Großvater entert das Matrazenlager

von Reinhard Kriechbaum

Salzburg, 11. August 2013. Da hat einer stolze 31 werden müssen, um etwas wirklich Essentielles zu entdecken: Die Liebe zwischen zwei Menschen funktioniert immer und immer wieder! Egal, ob jung oder alt, ob im Orient oder Okzident, ob im Krieg oder im Frieden. Die Rahmenbedingungen scheinen piepegal zu sein. Hauptsache, die Chemie zwischen den beiden stimmt (wenns denn Chemie ist). Und: Sollten die einschlägig zuständigen Verbindungen und Moleküle mal ernsthaft durcheinander geraten, renkt sich die Sache trotzdem oft wieder ein. Auf die Wirkkraft des Sehnsuchts-Bonus kann sich die Liebe nämlich verlassen.

Intellektueller Treffer auf Breitseite also im neu ausgerufenen Gedanken-Biedermeier des Young Directors Project bei den Salzburger Festspielen. Das Publikum muss Böses geahnt haben und ist gleich gar nicht erst gekommen zur Premiere. Knapp die Hälfte freie Plätze im "republic" – so viel offenkundiges Desinteresse wie für "Romeo und Julia" in der Lesart des irakisch-niederländischen Theatermachers und seines Antwerpener Toneelhuis gabs in elf Jahren nicht. Die Reihe ist imagemäßig heruntergewirtschaftet wie nur.

Liebes-Pas-de-Deux

Ehrlicherweise hat der 1982 in Bagdad geborene Mokhallad Rasem über "Romeo und Julia" drübergeschrieben "nach Shakespeare und anderen". Ein solcher Stücktitel weckte ja ganz bestimmte Erwartungen. Die von außen fatal behinderte Liebe wäre das Thema, inhaltlicher Minimalkonsens. Auf das Ende mit Schrecken täten wir notfalls pfeifen. Aber ein solches wird uns hier ohnedies erspart, von Anfang an.

romeoundjulia5 560 wolfgang kirchner u"Romeo und Julia" © Wolfgang Kirchner

Freilich: Da steht auf einer Mini-Drehscheibe ein weißer Rover mit Aufschrift "UN". Sechs Menschen tragen Gasmasken. In immer wieder neuen Standbildern drücken sie ihre Sehnsucht nach körperlicher Nähe aus. Man streichelt, umarmt einander, bis es wieder blitzt und stockdunkel wird. Das geht zehn Minuten so dahin. Dann ist der Krieg vorbei, ein Tanzpaar ist dran, das seine Liebe als Pas de deux, als choreographisches Händering-Theater sondergleichen zu Musik von Prokofjew zelebriert. Diese getanzte Liebe überdauert auch einen Verkehrsunfall.

Schlechte Ornithologen

Facette drei: Ein älteres Paar im Auto. "Stop", schreit sie aus dem Autofenster, "Der Tod kennt niemanden", er mache keine Unterschiede zwischen den Menschen. "Die Liebe kennt niemanden", korrigiert der Mann begütigend, und man erzählt sich kurz mal den Plot des Shakespeare-Stückes. Lerche oder Nachtigall? Was versteht unsereiner schon von Ornithologie.

romeoundjulia4 280 wolfgang kirchner u© Wolfgang Kirchner

Und so plätschert das 75 Minuten lang dahin. Die beiden alten Leutlein, das Tanzpaar, zwei kleine Kinder: die Lebensalter also. Alle lieben. Aber keine unerlaubte Liebe zwischen den Generationen, und schon gar keine zarten Homo-Bande: Die amouröse Welt ist bei Mokhallad Rasem schwer in Ordnung. Familiäre Szenen beim Betrachten eines Albums: Lauter Julias und Romeos, die ihre Träume (als Schauspieler, Tänzer) umsetzen konnten oder auch nicht. Hauptsache, das Lieben haben sie nie verlernt.     

