Der Walkampf

von Falk Schreiber

Hamburg, 6. September 2013. "Was siehst du?" Ich denke, eine Böe kommt auf." Nackt ist Matthias Kochs Bühne im Hamburger Thalia Theater, nackt bis auf ein paar Windmaschinen und unzählige Wasserkanister. Nichts zu sehen. Und wo es nichts zu sehen gibt, da plaudert man eben darüber, was man nicht sieht: Eine Böe kommt auf. Willkommen auf der Pequod, dem Walfangschiff, mit dem Kapitän Ahab Jagd nach dem legendären weißen Wal "Moby Dick" macht.

Indifferente Masse Mensch

Das Thalia wird immer mehr zum Spezialtheater für Sinnsuche: Verhedderte sich Luk Perceval zum Ende der vergangenen Spielzeit mit Dostojewskis Die Brüder Karamasow kunstvoll in den Fallstricken der Religion, so übernimmt Antú Romero Nunes den Saisonauftakt mit Herman Melvilles 1851 erschienenem Jahrhundertroman "Moby Dick". Ein weißer Wal wird da gejagt, der Inbegriff des absoluten Nichts, vor dem sich Mirco Kreibich schon ganz zu Anfang graut: Das fahle Weiß des Tieres erinnert ihn an ein weißes Leichentuch. Ein Grauen, das das Menschlein nur dadurch zu besiegen glaubt, indem er die Quelle des Grauens vernichtet, allein, es hilft nichts: Am Ende wird der Wal die Pequod in die Tiefe reißen, und zwar (anders als bei Melville) mit Maus und Mann.

mobydick2 560 arminsmailovic h© Armin Smailovic

Nunes leistet sich einen extrem langsamen Einstieg: Die Mannschaft betritt das Schiff, die Weltumseglung beginnt, aber über eine halbe Stunde passiert erstmal – nichts. Auch nehmen die Darsteller keine Rollen an, man hat es mit einer indifferenten Masse Mensch zu tun, die einer ebenso indifferenten Natur gegenübersteht, einer Natur, in der sich irgendwo Bedrohung wie Befriedigung in Walform versteckt. Gesprochen wird mal chorisch, mal entindividualisiert, Aktion findet kaum statt, dafür bekommt jeder Schauspieler Gelegenheit zu mindestens einem ausgedehnten Solo: Jörg Pohl enervierend besserwisserisch, Daniel Lommatzsch mit heiserer Coolness, Rafael Stachowiak still verzweifelt etc.

Literweise Blut, Schweiß und Walfett

Dieser Einstieg ist eine grundsympathische Verweigerung von Rollenhierarchien, er ist aber eigentlich nicht das, wofür Nunes steht: Der 29-Jährige hat sich einen Namen mit seinem Gespür für Rhythmus gemacht, damit, dass er große Szenen leichthändig bauen kann, auch damit, das Pathos schwerer Stoffe mit geschickten ironischen Brüchen zu unterlaufen. Lange Zeit aber sieht man davon nichts, man sieht ein perfekt harmonierendes Ensemble, wie es sich in Minimalismus übt, und für Minimalismus steht Nunes nun mal gar nicht.

Aber "Moby Dick" ist mehr als ein zielloses Stochern im metaphysischen Dunkel, es ist auch: eine Abenteuerstory. Und als die an Fahrt aufnimmt, kann Nunes seine Stärken ausspielen. Die Bühne wird unter Wasser gesetzt, und dann geht es ziemlich heftig zur Sache, will sagen: Es wird harpuniert, verzweifelt sich wehrende Tiere werden eingeholt, abgestochen und fachgerecht zerteilt, am Ende wird um die Beute gestritten. Und wenn man sieht, wie das weitgehend pantomimisch erledigt wird, kann man nicht anders: Man zieht den Hut vor diesen Schauspielern, die durch die Bank den Eindruck erwecken, dass da Blut und Schweiß und Walfett ins Parkett fließen, literweise.

mobydick 560 arminsmailovic h© Armin Smailovic

Spätestens ab dem dritten Wal entwickelt sich das zur ziemlich stupiden, mühseligen, vor allem sehr blutigen Schlachterei, und angesichts der vielen nackten, nassen Männerkörper, angesichts der Mengen an Testosteron, die hier im Spiel sind, muss man auch die Regie wieder loben: Wie sie es schafft, diese Bilder nicht zu martialischen Männlichkeitsinszenierungen gerinnen zu lassen, das hat große Klasse. Gerade in den Actionszenen funktioniert Nunes' "Moby Dick".

