Das Geschäft mit dem Mitleid

von Jens Fischer

Bremen, 6. September 2013. In Bremen sind sie daheim, arbeiten öffentlich als freiberufliche Schausteller. Jeder Hansestädter hätte ihnen also bereits begegnen und Teil ihrer streng kommerziell gestalteten Aufführungen werden können. Vor dem Konzerthaus "Glocke" oder auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums Roland-Center sind sie zu finden, andere treten an den Knotenpunkten der Touristenströme auf, am Eingang der schmucken Böttcherstraße, auf der Weserpromenade und gegenüber von Gerhard Marcks' Bronzeplastik "Bremer Stadtmusikanten". Wiederum andere stolzieren auf den Kantsteinen der Cuxhavener Straße im Holzhafen oder räkeln in den Schaufenstern der Helenstraße.

Aber wer kennt diese Menschen, wer interessiert sich näher für Bettler, osteuropäische Straßenmusikanten, Prostituierte und Obdachlose? Das Theater Bremen! Es schickt Lola Arias los, um so genannte "Spezialisten der Straße" für eine Performance zu casten, die Bremen mal aus der sozialen Froschperspektive beleuchten soll. Ein Mode gewordener Trend: Deutsche Theater sind derzeit gern Gastgeber für die Begegnung mit Personen, die Außenseiter in der Bürgerwelt ihres Stammpublikums sind. Mit Rechercheprojekten und Dokutheater wird die Faszination des angeblich Echten beschworen: befeuert durch die Anwesenheit lebendiger Menschen, die nicht so tun als ob, sondern ihre eigene Biografie präsentieren.

Spieler mit Street Credibility
Pause für die Zeichenwelt der darstellenden Kunst und ihre Illusionsmaschinerie. Probebühnensetting heißt das Ausstattungsgebot, jeder Mitwirkende darf aber ein paar Requisiten zum Wohlfühlen platzieren. Zwei Profis aus dem Schauspielensemble sind auch dabei – als Statisten, Souffleur, Bilder-Vorführer, Ansager, Bühnenarbeiter. Sie umschwirren die sympathischen Stars des Abends: das Obdachlosenehepaar Anja und Roland Meister, die Ex-Prostituierte Beate Augustin, drei bulgarische Musiker und den Ex-Junkie Bernhard Richter mit seinem besten Kumpel "Kumpel", einem Hund. Ihre Straßenbühnen haben alle verlassen, um im Fokus der Theaterbühne zu stehen. Statt Almosen verdienen sie nun nach eigenen Aussagen den in Bremen gesetzlich festgeschriebene Mindestlohn pro Stunde (8,50 Euro). Dafür bieten sie Showcases ihres Business.

theartofmakingmoney2 560 joerg landsberg uEin Hund zieht immer. "The Art of Making Money" © Jörg Landsberg

Das Equipment, die Arbeitszeiten und Geschäftspraktiken werden erläutert, Arbeitsplätze per Video vorgestellt – und gut frequentierte Open-Air-Übernachtungsstätten wie das Areal des Güterbahnhofs angepriesen. Die Analogie von "The Art of Making Money" auf der Straße und im Theater wird immer und immer wieder betont. Schon im Prolog kommt Jonathan Jeremiah Peachum, König des Bettlerimperiums der "Dreigroschenoper", zu Gehör mit seiner Geschäftsidee. Es gelte Mitleid erregende Fiktionen zu kreieren, um "der zunehmenden Verhärtung der Menschen zu begegnen" – und ihnen ein paar Pennys zu entlocken. Bezahlt wird für Selbstinszenierungen.

