Kinderbilderbuch-Beerdigung

von Werner Thuswaldner

Salzburg, 20. Juli 2013. Schon Wochen vor der Premiere war in Salzburg und darüber hinaus zu spüren, wie hoch die Erwartungen an die neue Inszenierung von Hofmannsthals "Jedermann" waren. Das hat einerseits mit der großen Tradition zu tun, andrerseits aber auch mit einer Theaterbegeisterung, die kindliche Züge hat. Nach der Premiere heißen die dringenden Fragen: Wie ist er nun, der neue "Jedermann"? Hat er die Kraft, dass er sich über etliche Sommer hinweg im Repertoire der Festspiele wird halten können?

Zumal die Unsicherheiten, das Risiko, diesmal doch ganz besonders hoch waren. Man denke: zwei fremdsprachige "Ausländer", ein Engländer und ein Amerikaner, als Regisseure! Kann das gut gehen? Verstehen die überhaupt was von unserem alten Jedermann? Wissen die, wie der vor der Kulisse des Salzburger Doms sterben muss?

Mittelalterliches Kinderbuch

Als Zuschauer hat man das Gefühl, als würde ein Kinderbuch vor einem aufgeschlagen, das uns in starken Bildern eine alte Geschichte erzählt. Auf den Stufen der Bühne stehen Modelle mittelalterlicher Stadthäuser und links kündigt sich mit Musik und Lärm eine Menge von Spielern an, die sich gleich auf die Szene drängen wollen. Und dann kommen sie endlich in einem langen Zug auf die Bühne, ein buntes Volk, und unter ihnen viele Gestalten die große, groteske Masken tragen, mit kleinen Hörnern, Gnome, wie aus riesigen Kartoffeln geschnitzt. Hier schlägt die verspielte Fantasie von Brian Crouch durch. Sie bestimmt nachhaltig mit ihren skurrilen, ernsten und witzigen Puppen und Figuren die Bildeindrücke der Inszenierung.

jedermann1 560 salzburger festspiele forster u Die Masken des Brian Crouch  © Forster

Zunächst muss sich das Auge in diesen Wimmelbildern zurecht finden. Einer erklärt, das es nun gleich ein bedenkenswertes Spiel zu sehen geben werde. Das trifft genau den Punkt. Die ganze Zeit über bleibt der Eindruck bestehen, dass es um ein Spiel geht. Eine große, bunte Spielgemeinschaft führt etwas vor, zeigt etwas her. Das Publikum taucht nicht durchgehend in eine Illusion ein, sondern erlebt, wie ihm im besten Sinn etwas "vorgemacht" wird.

Biegsamer Tod, differenzierter Jedermann

Das Getümmel beruhigt sich schlagartig, alle gehen in die Knie und beugen den Kopf zum Boden, als ein junger Mensch (Florentina Rucker) die Worte des "Herrn" spricht, der über die Art, wie er missachtet wird, verärgert ist. An dem reichen, selbstsicheren Jedermann will er ein Exempel statuieren und zeigen, wie prekär ein Menschenleben ist. Dafür wird die Figur des Todes sein Handlanger sein. Seltsame Figur dieser Tod, gespielt von Peter Lohmeyer: groß, ganz in weiß, schlank und biegsam und die Stimme hoch und eindringlich.

Und der neue Jedermann, Cornelius Obonya? Viele sagten im Vorhinein: Da seinerzeit schon sein Großvater, Attila Hörbiger, diese Rolle mit Bravour gespielt hat, wird es der Enkel auch können. Die simple Wahrheit trifft zu. Obonya zeigt einen differenzierten Charakter. Dem Armen Nachbarn (Johannes Silberschneider) gegenüber gibt er sich als schäbiger Knauserer, aber nicht gänzlich unmenschlich. Er ist vom tiefen Glauben an die Macht des Geldes beherrscht. Das bekommen auch der Schuldknecht (Fritz Egger) und dessen Familie zu spüren. Sehr schwer fällt diesem Jedermann daher später die "Umschulung" auf eine transzendentere Art des Glaubens, wenn er einsehen muss, das seine Tage gezählt sind.

