Hinkemann - Christof Nel inszeniert Ernst Toller
Zerlaufenes Heimkehrerdrama
von Esther Boldt
Frankfurt, 24.März 2007. Stille lastet auf der Szenerie, Publikum und Schauspieler lauern darauf, dass etwas geschieht. Vorn, in der Mitte des Zuschauerraums, ragt ein grotesker Holzturm auf, zwei Plattformen, durch eine Leiter verbunden, in die Holzbalken wie ineinander gekrallt, kauern zwei. Sie tragen weiß, Farbe der Unschuld, und blondes Haar. Zwischen den ersten Reihen erscheint eine Handvoll Schauspieler, die Augen auf das Geschehen, und eine Stimme spricht heiser aus dem Körperknäuel: "Hinkemann schweigt."
"Hinkemann" beginnt mit einer zweifach observierten Ohnmacht, einer mehrfachen Zeugenschaft. Ernst Tollers Stück, vielfach als Kriegsheimkehrerdrama deklariert, ist die Geschichte eines, der zum hellsichtigen Opfer seiner Zeit wird, getragen von der lähmenden Erkenntnis, nichts daran ändern zu können.
Ich fass Dich, ich flieh Dich ...
Eugen Hinkemann, ein Bild von einem Mann, ist nach sechs Jahren aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt, zu seiner schönen, jungen Frau Grete. Doch die Wiedervereinigung hat einen Haken: Ein Franzose hat Hinkemann an der Front das Geschlecht weg geschossen. Der muskelbepackte deutsche Held kommt als Eunuch nach Hause. An der Front hat er von Kindern geträumt, nun wird er ohne Nachkommen bleiben. Um seine Frau zumindest finanziell absichern zu können, heuert er als Attraktion einer Jahrmarktbude an, wo er lebendigen Ratten und Mäusen die Köpfe abbeißt. Seiner Produktivkräfte beraubt, ist er ein Versehrter, der seinen Platz in der Welt nicht mehr findet.
Christian Kuchenbuchs Hinkemann ist ein rastloser Suchender, er tigert durch die Reihen mit blutverschmiertem Mund, wäscht ihn ein ums andere Mal rein, nur um sofort wieder Blut zu spucken. Grete verliert er an seinen Freund Paul Großhahn, einen raffinierten Habenichts, einen Dieb, den die Gelegenheit macht: Ohnehin kommt er überall zu kurz, dann kann, ja, muss er hier doch zuschlagen. Joachim Nimtz zeigt den kaltblütigen Schuft als ernstzunehmende Figur, einen raunenden, wechselwarmen Vertreter in eigener Sache. Und als Paul Grete zum Ehebruch anstiftet, redet ihr Mann ihr aus dem Hintergrund das Wort, wird der Treuebruch in Nels Inszenierung umgehend legitimiert, im Moment des Verlustes unvermittelt Nähe hergestellt zwischen den Eheleuten. Wie Sabine Waibels Grete ein ums andere Mal ihre Arme ausstreckt, um den Körper ihres Mannes zu umfassen, der ihr entweicht: Nel konzentriert sich auf das Dreiergespann und versucht zugleich, es in gesellschaftliche Kontexte einzubetten.
Auf endlosen Wegen zur Phrase verkommen
Der eiserne Vorhang bleibt geschlossen, die Handlung vollständig auf die im Zuschauerraum installierte Bühne und die ersten Sitzreihen verlagert. Das Podest dient als Jahrmarktbude und trautes Heim, stellt Fallhöhe her und Gefährdung, ein Rohbau, der jederzeit zusammenstürzen kann.
Warum Nel und sein Bühnenbildner Thomas Goerge die Bühne vor die Bühne verlagert haben, ist einerseits offenkundig. Hinkemann ist der Eine aus Vielen, es ist der Jedermann, der sich verläuft und verhakt in den gesellschaftlichen Strukturen, an denen sein Leben aufgehängt ist. Andererseits geht dies nur bedingt auf: Um Hinkemann hat Nel wie einen Chor das Ensemble angeordnet, als Volk von der Straße eröffnen sie die Hetzjagd auf den Getriebenen. Einzelne treten hin und wieder aus der Gruppe hervor, nehmen Rollen ein, und kehren wieder zurück auf ihre Zuschauerplätze, sehend, wartend. Da gerinnt der verstreute Chor zur Statisterie, ohne tatsächlich etwas wie Öffentlichkeit herstellen zu können.
