Theater als Bildverarbeitungsmaschine

von Esther Boldt

23. Dezember 2007. Schon immer steht das Visuelle auf dem Theater unter Verdacht. Unter dem Verdacht des Populären, des Simplifizierenden, dessen, was der Herrschaft des Textes eins draufzusetzen versucht und in den Feuilletons noch immer gerne als "Regieeinfall" angeklagt wird. Dieser binären Entgegensetzung von Text und Bild zum Trotz sind Theater und Visuelles schon immer Verwandte.

Nun hat Nic Leonhardt einen Beweis für diese Behauptung angetreten: In ihrer Publikation "Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869-1899)" untersucht sie den Zusammenhang zwischen der sich ausdifferenzierenden und entwickelnden visuellen Kultur – unter anderem in Form von Plakaten, Fotografie, Panoramen etc. – und dem zeitgenössischen Theater.

Rapide Zunahme von Bildern

Der besprochene Zeitraum orientiert sich an der Gewerbefreiheit, die seit 1869 für Theaterbetriebe galt und einen Popularisierungsschub auslöste – gerade in Berlin, dem Untersuchungszentrum des Buches. Damit möchte die Autorin die Zuschreibungen von Populär- und Hochkultur verlassen und eine eklatante Forschungslücke schließen.

Unter dem Schlagwort der "Piktoral-Dramaturgie" beschreibt sie die wachsende Bedeutung von visueller Information, auch in Form von intermedialen Bezügen zwischen Theater, Kunst, Populär- und Medienkultur. Diese beziehen sich explizit und implizit aufeinander und sind zunehmend auf einen Zuschauer angewiesen, der die Zeichen zu deuten weiß und neben Medienkompetenz auch über populärkulturelles Wissen verfügt. Kulturelles Wissen schlägt sich auch in bildlichen Darstellungen nieder, und die Qualität und Quantität seiner Verbreitung nimmt im 19. Jahrhundert rapide zu.

Bildmotive im kollektiven Gedächtnis

Das Theater beschreibt Leonhardt als Ort, der politische Ereignisse und technologische Neuheiten zügig verarbeitete. Anhand von zeitgeschichtlichen Stoffen, nämlich des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 und der Kolonialisierung Afrikas, wird untersucht, wie einerseits konkrete Bildmotive ins kollektive Gedächtnis eingehen und nahezu unverändert von verschiedenen Medien reproduziert werden – etwa bei einer ausstattungsintensiven Theateraufführung. Andererseits wird unter dem Stichwort der Intervisualität aufgezeigt, wie sich der Transfer zwischen dem Theater und anderen Medien auch produktions- und rezeptionsästhetisch vollzieht. So verknüpft die Autorin Zeitgeschichte, Bildproduktion, mediale Neuerungen und das Theater aufs engste. Da dies vor akademischem Hintergrund geschieht, "Piktoral-Dramaturgie" ist schließlich eine Dissertation, gerät die Beweisführung in ihrer wissenschaftlichen Akribie mitunter etwas sperrig.

Frühe Popkultur

Im zweiten Teil aber nimmt das Buch Fahrt auf, in rechercheaufwändigen Untersuchungen wird ausgeführt, wie dicht Ende des 19. Jahrhunderts Zeitgeschehen, wissenschaftliche Forschungen und Dokumente bei dem Spektakulären und der Populärkultur lagen.

Somit gelingt Leonhardt auch, die entscheidende Rolle zu etablieren, die die visuelle Kultur historisch spielte (und, möchte man ergänzen, noch heute spielt), wenn es darum geht, dass politische und historische Situationen in einem Bildmotiv festgehalten und verbreitet werden. Nach anfänglicher Leseunfreundlichkeit eine spannende und informative Lektüre, die so nebenbei auch viel über die Gegenwart erzählt.


Nic Leonhardt: Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert. transcript 2007, 350 Seiten. 33,80 Euro.

 

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