Spieltriebe Osnabrück 2013 - Uraufführungen von Texten von Wiktor Pelewin, David Gieselmann und Johannes Schrettle
Dreifache Schräglage
von Kai Bremer
Osnabrück, 6. September 2013. Wenn ein Festival zum fünften Mal stattfindet, darf es als etabliert gelten – zumal wenn es wie die Spieltriebe in Osnabrück den Wechsel in der künstlerischen Leitung putzmunter verkraftet hat. Das war vor zwei Jahren der Fall. Mit dem Wechsel ging eine Neuakzentuierung einher. Bei den ersten drei Festivals unter der Leitung von Holger Schultze standen Stücke im Mittelpunkt; nicht immer ihre Inszenierung. Als Ralf Waldschmidt mit seinem Team die Leitung 2011 übernahm, bekam das Festival eine thematische Ausrichtung: 10 Jahre nach 9/11 sollte Bilanz gezogen werden. In diesem Jahr nun wird das Festival selbstreflexiv. Sein Titel lautet "Total real". Das erlaubt formale Offenheit und thematische Flexibilität. Es birgt aber gleichzeitig das Risiko in sich, beliebig zu werden.
Eröffnet wurde das Festival gestern im Großen Haus mit der Dramatisierung von Wiktor Pelewins "Das Leben der Insekten". Damit war umgehend klar, dass die Spieltriebe 5 nicht einfach einem hübschen Anti-Illusionismus zu huldigen beabsichtigen, sondern der vermeintlichen Kraft des Faktischen das Schräge, Fiktive und Krude entgegenstellen.
Satire in verschiedenen Kostümen: "Das Leben der Insekten" von Wiktor Pelewin
In Pelewins Roman begegnen dem Leser lauter Insekten mit artspezifischen Verhaltensmustern und ganz und gar menschlichen Zügen. Wesentliche (vielleicht einzige) Pointe des Romans ist, dass wir Leser die Welt durch ihre Augen sehen – naturgemäß facettenreich, aber auch simplizianisch. Der für Bühne und Kostüme zuständige David Gonter hat die Welt der Insekten zunächst auf eine Guckkastenbühne beschränkt, die als wunderbar schummrig ausgeleuchtete Erdhöhle eingerichtet ist. Durch verschiedene Öffnungen an den Wänden und dem Boden lässt es sich rein- und rauskrabbeln, dass es eine Freude ist. Ausstaffiert sind die Schauspieler mit phantasievollen Glitzerumhängen und angedeuteten Flügelchen, teilweise charmant abgerundet mit sanft schimmernden Hüftpanzern: Gregor Samsa im Starlight Express. Pelewins Roman wird akkurat und präzise auf Bühnenlänge zusammen gekürzt.
Was Regisseur Alexander Frank jenseits eines Kostümfestes mit der Romaninszenierung beabsichtigt, bleibt freilich lange unklar. Doch recht unvermittelt hebt sich der Bühnenvorhang, der Gonters Bühnenbauwerk rahmt; zugleich setzt die Drehbühne ein: die ganze Welt ein Theater. Konsequent, dass das Spiel von dieser Desillusionierung unbeeindruckt bleibt und fortgeführt wird, zugleich aber seinerseits in seiner Theatralität ausgestellt wird, weil nun auch Kostümwechsel zu sehen sind. Theatrum mundi fürs 21. Jahrhundert. Doch vor lauter barocker Theaterliebhaberei kommt leider zu kurz, dass die Vorlage mehr ist als Manierismus, nämlich eine Satire auf Russland Anfang und Mitte der 1990er Jahre. Ganz vergessen hat Frank das offenbar nicht. So prangte denn ein Bild eines grell geschminkten Putin an der Außenwand des Bühnenbaus. Arg plakativ, zumal im Vergleich zu dieser verspielten Inszenierung.
Vom Großen Haus aus geht es dann auf insgesamt fünf verschiedenen Routen entweder durch die Innenstadt, auf das Gut Leye am Stadtrand, auf zwei Routen auf das Firmengelände der Spedition Hellmann (mit der bereits bei vorausgehenden Festivals kooperiert wurde) und in den Vorort Sutthausen. Wir haben uns auf zwei Stücke konzentriert, die wie die Bearbeitung von Pelewins Roman in den Spielplan übernommen werden – eine bei den Spieltrieben von Beginn an übliche Praxis, die einmal mehr deutlich macht, dass das Festival über den Tag hinaus in den Theateralltag wirken soll.
