Als die Nachtkritik erfunden wurde

von Esther Slevogt

Berlin, 18. September 2013. In Europa sortiert sich die politische Ordnung neu. Neue Medien stellen die Struktur der Öffentlichkeit auf den Kopf und sorgen in der Phase ihrer Implementierung für ein allgemeines Krisengefühl, das einem gefühlten Kontrollverlust über die Diskurshoheit geschuldet ist. Denn plötzlich ergreifen neue Stimmen das Wort, die zuvor am öffentlichen Gespräch nicht beteiligt waren. Und verändern es nachhaltig.

In Berlin zum Beispiel, wo die Nachtkritik erfunden wird. "Eine neue Kunst ist erfunden worden, das Hohe herabzuziehen, das, was bisher nur für Kenner da war, im schlimmsten Sinne populär zu machen, und ohne etwas zu verstehen über Alles abzusprechen", kritisieren etwa drei berühmte Zeitgenossen das neue Format. Der Schriftsteller Friedrich de la Motte Fouqué ist einer von ihnen, sein Kollege Willibald Alexis ein weiterer. Friedrich Gubitz, Theaterkritiker der Vossischen Zeitung, gehört ebenfalls zu den Kritikern der Nachtkritik, die so schnell wie nie zuvor über Theaterpremieren schrieb, und vor allem für eine breite, neue Öffentlichkeit.

Die Zeitungs- und die Theaterkrise

Doch wir schreiben nicht das Jahr 2007, als nachtkritik.de gegründet wurde, sondern das Jahr 1828, und der Attackierte heißt Moritz Gottlieb Saphir, Schriftsteller, Zeitungsherausgeber, Theaterkritiker und Nachtkritikerfinder. (Auf den sich freilich die Gründer von nachtkritik.de 2007 nicht von ungefähr beriefen.) Und der nun einer der zentralen Protagonisten von Meike Wagners Studie "Theater und Öffentlichkeit im Vormärz" ist, der Habilitationsschrift der Münchner Theaterwissenschaftlerin.

meikewagner vormaerzDarin geht sie, vor der Folie heutiger Erosionsprozesse in der Zeitungs- und Theaterlandschaft, noch einmal in die Zeit vor fast 200 Jahren zurück, als sich im Vormärz Theater und Zeitung als neue Medien im gesellschaftlichen Diskurs ebenso wie in der gesellschaftlichen Praxis herauszubilden und durchzusetzen begannen. Dabei definiert Meike Wagner höchst plausibel Theater ebenfalls als Medium, was bei Theater- und Medienwissenschaftlern nicht immer gern gesehen ist.

Das ist für ihre Untersuchung ausgesprochen fruchtbar, da man im Zuge ihrer akribischen Schilderung, wie sich Zeitung und Theater gemeinsam zu ebenso zentralen wie diskursmächtigen Orten öffentlicher Repräsentation und Verhandlung von Gesellschaft (und sozusagen als Kinder der gleichen Bedingungen ihrer Möglichkeit) entwickelt haben, nachvollziehen kann, dass auch die derzeitige Zeitungs- und Theaterkrise mehr miteinander zu tun haben könnten, als es heutige Akteure womöglich durchschauen.

Jenseits von Schicht- und Standesgrenzen

Der Theaterkritiker ist von Anfang an ein entscheidender Vermittler beider Szenen, denn die neue bürgerliche Öffentlichkeit hat ihr Sprechen über die Gesellschaft wesentlich am Sprechen über das Theater ausgebildet. Das Theater war, wie Wagner an damaligen kulturellen (und politischen) Zentren wie Berlin, München und Wien deutlich macht, einer der wenigen Orte, an denen das restriktive Versammlungsrecht der Restaurationsjahre unterlaufen werden konnte. An unterschiedlichsten Fallbeispielen leuchtet sie immer wieder neu aus, wie das Theater als Ort, Kunstform und öffentliche Medienpraxis zugleich ein performatives Potential bot, das in der Überschreitung von Schicht- und Standesgrenzen und in Verbindung mit dem Medium Zeitung enormen Einfluss auf die Entstehung der modernen Öffentlichkeit und ihrer politischen Kultur entwickelte.

Inzwischen sehen Zeitung und Theater vor dem Hintergrund der Digitalisierung manchmal etwas ältlich aus. Angesichts der NSA-Affäre könnte das nicht-hackbare Live-Ereignis allerdings doch schneller wieder zu ungeahnter Aktualität gelangen, als den Naiven unter den Netzaktivisten vielleicht lieb ist: weil nicht erst seit Edward Snowden längst Szenarien denkbar sind, in denen Leute wieder ins Theater gehen müssen, wenn sie eine Community bilden wollen. Auch solche Gedanken hat man, wenn man etwa Wagners Schilderungen der Auseinandersetzungen von Theatermachern und -kritikern mit der preußischen respektive bayerischen Zensur der 1830er Jahre liest.

Frische Blicke

Meike Wagner stellt sich ihren analytischen Instrumentenkoffer dabei interdisziplinär zusammen, mit systemtheoretisch geschärftem, aber nicht vernageltem Blick. Sie navigiert souverän durch Theater-, Zeitungs- und Diskursgeschichte. Immer wieder gibt es ebenso anschauliche wie präzise recherchierte Beispiele, an denen sie ihre Positionen fast haptisch ausformt. Da wird nicht nur deutlich, wie der Antisemitismus die Rezeption von Moritz Gottlieb Saphir gefärbt und verhindert hat.

