Auftauchen, abtauchen

Das Buch beginnt mit der präzisen Auflistung eines Vormittags, die – anonym verfasst im Schrifttyp Courier New, Punktgröße 12 – in Karins Briefkasten liegt. Und es endet auf der Rollbahn, in einem Flugzeug auf dem Weg nach New York. Es ist aber nicht Karin, Karin Hoffmann, die am Ende von Thomas Jonigks dritten Roman im Flugzeug sitzt, sondern Hans Weber. Dazwischen liegen knapp 200 Buchseiten, eine Hand voll Protagonisten, etliche unausgesprochene Gedanken, zahlreiche Traumsequenzen und unzählige Erlebnisebenen.

coverjonigkmelodram"Melodram" hat Jonigk sein Buch genannt und verweist damit auf das rührselige Filmgenre, bei dem der Zuschauer, ob er will oder nicht, früher oder später aufschluchzt und nach Taschentüchern sucht. Um die Gattung genauer zu definieren, wird auch gern von emotionalisierenden Effekten gesprochen, im englischsprachigen Raum heißen diese Art Filme "Tearjerker" (Tränenzieher).

Für Tränen ist Jonigks Erzählweise zu ironisch-distanziert, doch ein Happy End ist auch nicht in Sicht. Höchstens für Hans Weber. Vielleicht muss er aber vor dem Abflug doch noch das Flugzeug verlassen. Das bleibt offen.

Hans Weber, der schmächtige Mitt-Dreißiger, der immer ein Zitat parat hat, tritt erst in der zweiten Hälfte des Romans in Erscheinung. Vorher geht es um Karin Hoffmann, die noch immer mädchenhaft wirkende Schauspielerin, jenseits der 60 und jenseits der Erfolgswelle. Ganze 37 Ehejahre hat sie mit dem selbstverliebten Regisseur Wolfgang verbracht. In stiller Abhängigkeit. Herausgekommen sind: eine abgebrochene Theaterkarriere, einige Hauptrollen in Wolfgangs frühen Filmen und die gemeinsame Tochter Carla.

Karin Hoffmann lebt in Wien. Tags geht sie spazieren, abends manchmal ins Burgtheater, nachts träumt sie viel. Ihr Leben wirkt einsam, verstaubt, bis jene anonymen Briefe sie erreichen. Irgendwann glaubt sie, dass Wolfgang ihr diese Briefe schreibt, sie auf diese Weise in sein neues Drehbuch hineinschreibt. (Auch dessen jüngster, soeben fertiggestellter Film trägt übrigens den Titel "Melodram".) Irgendwann aber entdeckt Karin, dass Wolfgang seit Jahren eine Affäre mit seiner Produzentin Fiona hat. Irgendwann verlangt sie ganz ruhig die Scheidung – "Schluss, sagt sie, ich bin nicht mehr bereit, Teil deines Systems zu sein" – und nur wenige Seiten später erfährt der Leser von Wolfgangs Unfalltod. An den Steilklippen Südfrankreichs. Die Geschichte, die sich gerade in all ihren Facetten klassisch melodramatisch entwickelt hatte, wird abgebrochen. Fällt wie Fionas BMW die Steilklippen hinunter. Unversehens, abrupt. Der Leser stutzt und liest weiter.

Das irritierende und gleichsam Charmante an Jonigks Roman ist, dass er immer wieder unvorhersehbare Haken schlägt. In trockener und dabei sehr genauer Sprache lässt er seine Figuren auf- und wieder abtauchen. Wie ein kluger, beiläufiger Beobachter skizziert er ihre  ambivalenten Begegnungen, ihre ruhigen Gespräche, ihre überraschend brutalen Auseinandersetzungen. Dabei wird ihre Gedankenwelt ihrer Erlebniswelt nahezu ebenbürtig. Und so kommt in der Geschichte um die alternde Schauspielerin Karin H., die später den jugendlichen, aber gewalttätigen Geliebten Hans Weber haben wird, zwar keine Spannung, aber doch jede Menge Sympathie auf mit der verzweifelnden Hauptfigur, die nahezu traumwandlerisch durch die surreale und verlogene Filmbranche irrt.