jedermann4 280 salzburger festspiele forster uPeter Lohmeyer spielt den Tod  © ForsterFrivol, aber nicht nur

Zunächst aber genießt er sein Leben, kräftig unterstützt von seinem windigen Guten Gesellen (Patrick Güldenberg). Seine Buhlschaft (Brigitte Hobmeier) radelt daher, umkurvt den Jedermann immer wieder und tobt an ihm ihren Übermut aus. Sie bringt Schwung in die Szene, wechselt flink die Garderobe und dominiert dann mit einem feuerroten Rock das Bild. Eine frivole Person, aber nicht nur. Zwischendurch spricht sie in getragenem Ton ganz ernste Sätze. Während es den Jedermann vor Angst schüttelt, weil er von allen Seiten schauerliche Stimmen seinen Namen rufen hört. Und dann versetzt ihn der Tod, der plötzlich das riesige weiße Tischtuch der Festgesellschaft hinter sich herzieht, in totalen Schrecken.

Einer der Höhepunkte ist der Auftritt des Mammon (Jürgen Tarrach), der als monströse Puppe mit aufklappbarem Maul aus einer Kiste kommt. Heraus springt der eigentliche Mammon, der sich als buchstäblicher Geldscheißer aufführt. Jedermanns Vettern, der Dicke (Hannes Flaschberger) und der Dünne (Stephan Kreiss) führen sich so grotesk auf, wie es diese beiden Figuren schon seit über 90 Jahren tun.

Jedermanns Gute Werke (Sarah Viktoria Frick) sind zunächst eine kleine, hilflose Puppe. Der Glaube (Hans Peter Hallwachs) sitzt hoch oben und spricht von dort seine frommen Sätze herab. Jedermann fängt vor lauter Reue an zu heulen und führt mit dem Ensemble, bevor es ans Sterben geht, einen furiosen Totentanz auf. Der Teufel (Simon Schwarz), jedermann3 280 salzburger festspiele forster uBuhlschaft Brigitte Hobmeier ©  Forsterder ihn holen will, blitzt ab, im Inneren des Doms wird es hell, die Erlösung nimmt ihren Lauf, ein kleines kitschiges Engelchen-Ensemble macht die Musik dazu.

Haltbar

Ja, dieser "Jedermann" wird sich halten können. Die beiden Ausländer, der Amerikaner Brian Mertes und der Engländer Julian Crouch, erweisen sich als Bewahrer und als Neuerer zugleich. Sie springen mit der Vorlage nicht so skrupellos um, wie das andere Regisseure vor ihnen schon getan haben.

Am Schluss zeigen die beiden Regisseure noch einmal ihr Einfühlungsvermögen, mit dem sie eine ungewohnte Sehweise auf den alten Stoff ermöglichen. Sie gestalten ihn als Jedermanns Beerdigung. In einem langen Zug geht die gesamte Spielgemeinschaft an seiner Leiche vorbei und wirft Erde auf den Toten. Alle sind dabei, der Schuldknecht, der Teufel, die Kinder und auch die Buhlschaft. Die Trauermusik gewinnt an Rhythmus, und die Gesellschaft löst sich beschwingt auf, weil das Leben weitergeht.

