Björn Bicker - Was wir erben. Roman
Ich bin nicht für alles zu haben
von Elena Philipp
Juni 2013. Was ist echt und was ist Fake? Wo liegt die Wahrheit, wo lauert Lüge? Entlang dieser Bruchkante sortiert sich für die Schauspielerin Elisabeth die Vergangenheit noch einmal neu. Ein "halber Bruder" ist plötzlich aufgetaucht in ihrem Leben, gezeugt von ihrem Vater, nur einen Monat nach ihr selbst. Dieser Paul möchte mehr über den Erzeuger wissen, und Elisabeth schreibt sich in Briefen immer näher an die verhasste, verdrängte Vaterfigur heran: den Abwesenden, den Alkoholiker, dessen Leben an ihr klebt wie eine zweite Haut. An Einen, der nun noch weniger greifbar ist als schon zuvor.
Entwicklungsroman und Krimi stehen Pate für Björn Bickers ersten Roman, "Was wir erben". Am Rande des Romans rechnet er auch mit dem Theater ab. Seine Protagonistin, am Wiener Max-Reinhardt-Seminar ausgebildet und an einem führenden Münchener Haus engagiert, hat eigentlich ihre Nische gefunden: "Ich gehe ins Extrem. Körperlich. Sprachlich. Ich bin für alles zu haben." Nackt, brüllend, improvisierend, vollgeschmiert – ganz gleich. "Ich gelte als furchtlos und angenehm. Unter angenehm verstehen die Leute, dass ich nicht ständig Erklärungen und Begründungen für mein Tun verlange. Die Schlüssigkeit meiner Handlungen auf der Bühne ist mir egal." Bloßer Körper ohne Kopf – ideales Menschenmaterial für Regisseure?
Das ist echt
Der Theaterekel überfällt Elisabeth, die sich zunehmend obsessiv in die Recherchen zum väterlichen Zweitleben vergräbt. Wirkungsloses Als-ob, feige Kunstscheiße – nur raus möchte sie aus dem verlogenen System. Bei einer Probe rauscht sie ungebremst mit ihrer aktuellen Regisseurin Nele zusammen: "Wir spielen irgendein veraltetes Stück und versuchen krampfhaft, dem Ganzen Aktualität und Brisanz einzuprügeln. Aber warum machen wir das? Wann hast du dich das zuletzt gefragt?" Nicht sonderlich originell, die Frage.
Die Vorwürfe, die Bicker seiner Protagonistin in die Briefe schreibt, sind harsch. Hohle Hippness für ein überaltertes Publikum, maximale gesellschaftliche Irrelevanz: Eine Generalabrechnung mit dem Stadttheatersystem, aus der Feder eines Stadttheatermitarbeiters. Von 2001 bis 2009 war Bicker unter Frank Baumbauers Ägide als Dramaturg an den Münchner Kammerspielen engagiert, ab Herbst arbeitet er unter Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Inwieweit Elisabeths Ansichten mit den seinigen übereinstimmen, sei dahingestellt.
Ein performativer Widerspruch ergäbe sich nicht unbedingt, denn Bicker machte sich seinen Namen nicht als Apologet des Regietheaters, sondern als Vorreiter stadttheatraler Umfelderkundungen und sozialer Interventionen. Mit "Bunnyhill" erforschten Bicker und der Regisseur Peter Kastenmüller 2004 das Verhältnis von Stadtzentrum und Peripherie, inszenierte ein Treffen der Münchner Monetenmeile Maximilianstraße mit dem 'Problemviertel' Hasenbergl.
Auch Elisabeths Weg führt vom Theater ins wahre Leben: Sie begegnet in der Geburtsstadt ihres Vaters, Naumburg, dem illegalen Roma Valon. Er verkörpert den Gegenpol zum lügnerischen Theater, dessen Als-Ob auch alles andere in den Verdacht bringt, bloßer Fake zu sein. Valon hat seit Wochen nichts von seiner in den Kosovo abgeschobenen Familie gehört, die nachts von der Polizei geholt wurde und nun in einem fremden Land neben einer Müllkippe haust. "Das sei echt", berichtet eine aufgerüttelte Elisabeth ihrem Bruder.
Eine lebbare Lüge
Doch zur Katharsis führt das Erlebte nicht, die private Rundumrevolution endet in einem leisen, irgendwie sehr deutschen "puff". Die Vergangenheit verpackt Elisabeth zum Schluss in ein rund auserzähltes, handhabbares Bündel: Der Vater hatte es ja auch nicht leicht, ließ seine Jugendliebe – des halben Bruders Mutter! – in der DDR zurück und soff sich als widerwilliger Bundeswehrmajor um die Karriere und das Leben.
Mit einer heilenden Version der Familiengeschichte und ein paar echten Erfahrungen im Gepäck kehrt Elisabeth zurück in ihr altes Dasein. Hinwerfen? Ach was. Sie wählt den Weg der Bürgerstochter, die sie schon immer gerne sein wollte. Mittlerweile schwanger, vielleicht vom One-Night-Stand Valon, vielleicht von ihrem soliden Arztfreund Holger, wird sie sich "irgendwann mit einem dicken Bauch vom Theater verabschieden". Neuer Berufswunsch: Hausfrau und Mutter? Man wundert sich über die kleingeistige Kapitulation vor der Konvention. Elisabeths Pläne klingen nicht nach dem vielbeschworenen wahren Leben, vielmehr verdächtig nach einer lebbaren Lüge.
Wenn diese Existenz und das dazugehörige Buch das literarische Äquivalent zu belangvollem Theater sein sollen, dann ist wahrhaft kein Entkommen aus dem Mittelmaß. Ist es das, was wir verdienen?
Björn Bicker:
Was wir erben
Verlag Antje Kunstmann, München 2013,
280 Seiten, 19.95 Euro
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