Irgendwann dreht der Alte durch, will sich davon machen, ausbrechen aus der Zweisamkeit. Die Liebe sei verdorrt. Er beschimpft die Frau wüst, sie zeigt sich verwundert, und am Ende versöhnlich. Heißen die Montagues und Capulets unserer Tage Selbstbestimmung und Ich-AG? Sitzen die verfeindeten Sippschaften in unseren Köpfen? Mag sein, dass Mokhallad Rasem und seine Leute vom Antwerpener Toneelhuis, die bei der Stückentwicklung angeblich alle mitgedacht und zumindest mitgeredet haben, auch davon erzählen wollen.

Sache der Chemie

Wenns gar zu banal wird, rettet man sich in deklamierte Poeterei, seltener Shakespeare, manchmal arabische Literatur (alles verniederländischt mit deutschen Übertiteln). Zuletzt wird der Rover auseinandergeklappt, ein kleines Matratzenlager entsteht. Opa liest der Kleinen aus dem Bilderbuch vor, und erzählt von Endorphinen, Testosteron und was sonst noch alles der Liebe Flügel und Saft verleiht. Oma hebt ab und sehnsüchtelt nochmal so richtig nach Zweisamkeit. Licht aus, Ende.

Wäre da nicht eine Delegation junger Leute als Blumen-auf-die-Bühne-Werfer und Claqueure eingeteilt gewesen, wer weiß, wie schnell der Beifall verebbt wäre.       

 
Romeo und Julia
nach William Shakespeare und anderen
Regie: Mokhallad Rasem, Bühne: Jean Bernard Koeman, Kostüme: Kathleen van Mechelen, Dramaturgie: Erwin Jans, Musikmontage: Saad Ibraheem, Omar Alani, Paul van Caudenberg. Mit: Gilda de Bal, Vic de Wachter (Schauspieler), Eleanor Campell, José Paolo dos Santos (Tanz) und den Kindern Mona Staut und Daan Foofthooft.
Aufführungsdauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause.

www.salzburgerfestspiele.at

Kritikenrundschau

 "Diese Aufführung zielt nicht auf den Kopf, sondern auf das Herz, nicht auf den kritischen Geist, der immer fragen will: Ist das nicht alles schon einmal da gewesen und ein bisschen banal?", schreibt Barbara Petsch in der Presse (13.8.2013). Die Performance sei aus dem Leben gegriffen und spreche das Unterbewusste an. "Natürlich ist Shakespeare gewaltiger, zeitloser, aber auch sprachlich schwerer zugänglich. Das Toneelhuis – wie die Truppe um Rasem heißt – setzt auf Improvisation, der Text ist nur ein Vorschlag. Auch das ist seit den 1968er-Jahren nicht neu. Aber diese Geschichte, die daran erinnert, dass in vielen Ländern dieser Erde seit Generationen Krieg herrscht, berührt ähnlich wie ein Traum."

Der Abend gestalte sich wie ein Puzzlespiel, zu dem Rasem nur ein paar Teile beisteuere und den Rest der Fantasie des Publikums überlasse, so Hanna Pfaffenwimmer in den Salzburger Nachrichten (13.8.2013). "Er konstruiert einprägsame Bilder und findet durch Lied-, Gedichttexte und Tanzeinlagen wundervolle Ausdrucksformen der Liebe in ihrer Bandbreite. Doch kaum hat man sich an Duktus und Tempo der Performance gewöhnt, ist sie schon zu Ende, und der Zuschauer ist allein mit all den Fragen, die im Raum standen, aber nur beleuchtet und nicht beantwortet wurden."

"Der irakische Regisseur Mokhallad Rasem und sein Ensemble vom Toneelhuis Antwerpen erzählen nicht die Geschichte nach", erklärt Thomas Trenkler im Standard (13.8.2013), "sie ändern sie auch nicht ab, sie collagieren bloß postdramatisch ihre Assoziationen über das berühmteste Liebespaar zu einem banalen, ziemlich kurzen, aber leider nicht kurzweiligen Abend." Das ältere Paar etwa mache sich Gedanken "über die katastrophengeilen Touristen, die den Balkon in Verona besuchen, später erzählt es den anderen die Geschichte eines Romeo und seiner Julia anhand eines Fotoalbums. Es geht auch um die Vergänglichkeit, man verwechselt Liebe mit Sex, das ältere Paar stößt beim Vögeln lustvoll die Namen italienischer Speisen aus. Mortadella und Pollo, ist das billig!"

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