Ländler auf dem Dancefloor

von Christian Rakow

Berlin, 27. August 2013. Im Grunde sind wir Deutschen Hüpfer. Nicht schnaufende Trampel, oder wuchtig heranrollende Walzen, wie es oft heißt. Sondern Hüpfer. Zumindest beim Tanzen. Wiewohl es uns nicht auf die sprungfederig leichte Art gelingt, sondern doch etwas steif, so als ob Störche hüpfen wollten. Und in die Hände klatschen wir regelmäßig dazu, weil es die Knie allein nicht bringen. Beim Tanz-Hüpfen.

So lehrt es dieser wunderbar lockere Ausflug ins Reich der brauchtümlichen Tanzkultur zwischen niederdeutscher Küste und Alpenland, den Jochen Roller unter dem Titel "Trachtenbummler" für das Berliner Festival "Tanz im August" entworfen hat. Der Eingeborene hierzulande hüpft und klopft und klatscht. Um veritable Heimatkunde geht es dem Choreographen in seiner Zusammenschau allerdings nur bedingt. Vielmehr präsentiert er einen schrägen, eindrücklichen Remix von Ausdrucksformen, eine zauberhafte Verschränkung der versunkenen Formensprache aus Großmutters Erntedankzeiten mit neuen Stilen.

Neue Soundtracks für alte Bewegungsmuster
Schon der betont abgehackte "Oberbayerische Schuhplattler" zum Auftakt auf dem grünen Tanzteppich entwickelt sich unter wuchtigen Dancehall-Beats zum schillernd postmodernen Elektrogroove. Statt Leder tragen Roller und seine fünf internationalen Mittänzer (Joavien Ng, Edouard Pelleray, Ahilan Bhuvanendra Ratnamohan, Magali Sander Fett und Latai Funaki Taumoepeau) Latzhosen und Hüte aus Filz. Trachten-Designer Daniel Kroh zaubert die Kostüme stets haarscharf neben die Spur.

trachtenbummler4 560 sabine brinker picturesberlin.de hAusflug ins Brauchtum: "Trachtenbummler" © Sabine Brinker/picturesberlin.de

Zu diversen Pop-Songs, die von Weltmusik über Seeeds "Aufstehn" bis zum Disco-Kracher "Bucky Done Gun" von M.I.A. reichen, verwandeln Roller und sein Team mit großer innerer Ruhe solche Preziosen wie den "Schwarzwälder Fastnachtstanz", den "Lausitzer Schlängelreigen", die "Sudetendeutsche Mazurka" oder den "Vorarlberger Ländler" in reinste Dancefloor-Perlen.

Kulturübergreifende Momente
Diese Ausgrabungen aus dem Fundus verblasster Traditionen kommen nicht ohne zarte Ironie daher. Die echte Exotik wächst nicht draußen in der weiten Welt, sondern unterm Maibaum, scheint's. Aber der Abend erschöpft sich nicht in der schnellen Pointe. Seine Remix-Ästhetik mündet in eindringliche kulturübergreifende Momente: Spätestens wenn das "Niederdeutsche Mühlrad" in Bauernfestwürde mit Paillettenkränzen im Haar zu den Handmade-Gitarrenklängen von Israel Kamakawiwo'oles Version von "Somewhere over the rainbow" läuft, ist nicht mehr so klar, ob das Feuchte im Auge aus Lachen oder Trauer rinnt.

Wer übrigens bei "Trachtenbummler" an fußballerische "Schlachtenbummler" denkt, ist lange auf dem Holzweg. Aber dann plötzlich kommen sie doch: Dunkle Gestalten, in schwarzrotgoldenen Burkas mit Deutschlandfähnchen in der Hand, tanzen wie stets in Gruppe das "Schwälmer Fahnenschwingen" zu arabischem Pop und schwenken ihre Fähnchen wie Lotsen auf See, die ein großes Kreuzfahrtschiff heranwinken.


Trachtenbummler (UA)
von Jochen Roller

Künstlerische Leitung: Jochen Roller, Trachten-Design: Daniel Kroh, Dramaturgie: Florian Feigl, Jochen Roller, Licht-Design: Henning Streck, Assistenz Kostüme: Daniel Juhart, Julia Wendler, Hospitanz Kostüme: Natalia Lutsenko, Produktionsleitung: DepArtment, Produktionsassistenz: Theresa Willeke.

Tanz: Joavien Ng, Edouard Pelleray, Ahilan Bhuvanendra Ratnamohan, Jochen Roller, Magali Sander Fett, Latai Funaki Taumoepeau.

Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause


Eine Produktion von Jochen Roller und DepArtment in Koproduktion mit Theater Freiburg und SOPHIENSÆLE.

www.tanzimaugust.de
www.sophiensaele.com

Mehr zum zeitgenössischen Tanz in Deutschland: Zum Auftakt der diesjährigen 25. Ausgabe von "Tanz im August" hat Astrid Kaminski die Szene porträtiert: Die Graswurzelbewegung – Durch Netzwerke und Synergie-Effekte schaffen es die Macher, ein immer größeres Publikum zu begeistern

 

Kritikenrundschau

Als verrückt, schräg und bezaubernd preist Michaela Schlagenwerth in der Berliner Zeitung (30.8.2013) Rollers Abend. "Wenn sich im Takt von 'Over the Rainbow' die sechs Tänzer, die aus Samoa, Brasilien und sonst woher kommen, in blauen Trachten an die Hände fassen und sich im Kreis und als Paare unaufhörlich drehen, entfaltet das eine Kraft, auch eine Vision von Gemeinschaft von anrührender Schönheit − die sich zur Originalmusik einem heutigen Publikum nicht vermitteln würde." Durch seine "Verfremdungen und schrägen Kurzschlüsse, auch in den Kostümen von Daniel Kroh, wird das Schöne, das Verrückte und Wunderbare dieser Tänze sichtbar".

Der Verfremdungseffekt gelinge am besten, wenn eine Tracht oder ein Tanz bekannt ist, so Barbara Behrendt in der Onlineversion der Deutschen Bühne (28.8.2013) – dann erlebe man "die deutsche Folklore in neuer, spielerischer und ironischer Perspektive". Alle Auftritte des Ensembles seien "höchst unterhaltsam und komisch, mit Anflügen ins Groteske".

"Es ist selten, dass ein Tanzstück so überrascht, sein Thema facettenreich beleuchtet ohne abzuflachen und als Ensemblearbeit erkennbar bleibt", lobt Karin Schmidt-Feister auf tanznetz.de (30.8.2013). Rollers lasse durch die Kombination alter Volkstänze mit Popmusik die "Schönheit des überlagerten, vergessenen und verfälschten Schrittmaterials süddeutscher Tänze genussvoll und voller Überraschungen aufleuchten."

 

mehr nachtkritiken