 

Jedermann – Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes
von Hugo von Hofmannsthal
Regie: Julian Crouch und Brian Mertes, Bühne: Julian Crouch, Kostüme: Olivera Gajic, Dramaturgie: David Tushingham, Musikalische Leitung/Orchestrierung: Martin Lowe, Choreografie: Jesse J. Perez.
Mit: Cornelius Obonya, Brigitte Hobmeier, Peter Lohmeyer, Simon Schwarz, Sarah Viktoria Frick, Hans Peter Hallwachs, Jürgen Tarrach, Julia Gschnitzer, Patrick Güldenberg, Hannes Flaschberger, Stephan Kreiss, Fritz Egger, Katharina Stemberger, Johannes Silberschneider, Sigrid Maria Schnückel, Florentina Rucker, Stephan Kreiss, Hannes Flaschberger, und Tamzin Griffin, Doris Kirschhofer, Saskia Lane, Chad Lynch, Orlando Pabotoy, Jesse J. Perez, Penelope Scheidler, Robert Thirtle.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.salzburgerfestspiele.at

 

Alles über die Salzburger Festspiele auf nachtkritik.de im entsprechenden Lexikoneintrag.

 

Kritikenrundschau

Einen "Triumph" vermeldet Norbert Mayer in der Wiener Tageszeitung Die Presse (22.7.2013). Die Rückführung des Stoffes in die Gründerjahre des Salzburger Festspiele aber auch ins mittelalterliche Mysterienspiel ist aus seiner Sicht bestens gelungen: "ein Theaterabend mit beeindruckender Bildsprache, ausreichend Ernst im zuweilen ausgelassenen Spiel und vor allem mit einem wunderbaren Ensemble". In Serie erzeugten Crouch und Mertes "mächtige Bilder". Vor allem aber wurde das Paar im Mittelpunkt ideal gewählt: Cornelius Obonya in der Titelrolle und Brigitte Hobmeier als Buhlschaft, die das Maximum aus der beschränkten Rolle heraushole.

"Den Jedermann gibt es zum spirituell verbilligten Tarif", schreibt Ronald Pohl im Wiener Standard (22.7.2013). Denn dessen neue, kunstgewerbliche und vor allem müde Darbietung sei ein Leichtprodukt: "Die Fettanteile sind radikal gesunken". Man müsse den lieben Gott nicht mehr fürchten. Neuinszenierungen des Salzburger 'Jedermann' sind aus Sicht dieses Kritikers heikel wie Kirchenreformen. "Im 'Spiel vom Sterben des reichen Mannes' steckt ein Glaubensinhalt. Wer diesen leugnet, sollte das Spektakel am Domplatz nicht generalüberholen, sondern absagen: 'Wegen Atheismus geschlossen!' Die Neuinszenierungen von Brian Mertes und Julian Crouch gleiche daher der Verabreichung von Beruhigungspillen. "Man kann die Entsühnung des Jedermann für unangemessen und heuchlerisch halten. Man muss deshalb auf den Genuss noch nicht verzichten." Aber man müsse auch den lieben Gott nicht mehr fürchten. Cornelius Obonya in der Titelrolle lege seine Figur viel zu durchschnittlich an und sei eine "luxuriöse Fehlbesetzung".

Allerlei "entzückend mobide" Ideen bescheinigt Martin Lhotzky in der FAZ (22.7.2013) dieser Neueinstudierung. Am Domplatz des Jahres 2013 sei es bunt wie lange nicht. Man bekomme viel zu sehen und könne so auch ein wenig den gestelzten Text vergessen. Speziell Peter Lohmeyers nosferatuhafter und Leichen über die Bühne schleppender Tod wird hervorgehoben. Cornelius Obonya, "Enkel mütterlicherseits des Vor- und Nachkriegs-Jedermannes Attila Hörbiger", gewinne dem Stutzer Jedermann so viele menschliche Seiten ab, wie der Knitteltext es zulasse. Der Abend beginne mit einem "Prozession genannten Einmarsch aller Akteure und Aktricen," die Lhotzky an einen Beerdigungszug in New Orleans erinnert: "Riesenmasken, Umzüge, grelle Feiergäste, tanzende Teufelchen – man merkt, dass sich Crouch sonst hauptberuflich um die Gattung Musical verdient macht und als Ausstatter Gliederpuppen baut, während Mertes Erfahrung mit Freilufttheater einbringt."