Zerrspiegel der Realität: "Die Phobiker" von David Gieselmann
Die Innenstadtroute präsentiert zunächst ein Heimspiel. Auf der kleinen Osnabrücker Bühne, dem emma-Theater, folgt die Uraufführung von David Gieselmanns "Die Phobiker". Das Stück paart, wie bei seinen Komödien üblich, Schlagfertigkeit und die Bereitschaft, sich auch mal auf brachiale Komik einzulassen. Bei "Die Phobiker" erreicht er das durch das aberwitizige Setting, dass sich Claire (Andrea Casabianchi) und Clemens (Dennis Pörtner) schon am Abend vor ihrer Hochzeit eingestehen, sich auseinander gelebt zu haben. Zugleich ist die Firma von Clemens Vater (Thomas Kienast) nicht nur insolvent, er hat eine Brillenphobie, die sich u.a. in Krämpfen äußert, wenn er Menschen sieht, die Brille tragen. Natürlich tragen dauernd alle Brillen, die angehende Schwiegertochter hat jüngst ein Brillengeschäft eröffnet. Ergänzt wird dieser Wahnsinn durch einen bunten Strauß bester Einfälle, die das Stück zu einem kleinen Juwel wunderbarer Theaterunterhaltung machen können – und vielleicht sogar zu mehr.
Immerhin hat Gieselmann dem Stück mit den Freunden Siegrid und Steffo zwei vermeintliche Nebenfiguren beigegeben, die ein wenig traurig am Rand stehen und in ihrer kleinen Tragik viel Sympathie ernten. Das gilt zumal für Claire, die nicht nur eine wunderbare Figur ist, sondern in Marie Bauer, die schon in der letzten Spielzeit in Sidney Corbetts überregional begeistert wahrgenommenen "Das große Heft" als Sprecherin vom Potential ihrer Stimme überzeugen konnte, eine beeindruckende Darstellerin gefunden hat. Und weil die Komödie an sich meist ein Zerrspiegel der Realität ist, passt sich auch dieses Stück gut ins Motto der Spieltriebe ein. An sich also gute Voraussetzungen für einen netten Abend, zumal mit Christian Brey ein Regisseur gefunden wurde, der sich mit Komödie auskennt. Das Problem ist nur, dass Brey entweder in der Pflicht stand, auf Teufel komm raus einen Zeitplan einzuhalten, oder meinte, dass ein Wortfeuerwerk besonders beeindruckt, wenn es ohne Rücksicht auf Verluste abgebrannt wird. Warum auch immer. Gerade weil Brey die Schauspieler fast die gesamte Inszenierung hindurch in einem Wahnsinnstempo dampfplaudern lässt, geht dem Ganzen die Luft aus.
An Handke geschult: "Die Kunden werden unruhig" von Johannes Schrettle
Johannes Schrettles "Die Kunden werden unruhig" ist ein Beispiel dafür, dass bei diesen Spieltrieben erneut die Texte nicht nur sorgsam im Hinblick auf das Motto, sondern vor allem in künstlerischer Hinsicht ausgesucht wurden. "Die Kunden werden unruhig" ist ein metatheatraler Text, der vermeintliche Nebentexte und Handlungsschilderungen (und nur sehr selten Dialoge) wunderbar mixt. Erzählt wird die Geschichte einer Führungskraft, die die frei Schaffende und den nervösen Kollegen in eine Selbstbereicherungsgeschichte in der Finanzbranche verwickelt.
