Glücksfee Angela Merkel und das EU-Theater

von Reinhard Kriechbaum

Salzburg, 1. August 2013. Trau bloß keiner Glücksfee, die aussieht wie Angela Merkel! In deren Outfit stöckelt Maria Happel als Fortuna daher und legt abwartend die Finger zum Karo. Sie plädiert dafür, die größten Lumpen mit ausreichend Geld zu versorgen, auf dass doch noch gute Menschen würden aus ihnen.

Zwischen herein geschobenen Himmelswölkchen, vor einem EU-Sternenhimmel, wird die Angelegenheit verhandelt. In die Jahre gekommene Popanzen mit bauchlangen angeklebten Rauschebärten haben den Feenkönig Stellaris um Hilfe gegen die juvenilen Tunichtgute angerufen. Voll Verachtung schauen Mystifax, Hilaris (und wie die Zauberer im Feenreich alle heißen) auf die quicklebendige Jugend, die sich um den bösen Geist Lumpazivagabundus schart. So einem Verführer (er scheint im Teufelspersonal des "Jedermann" ausgekommen) traute man zu, Rapper zu sein oder was in diese Richtung. Für ausreichend Fun sorgt der Bursche jedenfalls. Im Feuer von Stroboskopblitzen haben die Jungen gerade eine lautstarke Party gefeiert, erster akustisch greller Knalleffekt einer Aufführung auf der Halleiner Pernerinsel, für die Regisseur Matthias Hartmann insgesamt ordentlich aufdrehen lässt.

Mit leeren Taschen

Eh schon wissen: Im Theaterhandwerkszeug des Burgtheater-Direktors rechnet die Keule noch zum feineren Gerät. Und wenn er jetzt (zum ersten Mal überhaupt) Nestroy inszeniert, dann schwingt er sie gar mächtig. Überdrehtheiten und Karikaturhaftes sonder Zahl. Schließlich ists ein Zaubermärchen, mag Hartmann sich gedacht haben. Dessen Optionen und die handfeste Mutationsmöglichkeiten vom Biedermeier in unsere buntscheckige Gegenwart interessieren ihn weit mehr als Nestroys subversiver Wortwitz. Der bleibt, das sei gleich vorweg moniert, an dem turbulenten und doch auffallend sich hinziehenden Abend auf der Halleiner Pernerinsel hoffnungslos auf der Strecke.

lumpazivagabundus 560 reinhardwerner u"Lumpazivagabundus" in Salzburg © Reinhard Werner

Aber wenden wir uns den drei vazierenden Handwerksgesellen zu, deren zu zwei Dritteln missglückende Domestizierung es zu verhandeln gilt: Knieriem, der Schuster, Zwirn, der Schneider und Leim, der Tischler. Nicholas Ofczarek, Michael Maertens und Florian Teichtmeister spielen die drei Ritter von der leeren Tasche, an denen die Feen Fortuna und Amorosa konkurrenzierend die mäßig wirksamen Möglichkeiten der Erwachsenenbildung erproben.

Detailiert geschneidert

Keine Chance natürlich bei Knieriem/Ofczarek. Der krakeelende Alkoholiker schwankt über die Bühne, ein Ungustl im Dauerdelirium, zu besoffen sogar zum ersthaften Krakeelen. Umso alerter Zwirn/Maertens. Im Gegensatz zu Ofczarek hat der gebürtige Hamburger das Wienerische gar nicht drauf und versucht sich auch nicht damit. Der Schneidergesell mit braunem Ziegenbart und geschnürtem Ränzlein ist der schnoddrige Dauerquassler in der Runde. Maertens verschluckt zwar ein Drittel der Silben, aber man weiß schon, was gemeint ist. Charisma oder maßloses Outrieren? Maertens macht es an dem Abend sogar seinen bedingungslosen Sympathisanten nicht ganz leicht.

lumpazivagabundus1 ofczarek 280 reinhardwerner uNicholas Ofczarek als Zwirn © Reinhard Werner