"So beeindruckend viele Bilder, so erfreuliche viele Details", für Hedwig Kainberger von den Salzburger Nachrichten (22.7.2013) hat dieser neue 'Jedermann' auch zwei Schwächen: Es gelingt der Inszenierung aus Sicht der Kritikerin nicht durchgehend, "die schauspielerischen Einzelleistungen zu einem szenischen Miteinander zu verschmelzen". So bleibe zum Beispiel die Tischgesellschaft nur Staffage. Auch die letzten Szenen über die großen Fragen am Lebensende "Warum Gnade? Warum Erlösung?" würden belanglos, "noch dazu begleitet von einer kitschigen Musik zum Träumen. Doch diese Einwände schwächen nur geringfügig das Gesamturteil: ein gelungener neuer 'Jedermann'."

Von einem "heftig akklamierten" und "tatsächlich" neuen Salzburger "Jedermann" berichtet eine begeisterte Karin Fischer in der Sendung "Kultur heute" im Deutschlandfunk (21.7.2013). "Julian Crouch und Brian Mertes ist das Kunststück gelungen, dem 'Spiel vom Sterben des reichen Mannes' den religiösen Rahmen zurück zu geben, ohne einen religiösen Zeigefinger zu heben." Denn hier sei "weniger heiliger Ernst als ernsthafter Kinderglaube im Spiel". Das Regieteam begegne dem Autor Hofmannsthal mit "zauberisch einfachen Mitteln" und gebe "dem Spiel gleichzeitig wieder eine neue Mitte: Weg von der überbordenden Feier des Lebens hin zu der echten Zumutung – dass ein Mensch brutal und vor der Zeit aus dem Leben geholt wird."

Als "melancholischer Spaß am menschlichen Abgrund" erscheint dieser "Jedermann" Paul Jandl von der Welt (22.7.2013). Er sei "die Verweltlichung eines Mysterienspiels" und dabei "durchbrochen mit Zitaten und Anspielungen", sodass "ein barocker Vanitas-Spaß" entstehe. "Den allegorischen Firlefanz nehmen die beiden Regisseure nur soweit ernst, als sich daraus poetische Bilder schlagen lassen, und wenn sie es tun, wird diese Inszenierung zum großen Kino." An den besten Stellen vergesse man "Hofmannsthals geknittelte Verse, seine morbide Moral und die dröge Handlung". Fazit: "Wenn es Brian Mertes und Julian Crouch um schlichte Unmittelbarkeit gegangen ist, dann haben sie dieses Ziel erreicht, und den 'Jedermann' auf eine Wiese entstaubt, die für Salzburger Verhältnisse atemberaubend zu nennen ist."

Einen "neuen 'Jedermann', einen richtig neuen, gegenüber dem der alte von Stückl von theologischem Hadern durchzogen wirkt", hat Egbert Tholl für die Süddeutsche Zeitung (22.7.2013) erlebt und zeigt sich zugleich "verblüfft über die monströse Naivität der Inszenierung": "Am Ende muss Jedermann nur 'ich glaube' brüllen, und seine Sache ist geritzt. Dafür das ganze, letztlich ironie- wie deutungsfreie Brimborium?" Bei allem Lob für einzelne Schauspielleistungen (Hobmeier, Frick, Schwarz, Kreiss) und Kritik für den Jedermann von Obonya zeigt sich der Rezensent vor allem vom Premierenjubel erstaunt: "Mit all dem wird erzählt, was dasteht, als wäre Hofmannsthals Text eine der letzten Weisheiten der Menschheitsgeschichte. Natürlich steht da viel Allgemeingültiges drin, aber wie banal sind diese Erkenntnisse. Nackt und bloß aufgesagt, wirken sie nur noch öde, zumal Crouch offenbar zu sehr mit seiner Ausstattung beschäftigt war, um sich um die Schauspieler zu kümmern."

 

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