10. GlückAufFest Wirklichkeit – Das Theater Senftenberg überfliegt Texte und gesellschaftliche Wirklichkeiten
Aufklärungsflug durch gesellschaftliche Wirklichkeiten
von Hartmut Krug
Senftenberg, 14. September 2013. Die Neue Bühne Senftenberg hat sich in den (funktionierenden) Flughafen Senften-BER verwandelt, mit Gates, Terminals, Transitraum und zahlreichen, unterschiedlichsten gastronomischen Angeboten. Hinein kommt man nach obligatorischer Körperkontrolle. Dann geht es durch enge Gänge in die offene Wartehalle, wo der Flugkapitän (Intendant Sewan Latchinian) auf einer Hebebühne zum Sektempfang für das Publikum und für das Einläuten mit der alten Bergwerksglocke einschwebt. Schließlich spaziert man hinter einem Auto und dessen "Follow me"-Leuchtschrift einmal um das Theater herum, zurück zum Theatereingang mit Wurst- und Getränkestand.
Die jährlichen Glückauffeste in Senftenberg sind nicht einfach nur bunte, auch zeitlich ausufernde Spektakel. Sondern Theaterfeste, die in Inhalt und Verpackung immer einem ganz konkreten Thema verpflichtet sind. Diesmal heißt es "Wirklichkeiten" und ist als Aufklärungsflug durch gesellschaftliche Wirklichkeiten und Wahrnehmungen unserer Gegenwart inszeniert. Grundlage sind allerdings nicht Theaterstücke, sondern Prosatexte.
Aufgepumptes BRD-Kleid
Es beginnt mit Ingo Schulzes Dresdener Rede vom Februar 2012, in der er die Kommerzialisierung des gesellschaftlichen Lebens nach dem Beitritt der DDR zur BRD analysiert und anprangert. Regisseur Sewan Latchinian zeigt zu Beginn eine Rezitation des Märchens von "Des Kaisers neue Kleider" als Schattenriss hinterm Vorhang, dann kommt der Schauspieler Bernd Färber im aufgepumptem Ganzkörperkostüm vor den Vorhang, also zu uns in seine Garderobe. Während er sich abschminkt und umkleidet, redet er das Publikum Einverständnis heischend an. Ganz ohne Pathos spricht er über die Treuhand und den Umgang mit der DDR, über angeblich alternativlose Politik und offenbare soziale und ökonomische Polarisierung. So nimmt er die Begriffe auseinander, untersucht die Wirklichkeit und macht spielerisch und witzig deutlich, dass auch in unserer Wirklichkeit alles wie im Märchen, obwohl offensichtlich, nicht benannt wird. Die Sprache der Politiker als die neuen Kleider... Schließlich verwandelt sich Färber mit beiläufiger Virtuosität in Angela Merkel und wird ins Studio gerufen. Ein munterer Auftakt.
Mit dem Rücken zum Publikum
Sprachlastig und eindeutig geht es auch weiterhin an diesem Abend zu. Der volle zehn Stunden dauert und den Zuschauer mächtig fordert. Auch wenn es viele Pausen für Umbau und Erholung der Gäste bei Speis und Trank gab: Liegestühle im Hof, Container als lauschige, mit Stroh ausgelegte Rückzugszimmer und unterschiedlichste Gaststätten und Pubs, mit Flugente und Airmeat. Doch bei Christoph Heins "Weiskerns Nachlass" wurde die Flugmetapher zur störenden Klammer. Denn die Geschichte des Geisteswissenschaftlers Stolzenburg wird in einem Flugzeug gezeigt, und die Situationen stimmen damit oft nicht. Die Schauspieler, anfangs in Sitzreihen mit dem Rücken zum Publikum, sprechen den Flugalptraum der Hauptfigur chorisch. Man bleibt im Flugzeug, steigt aus einer Bodenluke herauf oder kommt mit Kapitänsmütze wie aus dem Cockpit. Regisseur Latchinian setzt auf äußerliche Effekte. Hier passiert unentwegt etwas auf der Bühne, aber nicht mit den Figuren. Heins Text wird in Wirkungsbildern veräußerlicht und verfehlt, seine Hauptfigur bewegt sich weder innerlich noch äußerlich. Die Senftenberger Dramatisierung konzentriert sich dabei auf die privaten Beziehungsprobleme Stolzenburgs, der kaum als vom Absturz ins Prekariat gefährdeter Geisteswissenschaftler deutlich wird (wie in der brillanten Weimarer Inszenierung vom letzten Wochenende).