Jonigk, 1966 geboren, arbeitet als Regisseur  und schreibt seit 1991 Theaterstücke, Libretti, Drehbücher und Romane. Mit "Melodram" gelingt ihm ein zwar sprödes, aber irritierendes Verwirrspiel zwischen Realität und Fiktion, Film und Frau. Sein Ton ist manchmal ein wenig zu sehr dem Theatermilieu verhaftet, zu bildungsbürgerklug. Seine Sprache aber ist präzise, humorvoll-ironisch und von feiner Poesie. Wie durch ein verwinkeltes Spiegelkabinett wird der Leser von einer Ereignisebene in die nächste geführt. Auf der sicheren Seite ist bald keiner mehr – weder Leser noch Figuren: "Ein schwarzes, bauchiges Wolkenfeld schneidet die Sonnenstrahlen ab. Dunkelheit setzt ein. Und Regen. Karin dreht sich um und geht." (Katrin Ullmann)

Thomas Jonigk:
Melodram
Literaturverlag Droschl, Graz 2013, 195 S., 19 Euro

 

Eine narzisstisch gepolte Kaste

Fragt man sich, warum heute so viel weniger Menschen ins Theater gehen als noch vor einhundert Jahren, sind für Kulturpessimisten die Schuldigen immer schnell benannt: Fernsehen, Kino und Internet, die als diabolische Triade die Massenverblödung unaufhörlich vorantreiben. Dass der Theaterbetrieb selbst daran seinen Anteil hat, wird selten moniert. Und doch vertrieben auch dessen strukturelle Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte die Massen aus den Schauspielhäusern. Der Soziologe Denis Hänzi hat sich in seiner Dissertation jetzt mit eben diesen Neuerungsprozessen am Beispiel des Regie-Berufs beschäftigt.

coverhaenziordnungIn seinem Buch "Die Ordnung des Theaters" zeichnet er jenen Wandel nach, innerhalb dessen das deutschsprachige Theater sukzessive immer elitärer, immer selbstreferenzieller geworden sei und sich zu einer "dominant männlich codierten", auf Selbstoptimierung abzielenden "Erfolgskultur" entwickelt habe, die sich in Vollendung in einer neuen Rolle der narzisstisch gepolten Kaste der "namhaften Regisseure" spiegele. Sie seien es, die den Theaterbetrieb mit einem "beachtlichen Beharrungsvermögen" zu einer exklusiven Veranstaltung gemacht haben und dem Publikum heute nicht mehr nur abverlangen, den gesamten Dramenkanon parat zu haben, sondern auch zu wissen, von wem welche Inszenierung stamme und wie diese sich zu früheren Inszenierungen anderer Regisseure verhalten.

Wie es dazu kommen konnte, lässt sich aus Hänzis wohldosiertem Methodenmix aus diskurshistorischer Analyse und berufsbiographischen Interviews einleuchtend erschließen. Auch wenn der Kabarettist Rainald Grebe in einem seiner Lieder die von konservativer Seite so gerne geschwungene "Die 68er sind an allem Schuld"-Keule zu Recht persifliert, nimmt der Paradigmenwechsel gerade bei ihnen seinen Anfang, weil der Betrieb im Zuge der Durchsetzung des Regietheaters "ab den 1960er Jahren zusehends von der Vermittlungsinstanz des literarischen Bildungskanons hin zum Ort neuer ästhetischer Erfahrungen und kulturell-politischer Reflexionen" avanciert sei. Regisseure, so Hänzi, wollen seitdem als eigenkreative Künstler wahrgenommen werden.

