

"Alles löst sich auf in mir"

Überhaupt weht ein weicher Humor in vielen Szenen dieses Abends, wenn sich etwa die große souveräne Ursina Lardi als Tatjana mit ungelenker Leidenschaft dem kühlen Onegin-Wiedergänger Tilmann Strauß an den Hals wirft. Übrigens ein Wiedergänger in doppelter Hinsicht: Strauß war natürlich unlängst an der Schaubühne auch der Titelheld in Alvis Hermanis' kulturgeschichtlich tiefschürfender Adaption der Versdichtung Eugen Onegin von Alexander Puschkin (ebenso dort mit an Bord: Luise Wolfram).

In der zweiten Hälfte des zweieinhalbstündigen Abends sucht Richter vermehrt das Pathetische in seiner Zerrüttungsanalyse unter Singles. Lardi gerät in Wallung mit einem langen Monolog "Alles löst sich auf in mir". Und ihre Mutter (Borjana Mateewa), die mit der Weisheit der Amme aus Tschaikowskis "Eugen Onegin" gesegnet ist – "WAS MAN ERST KAUM ERTRAGEN KANN / WIE SCHNELL GEWÖHNT MAN SICH DARAN" – singt ihr letztlich doch ein Lied, traurig und still zur einsamen Elektro-Gitarre von Helgi Hrafn Jónsson: "The Ballad of Lucy Jordan" (einst von Marianne Faithfull vorgetragen). Dann hebt Jónsson die Musik in Elektrosphären empor. Vielleicht ein bisschen fett für's Finale. Aber immer noch besser als zu dünn. Und nachdem alles fertig ist, kommt der zwischendrin aufgesparte Applaus im großen Schwall. Standing Ovations, lange nicht gesehen.

 

For the Disconnected Child (UA)
von Falk Richter
Kompositionen von Malte Beckenbach, Achim Bornhoeft, Oliver Frick, Helgi Hrafn Jónsson, Jan Kopp, Jörg Mainka, Oliver Prechtl
Text, Regie, Choreographie: Falk Richter, Dirigent: Wolfram-Maria Märtig, Bühne: Katrin Hoffmann, Kostüme: Daniela Selig, Video: Chris Kondek, Dramaturgie: Florian Borchmeyer, Nils Haarmann, Jens Schroth, Licht: Carsten Sander.
Mit: Franz Hartwig, Ursina Lardi, Stefan Stern, Tilman Strauß, Luise Wolfram. Tänzer: Steven Michel, Franz Rogowski, Jorijn Vriesendorp. Sänger: Helgi Hrafn Jónsson, Borjana Mateewa, Gyula Orendt, Maraike Schröter. Musiker der Staatskapelle Berlin und der Orchesterakademie bei der Staatskapelle Berlin.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.schaubuehne.de

 

Falk Richter hat Peter Tschaikowskys Oper Eugen Onegin, die ihn motivisch zu diesem Musiktheaterprojekt inspiriert hat, im Original bereits 2008 an der Tokyo Opera Nomori und 2009 noch einmal an der Wiener Staatsoper inszeniert.

Kritikenrundschau

Andreas Schäfer schreibt auf der Website des Berliner Tagesspiegels (15.06.2013 16:41 Uhr): Der Sänger Helgi Hrafn Jónsson flute die Schaubühne mit Melancholie. "Man geht sofort darin unter". Obwohl es sich um ein Mehr-Sparten-Bombast-Projekt handle - "Es gibt Opernsänger, Tänzer, Schauspieler, ein Kammerorchester, eine fußballfeldbreite Bühne mit riesigen Videowänden, mehrstöckige Gerüstbauten. Gleich sieben Komponisten versorgen den Abend mit Musik" - fühle  sich das Ganze "kuschelig und klein" an. Wie "meist bei Richter" gehe es um "das Lebensgefühl der ewig Dreißigjährigen", das er uns als "die bestimmende Daseinsform der Gegenwart" unterjubele. Die Texte seien nicht "Richters Stärke". Seine Gabe bestehe darin, die "Darstellungsformen ineinanderfließen zu lassen und einen Stimmungsstrom herzustellen, in dem alles seinen Platz findet". Was bleibe, sei das "tränenüberströmte Antlitz Ursina Lardis auf der Riesenleinwand, der Jubel des Publikums und die Mattheit nach einem Zuviel vom Immergleichen".

Auf dem Online-Portal der Berliner Zeitung (16.6.2013) schreibt Martin Wilkening: "Gefangen in ihrer narzisstischen Hölle glauben die einsam liebeshungrigen Selbstoptimierer, die hier durch die Welt irren, auf der Suche nach dem Anderen zu sein, den sie jedoch nicht zu sehen vermögen." Mit großem Reichtum an Zwischentönen halte Ursina Lardi die "widerstrebenden Züge" ihrer (Haupt-)Figur vom "selbstauferlegten Ringen um Haltung über sentimentale Anwandlungen bis zum Einsturz des fassadenhaften Selbstbildes" zusammen. Im Begegnungsraum zwischen Theater und Musiktheater entwickele sich aus der Perspektive des Schauspiels die Frage, "was Musik, was Oper mit uns macht, wenn wir als Hörer und Zuschauer plötzlich die Distanz aufgeben". Eine gute Iddee, dass gleich sieben Komponisten die Musik geliefert hätten, so setze sich kein eigener musikdramatischer Zug fest. Ohnehin präge die Stimme des isländischen Sängers Helgi Jónsson den Abend. Sie komme von "ganz weit her" und besinge in "androgynem, kindlich hohem Ton das Trauma des Alleingelassenseins".