Umjubelte Vorführung
Eine Lesung von Rainald Goetz Roman "Johann Holtrop" wurde dann zum, ja, theatralen Höhepunkt des Abends. Die Geschichte vom Absturz eines so egomanischen wie wirklichkeitsfremden, erfolgreichen Vorstandsvorsitzenden ist ein virtuoses Psychogramm aus einer auch pathologischen Managerwelt, der selbst ihre Klischees nichts anhaben können. Sewan Latchinian liest sie, unterstützt von den Schauspielerinnen Eva Kammigan und Anna Kramer, mit drängender Energie. Zunächst sitzt er im engen, mit Holz verkleideten Zimmer, die Beine übergeschlagen, den Text wie eine Überzeugungswaffe vorzeigend, und hat sich im Griff. Je mehr er den Kontakt zur Realität verliert, umso mehr verrenkt er sich im Raum, sucht sich gegen die Wände zu stützen oder macht Kopfstand. Dann geht er die Wände hoch, krabbelt an der Decke entlang, um schließlich, in der Psychiatrie, in der Zimmerecke zu kauern. Das alles kann Latchinian, weil an seinem Dokumentenkoffer eine Kamera befestigt ist, die den am Boden bleibenden Darsteller so filmt, dass seine Wanderung durch den Raum filmische Wirklichkeit wird. Eine zu Recht umjubelte Vorführung.
Salzgesprenster und Bergattrappen
Der Volker Brauns düster-schwergewichtige gesellschaftliche Phantasie "Die hellen Haufen" folgte. Auch sie in der Inszenierung von Hausherr Sewan Latchinian (nur der muntere Liederabend Hans-Eckardt Wenzels, in dem zum Abschluss des überlangen Abends kurz vor zwei Uhr morgens einige Schauspieler ihr beachtliches komödiantisches und sängerisches Vermögen vorführten, fand ohne den Hausherrn statt). Brauns Text imaginiert, durchsetzt mit historischen Reminiszenzen an den Bauernaufstand, einen Aufstand, der nicht stattgefunden hat. Es geht um die Schließung der ostdeutschen Salzbergwerke nach der Wende, um Treuhand und Proteste, um einen Marsch nach Berlin und die Menschen, die sich in eine neue Zeit zu finden suchen.
In Senftenberg kommen die Arbeiter weißbestäubt daher, wie Salzgespenster. Die Episoden, von einem Erzähler und einer Erzählerin vorgetragen, werden durch stille Filme, oft mit Negativ-Bildern, ergänzt und kommentiert. Auf der Bühne, zwischen schrägen, an Halden erinnernden Bergattrappen, finden dann lautstarke Aktionen von Kämpfer- und Protestiertrupps statt. Es wird sowohl erzählt als auch vorgespielt, doch die historischen Anklänge und philosophischen Überlegungen Brauns scheinen zugunsten der reinen spielerisch effektheischenden Berichterstattung weitgehend ausgelassen. So wird der Zuschauer fast erschlagen von der sich aktionistisch aufplusternden Spielweise. Mancher um mich herum wachte dabei, weit nach Mitternacht, erst in den heftigen Applaus hinein wieder auf.
Wer aber dann noch die Kraft hatte, nach erneuter Pause zu Wenzels Liederabend zu gehen, wurde gut unterhalten und ging frohen Mutes heim.
10. GlückAufFest "Wirklichkeit"
Unsere schönen neuen Kleider
Gegen die marktkonforme Demokratie – für demokratiekonforme Märkte (UA)
von Ingo Schulze
Regie: Sewan Latchinian, Ausstattung: Tobias Wartenberg, Dramaturgie: Igor Holland-Moritz, Stagemanagement: Mirko Warnitz, Heidrun Gork
Mit: Bernd Färber
Weiskerns Nachlass
von Christoph Hein
Bühnenfassung von Kathi Liers
Regie: Sewan Latchinian, Ausstattung Tobias Wartenberg, Musik: Rainer Schnös, Dramaturgie: Gisela Kahl, Stagemanagement: Christina Linser, Mirko Warnatz, Ingo Zeisig.
Mit: Alexander Wulke, Juschka Spitzer, Inga Wolfff, Roland Kurzweg, Eva Kammigan, Till Demuth, Jan Schönberg, Heinz Klevenow, Anna Kramer, Hanka Mark, Friedrich Rökßiger, Johannes Moss, Catharina Struwe, Bernd Färber, Sabrina Frank, Sybille Böversen, Mirko Warnatz, Ulrich Münzberg, Alfred Tempel.
Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft (Lesung)
von Rainald Goetz
Regie: Sewan Latchinian, Ausstattung: Stephan Fernau, Musik: Maxim Latchinian, Dramaturgie: Martin Stefke, Stagemanagement: Ramona Bransch, Ingo Zeisig.
Mit: Eva Kammigan, Anna Kramer, Sewan Latchinian.