Die Folge: Aufmerksamkeitsökonomische Aspekte gewännen rasant an Bedeutung, während formale Aspekte zunehmend die Inhalte verdrängten. Praktiziert werden Inszenierungen nunmehr als "ernste Spiele des Wettbewerbs". Regisseure müssen demnach "stets jung und flexibel" sein, ihre "Karrieren rasant" verlaufen und sie haben ein "persönliches Charisma" herauszubilden in einer sich durch prekäre Arbeitsbedingungen auszeichnenden "Anerkennungskultur der Bewunderung". Permanent konkurrieren sie in häufig von großen Unternehmen gesponserten Regietalent-Wettbewerben um die Gunst der saturierten Regiegurus, die durch Heben und Senken des Daumens eine inzestuöse Rekrutierungsmaschinerie am Laufen halten, die zeigt: Die "Ordnung des Theaters" ist so strukturiert, dass die Masse gar nicht ins Theater zurückkommen soll. Die selbst ernannte Elite will einfach unter sich bleiben. (Christian Baron)

 

Denis Hänzi:
Die Ordnung des Theaters. Eine Soziologie der Regie.
Transcript Verlag, Bielefeld 2013, 454 S., 32,80 Euro.

 

Beeindruckend gerecht

Frank-Patrick Steckel hat, mit Unterstützung des Laugwitz-Verlags, im letzten Jahr ein ehrgeiziges Shakespeareprojekt begonnen: "Steckels Shake-Speare", die Übersetzung von insgesamt zwölf Tragödien, Komödie und Historien des Klassikers. Dass der ehemalige Bremer und Bochumer Intendant sich hervorragend mit Shakespeare auskennt, ist spätestens seit der Einladung seiner Inszenierung von "Timon von Athen" zum Theatertreffen 1991 bekannt.

coversteckelmacbethDiese Tragödie bildete auch den Auftakt für sein Übersetzungsvorhaben, jetzt folgte "Macbeth“. Was aber leistet die Ausgabe, so dass sie für den Shakespeare-Interessierten reizvoll sein kann? Es ist sicherlich nicht der Umstand, dass die Bände bemerkenswert günstig sind und dass von "Timon von Athen" aktuell gar keine anständige deutsche Einzelausgabe vorliegt.

Die Ausgabe ist zweisprachig im Paralleldruck: Links steht der englische Text nach dem Erstdruck, rechts Steckels Übersetzung. Modernisiert ist das Original nicht, was die präzise Auseinandersetzung mit ihm natürlich enorm erleichtert. Uwe Laugwitz nennt im Nachwort zu "Timon von Athen" dieses Vorgehen eine "originalgetreue Editionspraxis" und vergleicht sie mit der bei "Hölderlin, Kleist, Kafka".

Das ist dem Anspruch nach vielleicht etwas gewagt. Denn zumindest der manch einem Leser pedantisch anmutenden, auf jeden Fall aber akribisch nachahmenden Editionspraxis des Stroemfeld-Verlags, auf die der Hinweis anspielen dürfte, wird die Ausgabe nicht gerecht. Zwar ahmt sie den Zeilenumbruch der Versrede nach, sogar wenn dadurch der Vers selbst abgebrochen wird (was also den weniger an formalen, denn an literarischen Fragen interessierten Leser durchaus kurz irritieren mag). Andererseits ist der englische Text, wen wundert's, nicht zweispaltig gesetzt wie der Erstdruck, Großbuchstaben werden nicht konsequent nach der Vorlage gesetzt. Hier ist die Ausgabe ein wenig pragmatischer als etwa die Kleist-Edition von Roland Reuß und Peter Staengle. Aber ist das schlimm? Vielleicht für Erbsenzähler, nicht aber für die, die sich Shakespeare neu oder erneut erlesen möchten.

Denn die Ausgabe ist schließlich nicht in Leinen gebunden, um in Bibliotheken auf Leser zu warten, sondern für die Auseinandersetzung hier und heute. Sie lädt ein zur Beschäftigung mit dem Original, indem sie es unkompliziert präsentiert. Und vor allem bietet sie eine Übersetzung, die der Vorlage beeindruckend gerecht wird. Sie ist weit prägnanter als die in Deutschland weiterhin kanonische Tieck-Übersetzung. Das gilt nicht nur für die Wortwahl, sondern auch für den Umgang mit dem Vers, der zumal bei "Timon von Athen" eine Herausforderung ist, weil er wiederholt rau und unregelmäßig ist. Ergänzend liefert das Nachwort wichtige Hinweise zu Shakespeares Vorlagen und zur Überlieferungsgeschichte.