Gerade, weil diese beiden so attraktiven Rollen im Grunde unterbelichtet bleiben, hat der junge Florian Teichtmeister als Leim sehr gute Karten. Er darf auch nahe am Nestroy-Sprech bleiben, was sich durchaus bewährt. Leim leidet zuerst an namenloser Liebes-Depression und kompensiert dann alles durch den Einstieg ins bürgerliche Leben, durch Heirat und Emsigkeit. In sportlichen Shorts und Turnschuhen, wie Parodien auf die Bürgerlichkeit der Wirtschaftswundergeneration kommen er und die Seinen daher, wogegen Kostümbildnerin Victoria Behr alle Kunst drauf verwendet hat, die Verlottertheit von Knieriem und Zwirn geradezu pedantisch umzusetzen. Jeder Fleck, jeder Riss in der Kleidung am rechten Platz! So gediegen arbeiten nur Festspiele im Schulterschluss mit dem Burgtheater (wohin die Aufführung im September wandert).

Sympathie mit dem Gutmenschen

Dass etwas elementar schief geht in Matthias Hartmanns Deutung des "Lumpazivagabundus" erkennt man nicht zuletzt daran, dass man als Zuschauer diesem Gutmenschen die Daumen hält und nicht insgeheim mit den beiden Schlawinern sympathisiert. Hatte der boshafte Nestroy das im Auge?

Was die argumentative Feinmechanik anlangt, liegt in dieser Aufführung eben vieles im Argen. Matthias Hartmann setzt auf Deftiges, auf Pralles, auf Überdrehtes. In den Wirtshausszenen ist viel los. Die Musik (Akkordeon und Teufelsgeige, gelegentlich Klavier, Kontrabass) parodiert und ironisiert nach Kräften.

Zur kleinen Armee an Burgschauspielern kommt noch ein zehnköpfiges Geschwader von der "Jungen Burg". Betriebsamkeit ist gesichert, und an opulentem ausstatterischen Neobarock hapert’s nicht. Manches kippt Richtung Kabarettnummer oder gleich zur Revue. Hartmann weiß natürlich, dass es dann und wann auch Ruhe braucht, wenn Knieriem und Konsorten ihre Sicht auf die Halbwelt darlegen sollen. Das tun sie etwas zu bierernst und vor allem zu zerdehnt. Ein Problem des Abends ist, dass die Aufführung zwar Turbulenz, aber keinen Sog entwickelt – und dass so etwas wie Rhythmus gleich gar nicht erst aufkommt.

EU Hinterhofgeschichte

Viel zum Lachen gibt es, zugegeben. Eher solches Lachen, bei dem man sich auf die Schenkel klopfen kann. Wenn Zwirn, als Dandy im Morgenrock, ein Porträt von sich malen lassen will und Stefan Wieland als Andy-Warhol-Parodie daher kommt, hat das Witz. Ein Dutzend solcher Episoden könnte man aufzählen, und das ist wohl der Grund, dass das Festspielpublikum die Premiere höchst positiv, nachgerade mit Begeisterung aufgenommen hat.

Die inhaltlich verdächtig schale Interpretation haben die Bravo-Rufer einfach übersehen. Es ist gut und wichtig für das Nestroy-Verständnis, wenn mit (nicht selten simplifizierenden) Wiener Aufführungstraditionen gebrochen wird. Matthias Hartmann erzählt uns eine kleine EU-Hinterhofgeschichte. Er lässt uns wissen, dass die guten Wirtschafts-Geister mit ihrem Blick aufs Prosperieren eben immer nur die Fleißigen, die latent (oder notorisch) Bürgerlichen beflügeln können. Viele andere lassen sich ja doch nicht vom Schlendrian abbringen, und das sind gar nicht unbedingt "schlechtere" Menschen. Sie ticken nur anders. So epochal ist die Erkenntnis nicht.

Nestroys Wortwitz

Am "Lumpazivagabundus" lässt sich Hartmanns Interpretation ohne ernsthafte Nestroy-Vergewaltigung aufhängen. Aber Nestroy bietet eben nicht nur einen Plot an – zaubrisch,  überdreht, ur-witzig –, sondern er unterläuft gerade diese seine Geschichten mit aufmerksam zugespitztem Text: subversiv, aufsässig, immer wieder rabenschwarz und spöttisch. Der Pessimist Nestroy glaubt nicht an Welt- oder Menschenverbesserung. Wenn eine Aufführung dies in seinem Wortwitz nicht herausbringt, greift sie zu kurz. Mit dem Idiom hat das gar nichts zu tun.