Die hellen Haufen
von Volker Braun
Fassung der Neuen Bühne Senftenberg
Regie: Sewan Latchinian, Ausstattung und Filmsequenzen: Katharina Sichtling, Musik: Wallahalla, Dramaturgie: Gisela Kahl, Igor Holland-Moritz, Stagemanagement: Christina Linser, Heidrun Gork, Mirko Warnatz
Mit: Sybille Böversen, Anna Kramer, Hanka Mark, Juschka Spitzer, Catharina Struwe, Inga Wolff, Till Demuth, Bernd Färber, Heinz Klevenow, Roland Kurzweg, Johannes Moss, Friedrich Rößiger, Jan Schönberg, Franz Sodann, Alexander Wulke.
Auf dem Flughafen nachts um halb eins... Ein aerodynamischer Liederabend (UA)
von Hans-Eckardt Wenzel
Buch, Musik und Regie: Hans-Eckardt Wenzel, Ausstattung: Maria Frenzel, Dramaturgie: Martin Stefke, Stagemanagement: Ramona Bransch, Ingo Zeisig.
Mit: Sybille Böversen, Hanka Mark, Inga Wolff, Bernd Färber, Jan Schönberg, Mirko Warnatz und der Band Wallahalla (Hannes Schindler, Bernd Dölle, Uli Elsäßer).
www.theater-senftenberg.de
Der Senftenberger Intendant Sewan Latchinian übernimmt 2014 die Leitung des Volkstheaters Rostock. Mehr im Lexikon.
Den Roman Johann Holtrop von Rainald Goetz besprach Wolfgang Behrens im September 2012 für nachtkritik.de. Die hellen Haufen liefen im Februar 2013 in Rudolstadt, dort von Hans-Eckardt Wenzels altem Kompagnon Steffen Mensching inszeniert.
Auf diesem "Langstreckenflug in die Wirklichkeit" würden die Gäste originell unterhalten und kulinarisch verwöhnt, schreibt Rainer Kasselt in der Sächsischen Zeitung (17.9.2013). "Fünf der wichtigsten Autoren des Landes auf einen Streich, das muss man den Senftenberger Himmelsstürmern erstmal nachmachen." Als Höhepunkt macht Kasselt "Die hellen Haufen" aus. "In beeindruckenden Szenen und Filmsequenzen zeigt das hoch engagierte Ensemble, wie die Bergleute von der Treuhand verhökert wurden." Insgesamt "ein starkes Abschiedsgeschenk" von Latchinian vor seinem Abflug nach Rostock, schließt der Rezensent.
Auch Stephanie Philipp ist in der Märkischen Allgemeinen Zeitung (16.9.2013) angetan von dem gut zehnstündigen Theaterspektakel, als dessen "unbestrittenen Höhepunkt" sie die Lesung von Rainald Goetz' "Johann Holtrop" durch Noch-Senftenberg-Intendant Sewan Latchinian selbst bezeichnet. "In diesem Jahr wird das Theater zum 'Flughafen Senften-BER'", schreibt Philipp, "und im Gegensatz zum pannenbelasteten Pendant läuft hier alles reibungslos." In seiner Inszenierung von Ingo Schulzes „Unsere schönen neuen Kleider“ lasse Latchinian witzig und unterhaltsam die „neuen Kleider“ der Gesellschaft analysieren. Die dramatische Fassung von Christoph Heins "Weiskerns Nachlass" lasse das Publikum nicht durchatmen. "Ganz anders und vor allem deutlich bedrückender: 'Die hellen Haufen' von Volker Braun. Laute Momente wechseln sich hier ab mit ruhigen Monologsequenzen." Die düstere Stimmung und das in nur wenig Licht getauchte Bühnenbild forderten die Zuschauer zu später Stunde.
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Einen solchen Flug zu erdenken, zu wagen und durchzuziehen, finde ich großartig. Ohne Notlandung, ohne Bruchlandung, toll.
Allein, wie die Techniker, viermal komplett die selbe Bühne umgebaut haben, da hab ich sehr gern in den Pausen etwas zu lange gewartet.
hab den weimarer weiskern gesehen, aber fand den senftenberger spannender, gerade wegen der individuelleren, privateren sicht auf stolzenburg. alexander wulke war entdeckung für mich.
das soziale und prekäre wird ja in den hellen haufen sehr emotional berührend thematisiert.
klar, bei latchinians holtrop, hatte ich theatertreffenverdächtige empfindungen, aber auch fast alle schauspielerinnen, z.b. inga wolff, anna kramer, juschka spitzer oder hanka mark, werden immer spannender. oder sabrina frank fand ich viel tiefergehend als bei till schweigers mission hollywood.
immer wieder erstaunlich diese neue bühne senftenberg...
also ich bin potsdamerin. und potsdam ist kein stadtteil von senftenberg, auch wenn es in theatralischer hinsicht manchmal schön wäre...