Verrätselt apokalyptisches Finale

Allerdings funktioniert das so gut, dass ein wenig in Vergessenheit gerät, weswegen die Action eigentlich der fruchtloseste Aspekt von Melvilles Roman ist. Die Sinnsuche im Nichts des Ozeans rutscht in den Hintergrund, gerade weil der Regisseur immer wieder virtuos Spannung aufbaut, nur um aus seiner Spannungsästhetik gleich darauf ironisch zu flüchten, mit ein wenig Salbadere übers Seerecht oder über die kulinarischen Vorzüge von Walfleisch.

Zum Schluss fährt die Inszenierung dann noch einmal alles auf: 44 Seemänner bevölkern die Bühne, es wird russisch gesprochen, arabisch, es wird Musik gemacht. Ein hübsches Bild, ein friedliches Bild. Das sich schließlich in einem verrätselt-apokalyptischen Finale auflöst – die Hölle bricht los, die Soundanlage des Thalia gibt, was sie hat, und Gefangene werden nicht gemacht. Am Ende: glatte See, nichts zu sehen. Eine große Inszenierung, bei der man sich nicht sicher ist, ob sie ihr Thema womöglich auf atemberaubende Weise haarscharf verfehlt hat.

 

Moby Dick
nach Herman Melville
Regie: Antú Romero Nunes, Musik und Sound-Design: Johannes Hofmann, Rewert Lindeburg, Ausstattung: Matthias Koch, Dramaturgie: Sandra Küpper.
Mit: Julian Greis, Mirco Kreibich, Daniel Lommatzsch, Thomas Niehaus, Jörg Pohl, Rafael Stachowiak, André Szymanski, Sebastian Zimmler.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause.

www.thalia-theater.de

 

 

Kritikenrundschau

Manchmal an diesem Abend sei man geneigt, die "Künstlichkeit für Sekunden zu vergessen – so überzeugend stellt das Acht-Männer-Ensemble die Mühen einer langen Seefahrt mit einem Segelschiff" dar, so Matthias Heine in der Welt (9.9.2013) über Nunes' "Moby Dick". Der Regisseur habe ein Händchen "für Massenszenen und Choraufmärsche". Die Schauspieler nähmen einen mit "auf die schäumenden Wogen ihres Fantasiemeeres". Die Fantasie, mit der Nunes die "Choreografien ersonnen hat und die Kraft, mit der das Ensemble sich in seine Matrosenarbeit stürzt, schaffen zusammen etwas, das zum Staunenswertesten gehört, das man seit Langem auf einer deutschen Bühne gesehen hat". Nur dass er Qeequeg "nahezu verschwinden ließ", könne man ihm schwerlich verzeihen.

Nach "rund 30 Minuten philosophierens über die Gottlosigkeit oder die Farbe weiß, verlieren die acht Schauspieler (...) ihre Ruhe und schmeißen sich so heftig in ihre Rollen als Walfänger wie nur Männer es können", schreibt Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (9.9.2013). Man fühle sich als Zuschauer regelrecht "in einen Action-Film versetzt". Die Schauspieler, ein "wunderbar miteinander agierende Ensemble", "geben alles und harmonieren miteinander, als wären sie eine Person".

"Zu gucken und zu staunen" gibt es bei Nunes auch für Anke Dürrs (Spiegel online, 9.9.2013) Geschmack genug. "Man sieht Männerfreundschaft, Jungs beim Räuber-und-Gendarm-Spielen, deren kindliche Phantasie beim pantomimischen Tun einen beglücken würde, wenn es wirklich Jungs wären und keine erwachsenen Schauspieler. (...) Was man nicht sieht, ist die Hybris der Männer, ihre Angst", die Raserei Ahabs, die Bedrohlichkeit des Wals. Das alles komme bei Nunes nur verbal vor, er habe "die philosophische Ebene des Romans ausgeklammert" und an den Inszenierungsanfang gestellt, "weitgehend ohne Verbindung zum nachfolgenden Action-Theater". "Die Individuen des Romans aufzulösen und zu einer weitgehend ununterscheidbaren Masse zu machen", sei eine "unglückliche Entscheidung und alles insgesamt "nicht sehr tiefgründig".

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