Das macht sie teilweise arg prägnant, so dass der mit der Forschung weniger vertraute Leser das eine oder andere nachschlagen muss. Aber dieses Vorgehen ist nicht weiter schlimm, denn es zeigt, was für ein Bild Steckel und Laugwitz vom Leser ihrer Ausgabe haben. Sie setzen konsequent auf einen neugierigen Leser und nicht auf einen, dem man alles in hübsch verpackten Happen servieren muss. Editionsvorhaben sind häufig entweder eine Angelegenheit für wenige Spezialisten, die sich erst mit viel Aufwand in die Edition einarbeiten müssen, oder andererseits ein Buchprojekt, das so tut, als habe man es mit Bewohnern einer Einrichtung für betreutes Lesen zu tun. Steckel macht beides nicht und findet so genau das richtige Maß zwischen den beiden gängigen Extremen. Das ist sehr zu begrüßen.

Wie sehr er Übersetzungen für die Gegenwart anfertigt, zeigt ebenso seine "Macbeth Tragödie", die er vor knapp vier Jahren in Bremen selbst auf die Bühne gebracht hat. Michael Laages hat die Übersetzung damals schon präzise beschrieben. Nun kann sich endlich ein breites Publikum von ihr überzeugen. Aktuell dominiert weiterhin die von Thomas Brasch die Theaterlandschaft. Sie ist von 1990. Experimentierfreudigere Regisseure greifen sogar zu der freieren Übertragung Heiner Müllers aus den frühen 70er Jahren. Die "Macbeth Tragödie" hat das Zeug, beide herauszufordern.

"You shall be King", möchte man Steckel mit Banquo zurufen. Dass hier jedoch besser geschwiegen wird, liegt schlicht daran, dass Steckel sogleich die Ambivalenz des Lobes klar wäre. (Kai Bremer)

 

Steckels Shake-Speare

William Shakespeare:
The Tragedie of Macbeth. Die Macbeth Tragödie, 217 S.
William Shakespeare:
The Life of Tymon of Athens. Timon aus Athen. 246 S.

Laugwitz Verlag, Buchholz in der Nordheide, 2013, je 13 Euro

 

 

Auftauchen, abtauchen

Das Buch beginnt mit der präzisen Auflistung eines Vormittags, die – anonym verfasst im Schrifttyp Courier New, Punktgröße 12 – in Karins Briefkasten liegt. Und es endet auf der Rollbahn, in einem Flugzeug auf dem Weg nach New York. Es ist aber nicht Karin, Karin Hoffmann, die am Ende von Thomas Jonigks dritten Roman im Flugzeug sitzt, sondern Hans Weber. Dazwischen liegen knapp 200 Buchseiten, eine Hand voll Protagonisten, etliche unausgesprochene Gedanken, zahlreiche Traumsequenzen und unzählige Erlebnisebenen.

coverjonigkmelodram"Melodram" hat Jonigk sein Buch genannt und verweist damit auf das rührselige Filmgenre, bei dem der Zuschauer, ob er will oder nicht, früher oder später aufschluchzt und nach Taschentüchern sucht. Um die Gattung genauer zu definieren, wird auch gern von emotionalisierenden Effekten gesprochen, im englischsprachigen Raum heißen diese Art Filme "Tearjerker" (Tränenzieher).

Für Tränen ist Jonigks Erzählweise zu ironisch-distanziert, doch ein Happy End ist auch nicht in Sicht. Höchstens für Hans Weber. Vielleicht muss er aber vor dem Abflug doch noch das Flugzeug verlassen. Das bleibt offen.

Hans Weber, der schmächtige Mitt-Dreißiger, der immer ein Zitat parat hat, tritt erst in der zweiten Hälfte des Romans in Erscheinung. Vorher geht es um Karin Hoffmann, die noch immer mädchenhaft wirkende Schauspielerin, jenseits der 60 und jenseits der Erfolgswelle. Ganze 37 Ehejahre hat sie mit dem selbstverliebten Regisseur Wolfgang verbracht. In stiller Abhängigkeit. Herausgekommen sind: eine abgebrochene Theaterkarriere, einige Hauptrollen in Wolfgangs frühen Filmen und die gemeinsame Tochter Carla.