Lumpazivagabundus
Zauberposse mit Gesang von Johann Nestroy
Regie: Matthias Hartmann, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Victoria Behr, Musik: Bernhard Moshammer, Karsten Riedel, Tommy Hojsa, Dramaturgie Andreas Erdmann.
Mit: Florian Teichtmeister, Michael Maertens, Nicholas Ofczarek, Marie Happel, Mavie Hörbiger, Katharina Knap, Max Mayer, Branko Samarovsky, Hermann Scheidleder, Stefan Wieland, Peter Wolfsberger u.a.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause.

www.salzburgerfestspiele.at
www.burgtheater.at

 


Kritikenrundschau

In der Süddeutschen Zeitung (3.8.2013) stemmt sich Christine Dössel gegen den Jubel des Publikums: "Die aufwändige, viel zu breit angelegte Inszenierung mag mit grellen Effektmitteln von der Trash-Show über das Rustikal-Musical bis hin zum Euro- und Spießer-Kabarett mit frechen Schlager-Einlagen so manchen Unterhaltungsnerv reizen und mit ein paar tollen Schauspielernummern aufwarten – doch eines bietet sie halt leider nicht: eine Auseinandersetzung mit dem hinterfotzigen, subversiven Sprachwitz des Spottlüstlings Johann Nepomuk Nestroy und seinem beißend sarkastischen, letztlich zutiefst pessimistischen Blick auf den Menschen und die Gesellschaft." Das "Gaudiburschentum", das Hartmann "hier in krudem Stil-Eklektizismus zelebriert, ist streckenweise von so abgeschmackter Haudrauf-Art, seine Lumpazi-Kabarettrevue von so grobhumoriger Arglosigkeit, dass er auch gleich einen Trash-Komödienstadel hätte inszenieren können."

Man sehe nichts, "was auf dem Spiel, gar einem Untergangsspiel stehen könnte. Man sieht allenfalls, dass da allerlei wirr und schrill baumelt. An Einfällen des Regisseurs", kanzelt auch Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3.8.2013) diese Inszenierung ab. Man erblicke nur "Karikaturen" und "Juxbündel". Und die "Regie, die kaum weiter als bis zur letzten Zeitungs- und Leitartikelpointe denkt," lasse "Nestroys große Komödienwelt im dümmsten Kabarett untergehen". Obendrein höre man "zu viel piefkesches Reichstheaterdeutsch, als dass man noch Nestroy hörte. Da aber das Ganze sowieso als Comedy-Remmidemmi baumelnd daherwalzt, ist es auch eh schon wurscht."

"Die Inszenierung ist prall, schrill, schräg, hat jede Menge bonbonfarbene Schauwerte und vor allem drei Protagonisten, die der Ausstattungsorgie mit unglaublicher Bühnenpräsenz locker trotzen", berichtet dagegen eine überwiegend angetane Karin Fischer für "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (2.8.2013). Teichtmeister, Maertens und Ofczarek seien "hervorragende Comedians und bilden das Gerüst der atmosphärisch dichten, aber optisch reichlich zerfledderten Inszenierung", in der man sich allerdings auch schon mal "ganz schön manipuliert" vorkommen könne, wenn "jede Stunde einmal die Musi spielen darf". Hartmann gebe "dem albernen Affen Zucker". Im Ganzen aber sieht Fischer viele Gewinner: "das Theater, das Publikum, die Salzburger Festspiele, sogar Nestroy. Den hat Hartmann nämlich intelligent bestätigt: indem er die "Zauberposse" als poppig-bunte Nestroy-Soap satirisch unterlaufen und an den Publikumsgeschmack von heute angepasst hat. Heute wie damals geht es um Volksbelustigung mit gesellschaftskritischen Anklängen."

"Großer Applaus für eine Arbeit, die tausend Dinge antippt, ohne letztlich eine eigene Sprache zu finden", berichtet Roland Pohl in einer Kurzkritik für den Standard (online 1.8.2013). "Vor Nestroys ingeniösem Witz hat Hartmann Reißaus genommen. Bilder ersetzen das Gift der Analyse, das den Possendichter ätzend umtrieb."

