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Marcel Reich-Ranicki verstorben

Der Herr der Bücher

18. September 2013. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ist im Alter von 93 Jahren in Frankfurt am Main verstorben. Reich-Ranicki, 1920 in Włocławek/Polen geboren und von 1929 bis zu seinem Abitur 1938 in Berlin zur Schule gegangen, war langjähriger Kritiker und Literaturredakteur der Wochenzeitung "Die Zeit" und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er die Frankfurter Anthologie herausgab. Er gilt als renommiertester Literaturkritiker der Nachkriegszeit und erlangte über das Print-Feuilleton hinaus große Popularität durch die ZDF-Sendung "Das Literarische Quartett", die er mit dem Bertolt-Brecht-Zitat (aus "Der gute Mensch von Sezuan") zu beenden pflegte: "Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen". Seine Autobiographie "Mein Leben" aus dem Jahr 1999, in der er auch sein Überleben des Warschauer Ghettos schildert, wurde zum Bucherfolg.

In jungen Jahren ein regelmäßiger Theater- und Operngänger galt die Liebe des Kritikers doch überwiegend der Lyrik und der Romanliteratur – der klassisch modernen von Autoren wie Thomas Mann ebenso wie der unmittelbaren Gegenwartsliteratur, die er in Hymnen wie in harschen Verissen (nachzulesen etwa in seinen Rezensions-Sammlungen "Lauter Lobreden" von 1985 und "Lauter Verrisse" von 1970) begleitete. Reich-Ranicki war Mitglied der Gruppe 47, dem prägenden Schriftstellertreffen der Nachkriegsjahre in der Bundesrepublik, auf dem zwischen 1947 und 1967 regelmäßig Texte öffentlich vorgetragen und zur Diskussion gestellt wurden und zahlreiche neue Autoren der BRD ihre Karriere starteten. 1977 gehörte Reich-Ranicki zu den Initiatoren des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt.

Über Dramenliteratur äußerte sich Reich-Ranicki des Öfteren in seiner bis zuletzt gepflegten FAZ-Rubrik "Fragen Sie Reich-Ranicki", etwa 2010 anlässlich einer Frage Claudia Roths, welche Wirkung Brecht mit seiner Dramatik erzielt habe. Reich-Ranicki in gewohnt lakonischer Pointierung: "Hat Strindberg etwa das Eheleben der Bürger gebessert? Hat Gogols 'Revisor' die Bestechlichkeit im zaristischen Russland gemindert? Haben die Tragödien und Historien Shakespeares auch nur einen einzigen Mord verhindert? Fragen wir ganz ungeniert, Brechts Lieblingsverbum verwendend: Hat Shakespeare die Welt verändert? Aber ja, er hat sie sehr wohl verändert, aber nur, indem er, ähnlich wie Mozart oder Schubert, zur vorhandenen Welt sein Werk hinzugefügt hat."

(chr)

 

Presseschau/Hinweise

-Nachruf in der taz von Ina Hartwig

-Nachruf in der Neuen Zürcher Zeitung von Andrea Köhler

-Nachruf in der Welt von Ulrich Weinzierl

-Nachruf auf süddeutsche.de von Ruth Schneeberger, Reaktionen aus Politik und Kulturszene

-Das erste "Literarische Quartett" vom 25. März 1988 in der ZDF Mediathek

-André Müller interviewt Reich-Ranicki im Jahr 2000

-Nachruf auf den Theatergänger MRR von Gerhard Stadelmaier

 

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Kommentare  
Marcel Reich-Ranicki: geistige Unabhängigkeit
Ich war nicht immer seiner Meinung. Aber seine Art der Meinungsäußerung, die er oft genug im Garten der Meinungsvielfalt aufgehen ließ, sein Kopf also, sein Denken, haben mir schon in jungen Jahren sehr imponiert: seine Urteilskraft, seine Leidenschaft, seine Besessenheit, seine geistige Unabhängigkeit, die ihn kompromisslos machte. Es schimmerte immer Existenzielles auf, wenn er sich äußerte. Als sei's eine Sache auf Leben und Tod. Eigentlich ein bernhardesker Charakter. Ich habe den allergrößten Respekt vor seiner Lebensgeschichte: seiner Entscheidung, in Deutschland zu leben und zu arbeiten. Traurig, dass er nun tot ist.
Reich-Ranicki: nicht
ich muss das in aller offenheit sagen: ich nehme diese todesnachricht nicht an.
Marcel Reich-Ranicki: Maßstäbe des sozialistischen Realismus
Als ich gestern in der Staatsbibliothek in der Zeitschrift "Die Neue Gesellschaft. Populärwissenschaftliche und Kulturpolitische Monatszeitschrift der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft", 1951/11, die Eloge von Marceli Reich auf Erich Weinert anlässlich der Verleihung des Stalin-Preises an Weinert las, wusste ich, woher die ästhetischen Maßstäbe kamen, die ihn populär machten: Sozialistischer Realismus.
Volkstümlichkeit, verständliche Inhalte statt formalistischer Experimente, Ausrichtung an den Klassikern, aus dem Leben gegriffene Stoffe, gerne mit einem Ausgang, der den Menschen Mut macht, statt depressiv usw....
Marcel Reich-Ranicki: zu ideologisch
@ Guttenberg: Sozialistischer Realismus? Oh je, bloß das nicht. Kann ich mir gar nicht vorstellen. Ist doch viel zu ideologisch.
Marcel Reich-Ranicki: das Literaturverständnis seiner Zeit
Ach Guttenberg, was reden Sie da für ein Zeug. Dass Reich-Ranicki seine Maßstäbe aus dem Realismus - eher dem bürgerlichen, als dem sozialistischen - bezogen hat, ist als Erkenntnis so originell wie der Vorschlag, Milch in den Kühlschrank zu stellen, damit sie nicht sauer wird. Als Zeuge für den Sozialistischen Realismus eignet sich Erich Weinert trotz seinen politischen Überzeugungen nun wirklich nicht. Kennen Sie seine Gedichte? Als Satiriker steht er irgendwo in der Nähe von Erich Kästner und Kurt Tucholsky. Und nennen Sie bitte die (west)deutschen Kritiker, die 1951 (!) für formalistische Experimente eintraten, die Arno Schmidt oder Alfred Döblin den "an den Klassikern ausgerichteten" Böll oder Bergengruen vorzogen. Bei Lebzeiten hätte ich mir mehr Widerstand gegen Reich-Ranickis Literaturverständnis gewünscht. Ein paar Tage nach seinem Tod ist das nur schäbig.
Marcel Reich-Ranicki: 2001?
@5: "Und nennen Sie bitte die (west)deutschen Kritiker, die 1951 (!) für formalistische Experimente eintraten"

Und 2001?
Marcel Reich-Ranicki: H-Milch und Kühlschrank
@5:
Nehmen Sie sich in ihrem paternalistischen Ton nicht etwas viel heraus?
Wir sind schließlich nicht Ihre Kinder.
Und noch was. H-Milch müssen Sie nicht in den Kühlschrank stellen. Da muss man halt differenzieren.
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