Karin Hoffmann lebt in Wien. Tags geht sie spazieren, abends manchmal ins Burgtheater, nachts träumt sie viel. Ihr Leben wirkt einsam, verstaubt, bis jene anonymen Briefe sie erreichen. Irgendwann glaubt sie, dass Wolfgang ihr diese Briefe schreibt, sie auf diese Weise in sein neues Drehbuch hineinschreibt. (Auch dessen jüngster, soeben fertiggestellter Film trägt übrigens den Titel "Melodram".) Irgendwann aber entdeckt Karin, dass Wolfgang seit Jahren eine Affäre mit seiner Produzentin Fiona hat. Irgendwann verlangt sie ganz ruhig die Scheidung – "Schluss, sagt sie, ich bin nicht mehr bereit, Teil deines Systems zu sein" – und nur wenige Seiten später erfährt der Leser von Wolfgangs Unfalltod. An den Steilklippen Südfrankreichs. Die Geschichte, die sich gerade in all ihren Facetten klassisch melodramatisch entwickelt hatte, wird abgebrochen. Fällt wie Fionas BMW die Steilklippen hinunter. Unversehens, abrupt. Der Leser stutzt und liest weiter.

Das irritierende und gleichsam Charmante an Jonigks Roman ist, dass er immer wieder unvorhersehbare Haken schlägt. In trockener und dabei sehr genauer Sprache lässt er seine Figuren auf- und wieder abtauchen. Wie ein kluger, beiläufiger Beobachter skizziert er ihre  ambivalenten Begegnungen, ihre ruhigen Gespräche, ihre überraschend brutalen Auseinandersetzungen. Dabei wird ihre Gedankenwelt ihrer Erlebniswelt nahezu ebenbürtig. Und so kommt in der Geschichte um die alternde Schauspielerin Karin H., die später den jugendlichen, aber gewalttätigen Geliebten Hans Weber haben wird, zwar keine Spannung, aber doch jede Menge Sympathie auf mit der verzweifelnden Hauptfigur, die nahezu traumwandlerisch durch die surreale und verlogene Filmbranche irrt.

Jonigk, 1966 geboren, arbeitet als Regisseur  und schreibt seit 1991 Theaterstücke, Libretti, Drehbücher und Romane. Mit "Melodram" gelingt ihm ein zwar sprödes, aber irritierendes Verwirrspiel zwischen Realität und Fiktion, Film und Frau. Sein Ton ist manchmal ein wenig zu sehr dem Theatermilieu verhaftet, zu bildungsbürgerklug. Seine Sprache aber ist präzise, humorvoll-ironisch und von feiner Poesie. Wie durch ein verwinkeltes Spiegelkabinett wird der Leser von einer Ereignisebene in die nächste geführt. Auf der sicheren Seite ist bald keiner mehr – weder Leser noch Figuren: "Ein schwarzes, bauchiges Wolkenfeld schneidet die Sonnenstrahlen ab. Dunkelheit setzt ein. Und Regen. Karin dreht sich um und geht." (Katrin Ullmann)

Thomas Jonigk:
Melodram
Literaturverlag Droschl, Graz 2013, 195 S., 19 Euro

 

Eine narzisstisch gepolte Kaste

Fragt man sich, warum heute so viel weniger Menschen ins Theater gehen als noch vor einhundert Jahren, sind für Kulturpessimisten die Schuldigen immer schnell benannt: Fernsehen, Kino und Internet, die als diabolische Triade die Massenverblödung unaufhörlich vorantreiben. Dass der Theaterbetrieb selbst daran seinen Anteil hat, wird selten moniert. Und doch vertrieben auch dessen strukturelle Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte die Massen aus den Schauspielhäusern. Der Soziologe Denis Hänzi hat sich in seiner Dissertation jetzt mit eben diesen Neuerungsprozessen am Beispiel des Regie-Berufs beschäftigt.