Auch die Inszenierung zwischenmenschlicher Beziehungen und Verflechtungen leidet unter den weiten Wegen, die zurückzulegen sind, sie verläuft sich im besten Wortsinn. Kuchenbuch, Waibel und Nimtz hasten durch die Reihen, auf die Podeste, hölzerne Stiegen hinauf und hinunter. Ein lahmer Witz, dass Hinkemann die Leiter nur hinkend erklimmen darf. So geht viel von der Dringlichkeit und Dynamik, die die wunderbare Besetzung erspielt, kletternd und laufend wieder verloren, gerinnt die körperliche Distanz derer, die zueinander nicht mehr kommen können, zur Phrase.
Hinkemann
von Ernst Toller
Regie: Christof Nel, Künstlerische Mitarbeit: Martina Jochem, Bühne: Thomas Goerge,Kostüme: Barbara Aigner, Musik: Paul Lemp, Dramaturgie: Hans-Peter Frings.
Mit: Susanne Böwe, Nadja Dankers, Friederike Kammer, Christian Kuchenbuch, Felix von Manteuffel, Joachim Nimtz, Moritz Peters, Matthias Redlhammer, Aljoscha Stadelmann, Sabine Waibel.
www.schauspielfrankfurt.de
Kritikenrundschau vom 26. März 2007
Christof Nels Inszenierung von Ernst Tollers Hinkemann am schauspielfrankfurt betrachten die überregionalen Feuilletons offenbar als innerfrankfurterische Angelegenheit. Außer Frankfurter Rundschau und der FAZ mischt sich niemand ein. Erst Tage später riskiert die Süddeutsche einen Blick.
Peter Michalzik schreibt in der Frankfurter Rundschau, mit der (insbesondere vom Feuilleton bemerkten) Erscheinung des Prekariats sei auch der einstmals, 1923, skandalisierte "Hinkemann" des damals berühmten Ernst Toller aus der Grube des Vergessens gefahren. Mitten hinein ins Herz der "real existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse der Aufgegebenen" wollte Christof Nel seinen Hinkemann "krachen" lassen. Das geht offenbar eine Stunde lang gut, bis Christian Kuchenbuch in der Titelrolle dem Rezensenten als Problem auffällt. Der "torkelt und schleppt sich schweißgebadet durch das Expressionsdrama, er drückt und schreit an ihm rum, dass das arme Stück einem regelrecht Leid zu tun beginnt." Statt "Ecce homo", so Michalzik, ward "Rumpelstilzchen. "Den Zuschauern hat das bemerkenswerterweise gefallen."
Anders Dieter Bartetzko, eigentlich der Architektur- und Schlagerspezialist, in der FAZ. Der zeigt sich schwer beeindruckt von Tollers Woyzeck-Zuspitzung. So beeindruckt, dass er sechs Siebtel seiner Besprechung auf den Text verwendet. Den Tollers, die Masken der Zivilisation durchdringender Röntgenblick über die Zeitgebundenheit hinaushebe. "Wir erkennen: Es braucht keinen Krieg, ... um uns zu enthemmen - sondern nur Gelegenheit." - "Tollers Personen fallen nicht einem Fatum zum Opfer. Sie lenken ihr Schicksal, unfähig, etwas anderes wahrzunehmen als sich selbst. Die Liebe, der sie alle nachjagen ... ist bloß blinde Eigensucht, die alles niedertrampelt, was ihr im Wege steht." Und die Inszenierung? Setzt gelassen auf Tollers Text. Und die Schauspieler? Agieren "wandlungsfähig und meist sprechsicher", insgesamt "hervorragend". Aber Christian Kuchenbuch? Spielt mit schier beängstigender Intensität.
Christof Nel, glaubt Jürgen Berger und schreibt das in der Süddeutschen Zeitung, war sich vollkommen bewusst, dass Tollers "prekäre Kreaturen zwar in die heutige Hartz IV-Welt zu passen scheinen, direkte Aktualisierungen sich aber verbieten". Obwohl Nel ebenso genau über den todbringenden Mittelweg Bescheid wisse, entschied er "sich erstaunlicherweise aber genau für diesen Weg. Er lässt vom Blatt spielen und überhöht das Stück symbolistisch". Das geht nicht gut aus. Die Nebenfiguren stehen herum wie bestellt und nicht abgeholt und starren auf das Spielgerüst. Christian Kuchenbuch presst "gekünsteltes Leid" aus der Titelfigur, dass man meint, Tollers Woyzeck-Figur sei ein kriegsversehrter Seifentenor.
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