Da werden auch Theaterskandale untersucht, die theoretischen Schriften Richard Wagners vor dem gesellschaftspolitischen Hintergrund, vor dem sie entstanden, neu gelesen und eingeordnet. Es gibt ausgesprochen frische Blicke auf Künstler wie Albert Lortzing oder Johann Nestroy, auf Theaterreformer und -ermöglicher wie Eduard Devrient. Immer wieder laufen höchst plastisch in ihrem Zeit- und Aktionsraum geschilderte Grafen, Könige, Zensoren oder Höflinge als Theaterverhinderer durchs Bild, gibt es genau gezeichnete atmosphärische wie paradigmatische Öffentlichkeitsmomente aus Berlin, München und Wien: als die Theater- und Zeitungslandschaft entstand, die möglicherweise gerade wieder untergeht – oder doch einen existenziellen (und immer mitgedachten) Paradigmenwechsel erfährt.

 

Meike Wagner
Theater und Öffentlichkeit im Vormärz.
Berlin, München und Wien als Schauplätze bürgerlicher Medienpraxis.
Akademie-Verlag, Berlin 2013, 415 S., 99,80 Euro

 

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Kommentare  
Buchkritik Theater im Vormärz: Kosten?!
Kostet das Buch wirklich 99,80€ ?!?


(Ja, so sagt es der Verlag. Das ist leider bei solchen umfänglichen wissenschaftlichen Publikationen nicht unüblich. Aber vielleicht ist das Buch schon in manchen Bibliotheken ausleihbar. Es erschien Ende Mai. Herzliche Grüsse, Esther Slevogt)
Buchkritik Theater im Vormärz: klingt hochspannend
Wie schade, dass das Buch so teuer ist. Was Frau Slevogt schreibt, klingt wirklich hochspannend. Man möchte gern noch mehr erfahren über die Verknüpfung der medialen und theateralen Öffentlichkeit. Aber das würde eine Rezension selbstredend sprengen. Vielen Dank für diese inspirierende Kritik!
Buchkritik Theater im Vormärz: Marketing der Theaterkritik
Da entstand keine Theaterlandschaft, da wurde das deutsche bürgerliche Theater kapitalistisch und folglich brauchte es eine entsprechende Marketing-Abteilung (modern gesprochen) - und das wurde die schnell gedruckte und massenhaft vertriebene Theaterkritik.(Zirkulation des Kapitals allgemein geheißen) Viel mehr dürfte für 99,80 auch nicht zu erfahren sein.
Theater im Vormärz: Meinung aus Ressentiment
das ist intellektuelles Barbarentum: über Bücher urteilen, die man nicht gelesen hat und ansonsten ein bisschen ressentiments mit der eigenen verbitterung verrühren. schade, aber in jedem forum gibt es offenbar solche schwätzer, die nichts zu sagen, aber zu allem eine meinung haben, selbst wenn sie keine ahnung haben. früher gab man sich immerhin noch mühe, seine ahnungslosigkeit zu kaschieren.
Theater im Vormärz: entweder oder
Entweder intellektuell oder barbarisch, wenn ich bitten darf. Und wieso gab man sich früher, was heißt das hier überhaupt: "früher" mehr Mühe, Ahnungslosigkeit zu kaschieren, wer war das damals, oder eben "früher" der sich da scheute seine Ahnungslosigkeit zuzugeben, welche Art Verbitterung erahnen sie aus meiner Mitteilung, dass die Kapitalisierung auch und gerade vor der bürgerlichen Öffentlichkeit nicht stoppte sondern sie schnellstmöglich ergriff. Ob das mit dem Begriff der Theater- und Medienlandschaft erhellt oder zugedeckt wird, das überlasse ich Ihrer Intelligenz zu entscheiden
Theater im Vormärz: lesen
es ist immer wieder schade, wenn Leute wie (...) Herr Wieck nicht lesen, aber denken, eine Meinung haben zu müssen. Bei mir war das früher so, dass so etwas schon in der Grundschule nicht mehr erlaubt war. Das ist für Leute wie Wieck offenbar nicht so - aber das war früher wirklich besser: wer eine Meinung haben will, muss arbeiten, also lesen. (...) Schade.
Theater im Vormärz: keineswegs zimperlich
Bekanntlich ging Saphir keineswegs zimperlich mit seinen Konkurrenten auf dem Zeitungsmarkt um. Einmal, so die nachlesenswerte Fama, habe er es soweit getrieben, so kolportiert Houben den Eklat, dass ihn sein zeitweiliger preussischer Souverän in Schutzhaft nehmen musste, vier Tage Karzer, um ihn so vor einem viel unangenehmer hätte enden könnenden Zivilrechtsverfahren zu schützen. Ob sich Herr Zeller so sicher eines ihn schützenden Souveräns sein kann? Der neue Souverän: die anonym werkelnde Netzgemeinde, das wäre ein charmanter Gedanke.
NB. Nachlesbar entweder in Moritz Gottlieb Saphirs „Dumme Briefe“ selbst in Gutzkows antisemitisch gefärbten Erinnerungen „Unter dem schwarzen Bären“; ganz zu schweigen von Prutz`ens zeitgenössischer Geschichte des deutschen Journalismus . Aber das sind halt Texte aus alten Zeiten, die einer zu lesen sich immer zuerst bemühen sollte, bevor er zur Sekundärliteratur greift, die, wenn sie gut ist, ja nicht viel mehr kann als redlich die Quellen darzustellen und sie in ein aktuelles Bezugsfeld zu rücken. Aber woher will das der Leser wissen? Der Weg zu den Quellen ist unumgänglich. Darum und um nichts anderes geht es.
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