coverhaenziordnungIn seinem Buch "Die Ordnung des Theaters" zeichnet er jenen Wandel nach, innerhalb dessen das deutschsprachige Theater sukzessive immer elitärer, immer selbstreferenzieller geworden sei und sich zu einer "dominant männlich codierten", auf Selbstoptimierung abzielenden "Erfolgskultur" entwickelt habe, die sich in Vollendung in einer neuen Rolle der narzisstisch gepolten Kaste der "namhaften Regisseure" spiegele. Sie seien es, die den Theaterbetrieb mit einem "beachtlichen Beharrungsvermögen" zu einer exklusiven Veranstaltung gemacht haben und dem Publikum heute nicht mehr nur abverlangen, den gesamten Dramenkanon parat zu haben, sondern auch zu wissen, von wem welche Inszenierung stamme und wie diese sich zu früheren Inszenierungen anderer Regisseure verhalten.

Wie es dazu kommen konnte, lässt sich aus Hänzis wohldosiertem Methodenmix aus diskurshistorischer Analyse und berufsbiographischen Interviews einleuchtend erschließen. Auch wenn der Kabarettist Rainald Grebe in einem seiner Lieder die von konservativer Seite so gerne geschwungene "Die 68er sind an allem Schuld"-Keule zu Recht persifliert, nimmt der Paradigmenwechsel gerade bei ihnen seinen Anfang, weil der Betrieb im Zuge der Durchsetzung des Regietheaters "ab den 1960er Jahren zusehends von der Vermittlungsinstanz des literarischen Bildungskanons hin zum Ort neuer ästhetischer Erfahrungen und kulturell-politischer Reflexionen" avanciert sei. Regisseure, so Hänzi, wollen seitdem als eigenkreative Künstler wahrgenommen werden.

Die Folge: Aufmerksamkeitsökonomische Aspekte gewännen rasant an Bedeutung, während formale Aspekte zunehmend die Inhalte verdrängten. Praktiziert werden Inszenierungen nunmehr als "ernste Spiele des Wettbewerbs". Regisseure müssen demnach "stets jung und flexibel" sein, ihre "Karrieren rasant" verlaufen und sie haben ein "persönliches Charisma" herauszubilden in einer sich durch prekäre Arbeitsbedingungen auszeichnenden "Anerkennungskultur der Bewunderung". Permanent konkurrieren sie in häufig von großen Unternehmen gesponserten Regietalent-Wettbewerben um die Gunst der saturierten Regiegurus, die durch Heben und Senken des Daumens eine inzestuöse Rekrutierungsmaschinerie am Laufen halten, die zeigt: Die "Ordnung des Theaters" ist so strukturiert, dass die Masse gar nicht ins Theater zurückkommen soll. Die selbst ernannte Elite will einfach unter sich bleiben. (Christian Baron)

 

Denis Hänzi:
Die Ordnung des Theaters. Eine Soziologie der Regie.
Transcript Verlag, Bielefeld 2013, 454 S., 32,80 Euro.

 

Beeindruckend gerecht

Frank-Patrick Steckel hat, mit Unterstützung des Laugwitz-Verlags, im letzten Jahr ein ehrgeiziges Shakespeareprojekt begonnen: "Steckels Shake-Speare", die Übersetzung von insgesamt zwölf Tragödien, Komödie und Historien des Klassikers. Dass der ehemalige Bremer und Bochumer Intendant sich hervorragend mit Shakespeare auskennt, ist spätestens seit der Einladung seiner Inszenierung von "Timon von Athen" zum Theatertreffen 1991 bekannt.

coversteckelmacbethDiese Tragödie bildete auch den Auftakt für sein Übersetzungsvorhaben, jetzt folgte "Macbeth“. Was aber leistet die Ausgabe, so dass sie für den Shakespeare-Interessierten reizvoll sein kann? Es ist sicherlich nicht der Umstand, dass die Bände bemerkenswert günstig sind und dass von "Timon von Athen" aktuell gar keine anständige deutsche Einzelausgabe vorliegt.

Die Ausgabe ist zweisprachig im Paralleldruck: Links steht der englische Text nach dem Erstdruck, rechts Steckels Übersetzung. Modernisiert ist das Original nicht, was die präzise Auseinandersetzung mit ihm natürlich enorm erleichtert. Uwe Laugwitz nennt im Nachwort zu "Timon von Athen" dieses Vorgehen eine "originalgetreue Editionspraxis" und vergleicht sie mit der bei "Hölderlin, Kleist, Kafka".

