Einseitig aufrüttelnd

von André Mumot

18. September 2013. Es ist nun nicht weiter erstaunlich, dass jemand, der viel mit dem Theater zu tun hat, ein Buch schreibt, in dem es darum geht, wie nutzlos das Gegenwartstheater ist, und dass man doch bitte wieder den Realismus auf die Bühne bringen sollte. Schon ungewöhnlicher ist aber, dies gleich mit einem gesellschaftskritischen Rundumschlag zu verbinden und das dramatische Darstellungsversagen mit einem Versagen des spätkapitalistischen Subjekts schlechthin gleichzustellen.

cover stegemann kritik des theaters 180Bernd Stegemann hat sich jetzt jedenfalls auf 300 Seiten den Frust von der Seele geschrieben und seine eigene "Kritik des Theaters" verfasst, einen provozierenden Wutanfall in gemessener Diktion, die es gleichwohl in sich hat. Jener Bernd Stegemann, der bis 2007 drei Jahre lang Dramaturg am Deutschen Theater Berlin war und seitdem als Dramaturg an der Schaubühne wirkt, von 2009 bis 2011 gar als Chefdramaturg, der dazu seit 2005 Professor für Dramaturgie und Theatergeschichte an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch", Publizist und fleißiger Buchherausgeber ist, will das Theater als Mitschuldigen überführen.

Mitschuldig an einer Gegenwart der utopiefreien Affirmation, in der Kapitalismuskritik längst vom Kapitalismus aufgesogen wurde und in der Regel selbst nicht viel mehr bedeutet als marktkonformer Egoismus: "Wer bei der Abholzung einiger Bäume Amok läuft, nur weil sie gerade zu seinem Stadtviertel gehören, sich aber keinerlei Gedanken über die Profitinteressen und Opfer seines übrigen Alltags macht, kann getrost als narzisstischer Wutbürger beschrieben werden."

Die kapitalistische Avantgarde

Ein besonderer Dorn ist Stegemann das Prinzip der allgegenwärtigen Performanz von Flexibilität und Kreativität, das er in der freien Wirtschaft ebenso am Werke sieht wie in der Kunstproduktion. Das Stadttheater bezeichnet er "als Musterschüler neoliberalen Wirtschaftens", die freie Szene wegen ihres Einverständnisses mit "der Form des projektbasierten Ausbeutungsregimes" als "die kapitalistische Avantgarde".

Stegemanns Buch ist in seiner Weltuntergangsdiagnostik dabei so einseitig wie aufrüttelnd und steigert sich zum mitleidlosen Abgesang auf sämtliche Darstellungs- und Inszenierungsgewohnheiten des postmodernen und postdramatischen Theaters, das dank seiner Ironie und seiner cleveren Selbstreferentialität zum Komplizen der gesellschaftlichen Verhältnisse wird: "Es ist dabei unerheblich, ob die Theatermacher sich als Stachel im Fleisch der Mächtigen, als Provokateure oder ausgefuchste Innovationsexperten darstellen möchten. Ihr Publikum nimmt die Überraschung als erwartet und die Zumutung als erhofft entgegen."

Verstehen, nicht erleben

Man watet bisweilen mit Mühe durch diese weit ausholende professorale Spielverderberei, doch man kann es nicht leugnen: Stegemanns Problembeschreibung ist nicht nur verlockend polemisch, sie trifft auch oft genug ins Schwarze. Angeklagt wird ein Theater, das sich hinter klischeehafter Realitätsskepsis versteckt, das überall nur Uneigentlichkeit oder Augenblicks-Authentizität performt und das "Verstehen durch das Erleben" ersetzt.

Gefordert hingegen wird eine "Wiedergewinnung dialektischen Denkens und dialektischer Weltbeschreibung", ein neues Theater, das die Realität wieder abbilden soll und in dem Schauspieler auftreten, die das Handwerk der Mimesis beherrschen. "Denn nur wenn die Realität als erkennbare gedacht wird, kann dasjenige an ihr realistisch dargestellt werden, was das Unrecht in ihr zu verstecken versucht."

Es mag irritieren, wie der Autor in den Ausdrucksformen des Gegenwartstheaters immer nur und ausschließlich den spätkapitalistischen Verblendungszusammenhang und niemals konkrete und tatsächlich aufstörende Weltauseinandersetzung findet, die es ja zweifellos auch auf deutschen Bühnen gibt. Man kann auch getrost skeptisch bleiben, ob seine Vorstellung eines realistischeren Spiels tatsächlich die große Erlösung bringen würde.

Seinem bärbeißigen, kompromisslosen Eintreten für ein intelligentes Theater, das gesellschaftsrelevante Inhalte transportieren und nicht nur mit seiner Spieloriginalität protzen möchte, sollte man sich allerdings keineswegs entziehen. "Die Herausforderung", das stellt Bernd Stegemann jedenfalls sehr richtig fest, "besteht darin, den Wald trotz der vielen Bäume noch sehen zu wollen".

 

Bernd Stegemann:
Kritik des Theaters
Verlag Theater der Zeit, Berlin 2013, 335 S., 24,50 Euro

 

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