Party machen im Korridor der Macht

von Andreas Wilink

Düsseldorf, 13. September 2013. Es ist ein Stück über Beweglichkeit. Und über Positions-Bestimmungen. Manchmal ist die Bühne das mobilste Element, wie bei Stefan Bachmann, der für Dresden den Parasit zwischen Olaf Altmanns Dreh- und Falt-Wandflächen in die Zange nahm, sodass beinahe ein Menschlein zerquetscht wurde. Manchmal verselbständigt sich die Mechanik und Motorik und bewegt sich nur in leerer Virtuosität. So war das bei Matthias Hartmann und Michael Maertens in Bochum, später Zürich. Womöglich lässt sich die Aufführungs-Praxis auch entlang von Theorie bewegen und ein Gespräch über die Macht und den Machthaber führen, wie Nurkan Erpulat es in Düsseldorf beabsichtigt.  

Der Sündenfall bei diesem Stück, das Friedrich Schiller nach der französischen Sittenkomödie des Louis-Benoît Picard von 1803 bearbeitete, besteht darin, Rabatz zu machen, auf den Putz zu hauen und gefallsüchtig mit Kunststückchen zu jonglieren, anstatt zu sezieren und zu analysieren. Wenn man nicht aufpasst, erscheint das Theater als opportunistische Anstalt – mindestens so sehr wie die Gesellschaft um die Herren Narbonne, Selicour, La Roche und Firmin. 

parasit 001 280 hoch ensemble fotosebastianhoppe uEin echter Guttenberg: "Parasit" Selicour (vorne) 
© Sebastian Hoppe

Ich bin ein Düsseldorfer

Der "Parasit" Selicour hat sich ins Vertrauen des neuen Ministers Narbonne geschlichen, buckelt, scharwenzelt, redet nach oben hin schön und tritt nach unten, wo es nicht drauf ankommt, kann nichts und leistet wenig, hat weder Talent noch Tugend, verbirgt dies aber mit Geschick, sodass er unentbehrlich scheint. Ein Mémoire von anderer Hand gibt er als seines aus, eine Vers-Romanze für des Ministers Tochter Charlotte behauptet er, geschrieben zu haben. Und weil Erfolg in den Chefetagen oft über das Boudoir der Damen geht, spannt er Madame Belmont, La Mère du Ministre, für seine Zwecke ein. 

Schmeichler Selicour ist bei Erpulat, der die Saison des Düsseldorfer Schauspiels im Kleinen Haus eröffnet, nach seinem vorherigen Herrn Kolpert von David Gieselmann sowie Horváths Kasimir und Karoline wiederum Düsseldorfer, zumindest der Ausstattung und des Konsumverhaltens nach. Andererseits, eine zur Schau gestellte Prada-Tüte zettelt noch keine Wertedebatte an.   

Lehman Brothers mit Mobbing-Expertise

Gut drauf im Disco-Rhythmus zur Klassik-Light-Musik, hält Selicour grinsend, wendig und windig seine Extremitäten elastisch. Und wie ein echter Guttenberg ist er heimlicher Rock'n'Roller. Währenddessen fliegt ein anderer raus aus der Stellung ­– auch ein Büromensch, der seine kartonierte Ablage einpacken muss wie ein Lehman Brother. Dieser Laroche (Christian Ehrlich), ein biederer Normalfall, wird zum Widersacher und Entlarver seines früheren Jugendfreundes, den er selbst aus der Provinz nach Paris geholt und ins Amt gebracht hat.

Der Parasit und seine Gastorganismen sind Aktentaschen-, Steppjacken- und beigefarbige Beinkleid-Träger, die Mobbing vermutlich schon aus der Stellenausschreibung kennen und vertraut sind mit der Generation Praktikum. Nur Narbonne (Moritz Führmann) bringt Farbe ins Spiel als Freizeit-Attrappe, bunt ausstaffiert wie für ein Ferien-Weekend in Westerland.

parasit 021 560 ensemble fotosebastianhoppe uEnsemble im Pressspan  © Sebastian Hoppe

Die versammelte Angestelltenkultur, vorstellbar in Management, Verwaltung oder Behörde, gerät schnell außer Atem, ohne gleich in administrative Ekstase oder in existentiellen Schluckauf zu verfallen. Carl Schmitts "Korridore der Macht", die Florian Jahr als Selicour beflissen, scheinbar extemporierend und wie in Paranthese zitiert und die Andrea Breth in Schillers "Don Carlos" am Wiener Burgtheater so sehr suggestiv ausgeleuchtet hatte, sehen auf Kathrin Froschs Bühne arg behelfsmäßig aus: gezimmert aus Pressspan, möbliert in Rank Xerox- und Blattpflanzen-Dekor und ästhetisch unterhalb ministeriellen Formats.