Das ist dem Anspruch nach vielleicht etwas gewagt. Denn zumindest der manch einem Leser pedantisch anmutenden, auf jeden Fall aber akribisch nachahmenden Editionspraxis des Stroemfeld-Verlags, auf die der Hinweis anspielen dürfte, wird die Ausgabe nicht gerecht. Zwar ahmt sie den Zeilenumbruch der Versrede nach, sogar wenn dadurch der Vers selbst abgebrochen wird (was also den weniger an formalen, denn an literarischen Fragen interessierten Leser durchaus kurz irritieren mag). Andererseits ist der englische Text, wen wundert's, nicht zweispaltig gesetzt wie der Erstdruck, Großbuchstaben werden nicht konsequent nach der Vorlage gesetzt. Hier ist die Ausgabe ein wenig pragmatischer als etwa die Kleist-Edition von Roland Reuß und Peter Staengle. Aber ist das schlimm? Vielleicht für Erbsenzähler, nicht aber für die, die sich Shakespeare neu oder erneut erlesen möchten.

Denn die Ausgabe ist schließlich nicht in Leinen gebunden, um in Bibliotheken auf Leser zu warten, sondern für die Auseinandersetzung hier und heute. Sie lädt ein zur Beschäftigung mit dem Original, indem sie es unkompliziert präsentiert. Und vor allem bietet sie eine Übersetzung, die der Vorlage beeindruckend gerecht wird. Sie ist weit prägnanter als die in Deutschland weiterhin kanonische Tieck-Übersetzung. Das gilt nicht nur für die Wortwahl, sondern auch für den Umgang mit dem Vers, der zumal bei "Timon von Athen" eine Herausforderung ist, weil er wiederholt rau und unregelmäßig ist. Ergänzend liefert das Nachwort wichtige Hinweise zu Shakespeares Vorlagen und zur Überlieferungsgeschichte.

Das macht sie teilweise arg prägnant, so dass der mit der Forschung weniger vertraute Leser das eine oder andere nachschlagen muss. Aber dieses Vorgehen ist nicht weiter schlimm, denn es zeigt, was für ein Bild Steckel und Laugwitz vom Leser ihrer Ausgabe haben. Sie setzen konsequent auf einen neugierigen Leser und nicht auf einen, dem man alles in hübsch verpackten Happen servieren muss. Editionsvorhaben sind häufig entweder eine Angelegenheit für wenige Spezialisten, die sich erst mit viel Aufwand in die Edition einarbeiten müssen, oder andererseits ein Buchprojekt, das so tut, als habe man es mit Bewohnern einer Einrichtung für betreutes Lesen zu tun. Steckel macht beides nicht und findet so genau das richtige Maß zwischen den beiden gängigen Extremen. Das ist sehr zu begrüßen.

Wie sehr er Übersetzungen für die Gegenwart anfertigt, zeigt ebenso seine "Macbeth Tragödie", die er vor knapp vier Jahren in Bremen selbst auf die Bühne gebracht hat. Michael Laages hat die Übersetzung damals schon präzise beschrieben. Nun kann sich endlich ein breites Publikum von ihr überzeugen. Aktuell dominiert weiterhin die von Thomas Brasch die Theaterlandschaft. Sie ist von 1990. Experimentierfreudigere Regisseure greifen sogar zu der freieren Übertragung Heiner Müllers aus den frühen 70er Jahren. Die "Macbeth Tragödie" hat das Zeug, beide herauszufordern.

"You shall be King", möchte man Steckel mit Banquo zurufen. Dass hier jedoch besser geschwiegen wird, liegt schlicht daran, dass Steckel sogleich die Ambivalenz des Lobes klar wäre. (Kai Bremer)

 

Steckels Shake-Speare

William Shakespeare:
The Tragedie of Macbeth. Die Macbeth Tragödie, 217 S.
William Shakespeare:
The Life of Tymon of Athens. Timon aus Athen. 246 S.

Laugwitz Verlag, Buchholz in der Nordheide, 2013, je 13 Euro

 

 

mehr bücher