Ein in der "Verzwirnung und Verflechtung seiner Szenen virtuoser und leichtfüßiger Abend", aber doch auch einer in "formvollendeter Harmlosigkeit", sei Falk Richter hier gelungen, befindet Kai Luehrs-Kaiser im Kulturradio des rbb (16.6.2013). Sein "Generaleinwand" lautet: "Wenn man Musik und Tanz wegließe, würde zu wenig fehlen." Richter biete Einblicke in eine "Welt der einsamkeitstrunkenen Partnerschafts- und Stellengesuche, des gekränkten Narzissmus und der gefürchteten, emotionalen Impotenz". Das "literarische Niveau" seiner der Texte "unterbietet keinesfalls eine mittelprächtige Schimmelpfennig- oder Dea-Loher-Produktion". Gewürdigt werden die Pop-Auftritte von Helgi Hrafn Jónsson; und überhaupt: "Wie U- und E-Musik indes fließend ineinander übergehen oder nebeneinander stehen, ohne sich zu beißen, ist das eigentlich Originelle dieser aufwendigen, netten Produktion."

Eher ein Nebeneinander denn ein Miteinander der verschiedenen Sparten darstellender Kunst und Tonkunst macht Volker Corsten von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (16.6.2013) an diesem Abend aus: "Es wird, meist für sich, gespielt, gesungen und ein wenig getanzt auf zwei kargen Ebenen, auf die Bilder von unberührten Hotelbetten projiziert werden." Das "Nicht-Verbundensein", die "Vereinzelung in der bis ins privateste durchökonomisierten Welt", sei das "Lieblingsthema" von Richter. Schlusswendung: Man sollte Falk Richter "dankbar sein für solche Einblicke in eine kalte Welt. Wenn sie nicht so offensichtlich wären."

In Kultur heute (17.6.2013) im Deutschlandfunk bleibt Georg-Friedrich Kühn ganz lapidar: Zu einem sinnlichen Miteinander verdichte sich "For the Disconnected Child" nicht. Es bleibe bei einem "eher sterilen Volkshochschul-Kursangebot" auf einer "altarartigen Bühne mit eingezogener Empore".

Zu den Geschlechterverhältnissen treffe Richter keine Aussage, so Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (19.6.2013): "Ist nun alles beim Altengeblieben, die Männerbindungsunwillig und die Frauen liebeshungrig? Oder sind heute alle Narzissten, die nur zu ihrer Arbeit eine erotische Beziehung pflegen?" Man könne diesem faszinierenden Abend vor allem vorwerfen, "dass er bei all dem Leiden so schrecklich gut aussieht". "Die viel kritisierte Selbstoptimierung ist auch an der Schaubühne weit fortgeschritten. Aber das zeigt vielleicht nur, wie Recht Falk Richter hat."

Ein "Potpourri konfektionierter Verzweiflung" nennt Jan Brachmann in der Frankfurter Allgemeinen (22.6.2013) Falk Richter Textkonglomerat. Darin gehe es um "lauter Web-2.0-Memmen", die "seit Jahren in reduzierten Echtmenschenkontakten leben". Der Kritiker "bewundert den rücksichtslosen Körpereinsatz der Tänzer Franz Rogowski, Steven Michel und Jorijn Vriesendorp" und "zieht den Hut vor der Vielseitigkeit der Sängerin Borjana Mateewa", hat aber nach der Pause doch "Mühe, in den Saal zurückzukehren". Das sei "ja alles richtig mit der emotionalen Selbstausbeutung heute". Aber im Theater aus Carmen Losmanns Dokumentarfilm "Work hard, play hard" zu zitieren wirke "überdidaktisch und nervt in Verbindung mit den Jammerliedern von Helgi Hrafn Jónsson". Inhaltlich sei das "alles schlimm und richtig, aber weder neu noch in dieser Form theatertauglich".

Georg-Friedrich Kühn schreibt in seinem "Infektion!"-Festivalbericht für die Neue Zürcher Zeitung (28.6.2013) nur äußerst knapp über "Disconnected Child": "Als Abschlussarbeit eines Volkshochschulkurses würde es gut taugen."

Kommentare  
For the disconnected child, Stream: gealtert
Für manche Inszenierungen scheint der Stream kein gutes Format. Das gilt zumindest für dieses Crossover-Projekt mit seiner fußballfeldbreite Bühne mit riesigen Videowänden und mehrstöckigen Gerüstbauten (Tagesspiegel zur Premiere 2013).

Über weite Strecken der zwei Stunden gab es keine schlüssige Alternative zu einer Totalen, die einzelne, häufig parallel laufende Nummern zu einem trüben Einerlei verschwimmen ließ.

In seiner melancholischen, aufs Private und die Innerlichkeit gerichteten Art wirkt "For the disconnected child" auch wesentlich schlechter gealtert als die nur ein halbes Jahr jüngere "Small Town Boy"-Inszenierung, die in ihrer Wut auf politische Missstände und mit ihren emotionalen Songs sechs Jahre nach der Premiere im Nachtkritik-Stream noch sehr frisch wirkte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/04/06/for-the-disconnected-child-schaubuhne-theater-kritik/
Disconnected Child, Berlin: schlecht gemacht
Wir wissen nicht, ob man das mit "gealtert" oder nicht definieren kann. Small Town Boy hat uns sehr gefallen, da hatten die Agierenden miteinander etwas zu tun, selbst wenn sie nichts miteinander zu tun haben wollten. In diesem Stück nicht. Die Texte waren schlecht, auch dann nicht gut gemacht, wenn sie Vereinzelung darstellen sollten, Einsamkeit, die man keinen Moment als ernsthaft sie spiegeln wollend, abnimmt. Auch wenn die Einzelqualitäten von Musik und Tanz sehr überzeugend waren. - Schade.
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