"Der Abend befriedigt die Schaulust", schreibt ein besonders von Nicholas Ofczarek begeisterter Norbert Mayer in der Presse (3.8.2013). Aber darin zeige sich auch Hartmanns Schwäche: "ein Füllhorn von Ideen auszuschütten, ohne sie immer auf Tauglichkeit für den Sinn des Ganzen abzuklopfen. So viele Bilder, und so beliebig – da droht der Text verschüttet zu werden, sein Witz. Jede Pointe wird bis zur Neige ausgekostet, sogar das Publikum darf bei einer Vorstadtszene mitsingen, als gäbe es Musikantenstadl. Bei der Menge an Stars und Sternchen, die sich auf der Bühne drängen, tendiert der Regisseur zur Hyperimaginierungszwangsbeglückungsneurose." Dennoch fällt das Fazit überwiegend positiv aus: "Hartmann überfrachtet die Posse ordentlich. Im zweiten Akt verliert er ein wenig den Faden, im dritten steigert er sich beachtlich, kommt sogar zum Kern. Und jetzt der Komet! So besteht der Burgtheaterdirektor also dank Ofczarek und anderer Zauberer die Nestroy-Probe."

Eher ins Negative lappt das Fazit von Simone Dattenberger im Münchner Merkur (3.8.2013) "Hartmanns Härte beim 'Lumpazi' geht in Ordnung bis hin zur adrett-unsympathischen Erfolgsfamilie Leim, Hartmanns Humor jedoch quält den Nestroy-Verehrer. Obendrein gehen die grandiosen Sprach-Feuerwerke des Dramatikers von der einzigartigen Gestalt unter – vielleicht auch wegen der schrecklichen Mikroports." Auch für Dattenberger ist Ofczarek "der Einzige", "der alle Nuancen seiner Figur leben lässt". Man merke, bei der Personenregie, "dass Regisseur Hartmann das Menschliche in der Zauberposse nicht wirklich ernst nimmt".

"Statt an den ganzen humoristischen Ausstattungsklimbim und das Dekorationsgezwinker aus Eurozeichen-Luftballons, schwäbischem Bommelhut und doofen Brillen hätte man sich vielleicht doch an die kosmologische Wucht der Vorlage halten könne," schreibt Paul Jandl in auf Welt-Online (5.8.2013). Nestroy sei bekanntlich Spaß- wie Ernstmacher gleichermaßen. Und sein "Lumpazivagabundus" steht für Jandl "unter einem astronomischen Unstern, der ganze Krater in die Seelen der Figuren schlägt". Dass der alles zerstörende Komet kommt, habe zu Nestroys Zeiten als ausgemacht gegolten, "und diese apokalyptische Perspektive kann einen schon einmal nachdenklich machen."

Ofczareks Unberechenbarkeit, die Wutschärfe, die Raubtierfreiheit, in die er seinen Suffkopf Knieriem wickelt, macht die Größe seiner Figur, schreibt Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (6.8.2013). "Er ist damit sehr allein; denn die Figurenwelten neben ihm bleiben in Schäumen braver Ironie gefangen." Regisseur Hartmann tue so, als wäre "Lumpazivagabundus" nichts als ein praller Schwank für laue Sommernächte, "die Handlung ist dem Regisseur nichts als Anlass zur blossen Augenzwinkerei".

Das Stück habe viele kleine Rollen, "aber Hartmann unterbindet die Fülle und fordert
die Konformität: Man sieht Showgehopse wie vom Fernsehballett, und allen Lakaien verzerrt eine unausgelebte Aufsässigkeit die Gesichtszüge", so Peter Kümmel in der Zeit (8.8.2013). "Wo es in der Zeichenkunst die Schraffur als Gestaltungsmittel gibt, welche einer Szene Hintergrund und Tiefe liefert, so werden hier die 'gesellschaftlichen Verhältnisse' mit Hartmanns spezieller Kreuzschraffur hingestrichelt und erledigt". Indem nämlich alle Nebenrollen mit demselben Fratzengesicht gezeichnet werden als lebender Bildhintergrund. "Es gibt einen, der sich in alldem grandios behauptet: Nicholas Ofczarek als Knieriem (...) Diese Gestalt, gemeinhin als Rauschkugel, freier Geist und Stimmungsaufheller gespielt, verrät bei Ofczarek mit blutendem Herzen und schwimmendem Blick, was Unverwüstlichkeit in einer kleinbürgerlichen Gesellschaft kostet."

 

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