Wie sehr die Spieltriebe für das Theater eine Herausforderung sind, zeigt diese Inszenierung zumal, da neben Christine Diensberg als Führungskraft erneut Andrea Casabianchi und Dennis Pörtner, die die Hauptrollen bei "Die Phobiker" gaben, ran müssen. Aufgeführt wird das Stück in einer leer geräumten Halle der Spedition Hellmann. Draußen wird auch gegen 21:30 Uhr fleißig verladen und rangiert, so dass das Spiel trotz Mikro eine Herausforderung ist. Die Bühne (Lara Nikola Linnemeier) ist ein Podest, auf dem ein Sofa, ein weißer Teewagen, Tisch und Stuhl stehen. Was das je repräsentiert (Hotelzimmer, Büro), erzählen uns die drei. Doch nicht nur die Handlung wird immer wieder kommentiert, auch mit dem Publikum wird gerne ein Zwischenplausch gepflegt und die Souffleuse wird um Einsätze gebeten. Das funktioniert nicht zuletzt deswegen wunderbar, weil Regisseur Nick Hartnagel seinen Schauspielern Vertrauen entgegen gebracht und ihnen hinreichend Spielräume zugestanden hat, um in den Situationen den ästhetischen Anforderungen des Textes gemäß reagieren zu können. So hat dieser an Handkes Ästhetik der 60er geschulte Text eine Lockerheit, die den meisten Handke-Inszenierungen der Gegenwart abgeht. Spannend bleibt die Frage, wie sich diese Arbeit später im Spielplan bewährt, wenn sie im emma-Theater einen gänzlich anderen Rahmen bekommt.
Auch im fünften Durchlauf sind die Spieltriebe also ein äußerst lebendiges Unterfangen. Das thematisch wie ästhetisch zu begreifende Motto nehmen die Inszenierungen offensichtlich ernst. An sich ist das selbstverständlich, faktisch ist das längst nicht bei jedem Festival der Fall. Fast noch wichtiger aber ist, dass Osnabrück sich auch in den kommenden Monaten auf einen abwechslungsreichen Spielplan freuen kann. Dass an der einen oder anderen Stelle noch Feinschliff nötig sein wird, mag eine reale Herausforderung sein, gewiss aber keine totale.
Das Leben der Insekten (UA)
von Wiktor Pelewin, deutsch von Andreas Tretner
Regie: Alexander Frank, Bühne/Kostüme: David Gonter, Choreografie: Günther Grollitsch.
Mit: Patrick Berg, Maria Goldmann, Magdalena Helmig, Greta Kemper/Leander Kubillus, Oliver Meskendahl, Martin Schwartengräber.
Dauer: 70 Minuten
Die Phobiker (UA)
von David Gieselmann
Regie: Christian Brey, Bühne/Kostüme Anette Hachmann, Video Florian Rzepkowski.
Mit: Marie Bauer, Andrea Casabianchi, Marcus Hering, Thomas Kienast, Dennis Pörtner, Monika Vivell
Dauer: 95 Minuten
Die Kunden werden unruhig. Basierend auf 12 wahren Begebenheiten. (UA)
von Johannes Schrettle
Regie: Nick Hartnagel, Bühne: Lara Nikola Linnemeier, Kostüme: Linda Spoerl, Imke Hingst.
Mit: Andrea Casabianchi, Christine Diensberg, Dennis Pörtner.
Dauer: 90 Minuten
www.spieltriebe-osnabrueck.de
Mehr zu den Spieltrieben: Das Festival findet alle zwei Jahre statt. Hier der Bericht von der Ausgabe 2011.
Von einem "glänzend konzipierten" Festival berichtet Christine Adam für die Neue Osnabrücker Zeitung (online 8.9.2013). Wenn "Themen und Aussagen der Stücke und Spielorte in ihrer heutigen oder einstigen Funktion derart eng und durchdacht miteinander verzahnt werden wie bei diesen 'Spieltrieben', dann ermöglicht Theater Einblicke in laufende Produktionsprozesse von Realität, bevor sie abgeschlossen und nur aus der Rückschau heraus kommentierbar sind." In Johannes Schettles Stück "Die Kunden werden unruhig" würden modernste "Coaching-Methoden zur Optimierung der Arbeitsmoral augenzwinkernd" als raffinierte Tricks "zur persönlichen Bereicherung von Führungskräften" dargestellt, ohne dass der Text sich dabei "konkrete Anschuldigungen" ausspreche. Mit David Gieselmanns Komödie "Die Phobiker" rücke das Theater in "das Spannungs- und Interpretationsfeld zwischen Person und Welt".
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