Adrettes "Socialising"

Mit dem Boulevard-Realismus, der sich gelegentlich eine schräge Geste leistet, stumme erotische Zwischenspiele zur bürgerlichen Demontage nach Dienstschluss einbaut und ein bisschen Kunstkritik mit einer Luftballon-Hase-Skulptur übt, ist wenig Staatstheater und noch weniger Anarchie zu machen. Aber offenbar quietsch-fröhliche Laune. Eine Gefälligkeit für das Haus am Gründgens-Platz in intimer Nähe zur Kö, das einen Intendanten und mehr denn je seine Identität sucht. Die adrette Form des "socialising", für die Selicour steht, auch wenn er auffliegt, taumelt und am Ende nahezu hingerichtet am Boden liegt, gefällt von der Spielbox-Kulisse wie von der Guillotine, passt auch auf die Aufführung. Schillers beherzte Moral, dass der Schein die Welt regiere und Gerechtigkeit nur auf der Bühne sei, ließe sich demnach bequem umkehren.

 

Der Parasit oder Die Kunst sein Glück zu machen
von Louis-Benoît Picard, übersetzt von Friedrich Schiller
Regie: Nurkan Erpulat, Bühne: Kathrin Frosch, Kostüme: Michel Graessner, Musik: Henning Beckmann, Dramaturgie: Ludwig Haugk.
Mit: Christian Ehrich, Moritz Führmann, Florian Jahr, Marian Kindermann, Gregor Löbel, Dirk Ossig, Verena Reichhardt, Stefanie Rösner, Patrizia Wapinska.
Dauer: 1 Stunde und 45 Minuten, keine Pause

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

Kritikenrundschau

"Hausregisseur Nurkan Erpulat zeigt mit seiner amüsanten Inszenierung, dass die Sozialkomödie auch heute noch als Spiegel des Politikbetriebs taugt", berichtet Britta Helmbold in der Dorstener Zeitung (online 15.9.2013). Verhandelt werde in dieser Inszenierung die "Neupositionierung der Glückssucher im Vorraum der Macht", so die Kritikerin. "Leicht karikierend angelegt und spielfreudig vom Ensemble umgesetzt bescherte Erpulat einen launig-heiteren Spielzeitauftakt."

Nurkan Erpulat inszeniere "einen Blitzkurs in modernem Management", so Petra Kuiper auf dem Portal Der Westen (15.9.2013): "Einer kommt, einer geht, und alles bleibt gleich, weil die, die anders sind, gar nicht bis oben kommen. Was in diesem Ministerium entschieden wird, bleibt egal. (...) Die Regie mag die Figuren nicht, keine von ihnen. Was für ein verlogener, dummer Haufen, der seine Erfüllung im Biegen von Luftballontierchen findet." Hauptdarsteller Jahr sei "nicht brillant, aber gut; dass er selbst als Schleimer ein Sympathieträger ist, gibt die Vorlage her". Fazit: "ein unterhaltsamer Abend", auch wenn er einen ob des Ausgangs der Geschicht' nicht zufrieden sein lässt.

Geschmeidig bewege sich Florian Jahr in seiner Rolle des "Parasiten", so Marion Troja von der Westdeutschen Zeitung (16.9.2013). "Er kann die einnehmenden Züge seines Gesichts sekundenschnell zur machtbesessenen Fratze erstarren lassen." Erpulat beschere den Zuschauern "einen großartigen Theaterabend" und einen "großen Spaß". Er bewege sich damit "nah am Volkstheater und hält doch fast immer ein überzeugendes Niveau". Die Figuren seien stark überzeichnet, bei der Sprache setze er mit einer nicht ganz stimmigen Ausnahme (zu großer Kontrast von Schiller-Sprache und Berliner Slang) "auf die literarische Vorlage und schafft so eine Verbindung von damals zu heute, die auf der Bühne nicht nur gut funktioniert sondern auch hervorragend unterhält".

"Ein echter Schiller ist das Stück nicht, dazu mangelt es an Biss und Tiefe, eher eine hübsch gewickelte Mogelpackung, die nichts falsch machen und vor allem vergnügen will", schreibt Regine Müller in der taz (17.9.2013). Das passe zum Zustand der Lähmung, in dem sich das Düsseldorfer Schauspielhaus nach dem Schock des plötzlichen Abgangs seines glücklosen Intendanten Staffan Valdemar Holm im vergangenen Herbst noch immer befinde. Nurkan Erpulat führe die Schauspieler souverän und temporeich, kleine musikalisch unterlegte pantomimische Intermezzi sorgten für schräge Brechungen der ansonsten ziemlich unverhohlen boulevardesken Regie. "Das amüsierfreudige Düsseldorfer Publikum ist begeistert." Für den Saisonauftakt eines der größten deutschen Theater sei diese Petitesse aber doch arg defensiv.

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