Gute und bessere Selbstinszenierungen
Aber weiß das nicht jeder? Hat je jemand die Geschichten geglaubt, weswegen jetzt ganz dringend ein, zwei, drei Euro den Besitzer wechseln sollen? Hat je jemand im Bordell dem Gestöhne geglaubt oder dem Begeisterungslächeln der Fußgängerzonen-Musikanten, wenn sie grenzenlos populäre Schlager anbiedernd schlicht intonieren? Was alle wissen, will das Theater offenbaren. Die Setlist werde dem Publikumsgeschmack angepasst, Prostituierte täten nur so, ist von den Fachleuten auf der Bühne zu hören. Und Bernhard Richter erzählt, wenn er seinem Hund die unverletzte Pfote verbinde, verdiene er mit dem Tierarzt-Hinweis beim Betteln pro Tag satte 100 statt sonst üblicher 10 Euro. Seine Lebensgeschichte verkaufe er so: arbeitslos geworden, Alkoholproblem gehabt, nun aber wieder dabei sich hochzurappeln. Was geschäftsschädigend wirke und daher lieber nicht, dem Theaterpublikum aber doch erzählt wird: jahrelang heroinabhängig, nie richtig um die zwei Söhne gekümmert und kein Interesse an Jobs, um sich für nichts und niemanden mehr verbiegen zu müssen. Kollegin Anja Meister zeigt, wie sie je nach Kunde vom sachlichen zum tränenreichen Schnorren wechseln kann. Schauspielerin halt. Gut erzählt, gestöhnt, gespielt, musiziert, so glauben wir gern jede Lüge – wie im Theater. Nur spannend ist die endlos wirkende Beweisführung nicht.

Triumph an der Realitätsfront
Auch wirft der zweite Teil des Abends wenig Gewinn ab. Im Mono- oder Dialog sollen die Menschen hinter den professionellen Rollenspielen kenntlich werden. Aber nur ein paar äußere Fakten und viele lustige Randnotizen kommen anhand von Fotos, Tattoos, Musikeinlagen ans Bühnenlicht, werden ab und an auch als bewusst putziges Laientheater dargeboten. Aller vehementen Natürlichkeit, dem teilweise anrührenden Mut zur Wahrhaftigkeit und dem individuellen Elend zum Trotz, zerfließt der Abend zunehmend im Anekdotischen und verweist durch sein Wirklichkeitsprimat auf das Osnabrücker "Spieltriebe"-Festival, das gerade kritische Stimmen hörbar machen möchte, "die vor der Selbstaufgabe der Kunst durch Realitätsversessenheit und Authentizitätsterror warnen und die Rückbesinnung der Kunst auf ihre genuinen Fähigkeiten und Eigenschaften fordern". Auf die setzt hier keiner.

Dafür triumphiert "The Art of Making Money" an der Realitätsfront. Nach Offenbarung einiger Betteltricks wird befürchtet, auf diese Art am Tag nach der Premiere weniger Geld erwirtschaften zu können. Das Publikum gibt warmherzig Rückmeldung, dass jetzt sogar eher Bereitschaft vorhanden sei, ins Portmonee zu greifen – so unter Bremern. Man kennt sich ja nun ein wenig.

The Art of Making Money – Die Bremer Straßenoper von Lola Arias
Regie: Lola Arias, Bühne: Dominic Huber, Video: Mikko Gaestel, Kostüme: Alexandra Morales, Musik: Ulises Conti, Schlagzeug: Ibrahim Chacarov, Gitarre: Mehmet Chacarov, Akkordeon: Boiko Borisov Todorov, Licht: Joachim Grindel, Dramaturgie: Benjamin von Blomberg.
Mit: Beate Augustin, Claudius Franz, Anja Meister, Ronald Meister, Bernhard Richter, Matthieu Svetchine, Boiko Borisov Todorov und dem Hund Kumpel.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten

www.theaterbremen.de

 

Kritikenrundschau

 

Was Lola Arias und ihr Personal in "The Art of Making Money" machten, sei "gewiss nicht neu", meint Andreas Schnell in der Nordwest-Zeitung (9.9.2013). "Berühren tut es gleichwohl, weil wir auch die Biografien dieser Menschen kennenlernen, von denen wir normalerweise nur wissen, was sie uns zu erzählen bereit sind." Es entstehe ein Abend, "der in seiner schonungslosen Ehrlichkeit niemanden kalt lässt." Doch es bleibe auch "ein seltsamer Nachgeschmack: Wenn sich, wie Brecht seinen Peachum zynisch verkünden lässt, die Erschütterung über menschliches Leid abnützt, sorgt nicht ein solches Theater, bei aller Herzenswärme für seine Hauptfiguren, nicht für die weitere Abnutzung?"

Wirklich "neue Erkenntnisse" halte dieser Abend nicht bereit, denn er vermeide die "Frage nach Selbst- und Fremdverantwortung für die eigene Biografie", schreibt Johannes Bruggaier in der Kreiszeitung (6.9.2013). Lola Arias habe "grundsympathische Typen" mit einer "Befähigung zur Selbstironie" gecastet und verleihe ihrem Auftritt durch die Kapitelgliederung "Struktur". Und doch beschränkten sich die Erzählungen "größtenteils auf Erahntes und Offenkundiges"; und der Abend komme über "eine zwar leidlich unterhaltsame, letztlich aber belanglose Plauderei nicht hinaus".

Für Marianne Strauch vom Radio Bremen (6.9.2013) ist dieser Abend "kein billiger Seelenstriptease und keine Performance für Voyeure, sondern ein bewegender Einblick in eine weitgehend unbekannte Welt, die doch Teil unserer Stadt ist." Die Akteure agierten selbstbewusst, "die Spielfreude ist spürbar". (Anm. Wer dem Link folgt erhält auch den Fernsehbeitrag auf Radio Bremen von Marianne Strauch über das Projekt).

Sven Garbarde vom Weser Kurier (8.9.2013) würdigt das Wagnis von Lola Arias, mit ihrem Dokumentartheater aus dem "Theater im gewöhnlichen Sinne" auszuscheren: "Bemerkenswert, wie es der Regie gelingt, dieses etwas heikle Echtheits-Spiel in eine Art formende Gliederung zu bringen", wobei jede Persönlichkeit "möglichst gut zur Sichtbarkeit" gebracht werde. Die Dramaturgie folge den Spuren von Brechts "Dreigroschenoper". Neben den Erzähltexten gestatte die Arias gelegentlich "ein paar fetzige Kostproben folkloristischer Fröhlichkeit zum Klang des jubelnden Akkordeons."

"An der Bremer Straßenoper von Lola Arias gib's nichts zu nörgeln. Sie ist großartig. Da heißt's hingehen!, hingehen!, hingehen!, das ist ein wichtiges Projekt und erschütternd und ergreifend," schreibt Benno Schirrmeister in der taz-Bremen (10.9.2013). Die meisten Kritiker würden motzen, so Schirrmeister, "schließlich will man nicht umsonst Schiller gelesen haben, aber intellektuell haben sie der Dringlichkeit des Dokumentarischen wenig entgegenzusetzen. Die hat mit dem Zustand der Wirklichkeit zu tun, die nur noch als Produkt undurchschaubarer Betriebssysteme zu existieren scheint, multipel medial geformt: Die Wirklichkeit der Wirklichkeit ist zweifelhaft wie nie – und Theater muss klären, was das mit ihm macht: Geht es unter, wenn es sie in einer ihrer härtesten Formen, als Leben auf der Straße, auftreten lässt? Oder käme es darin zu sich."

Kommentare  
The Art of Making Money, Bremen: falsches Bild
Das ist ja komisch. Auch in Berlin gibt es Obdachlose, oft als Straßenzeitungsverkäufer. Und viele von ihnen degradieren sich selbst eben gerade nicht zum Opfer, indem sie das Opfer spielen. Sie treten vielmehr selbstbewusst auf, grüßen freundlich, erzwingen nichts, auch kein Mitleid und bedanken sich mit einem glaubhaften Lächeln, wenn man eine Zeitung bei ihnen kauft.

Frage: Entsteht über diese Inszenierung nicht irgendwie auch ein falsches Bild, wenn nun behauptet wird, dass alle Obdachlosen eine Rolle spielen? Und warum wird das auf diese gesellschaftliche Gruppe beschränkt? Ist das nicht dasselbe bei zum Beispiel Bankern und Finanzmanagern? Auch dieser gesellschaftlichen Gruppe sollen wir glauben, im Sinne des "Credo des Kapitals". Und überhaupt, welche (Berufs-)Gruppe inszeniert sich eigentlich nicht auf irgendeine Art selbst? Von der Idee her klingt diese Inszenierung natürlich trotzdem interessant.
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