Am Urknall der Moderne

von Martin Krumbholz

Oberhausen, 20. September 2013. Über kaum ein anderes Jahr des verflossenen Jahrhunderts ist das lesende Publikum – dank dem Bestseller von Florian Illies – neuerdings so gut informiert wie über 1913. 1933 und 1945 waren die ersten Jahreszahlen, die man sich als junger Mensch einzuprägen hatte. 1968 war ein virulentes Jahr, 1984 ein magisches, 2001 (zunächst) das Science-Fiction-Jahr dank Kubrick. Nun also 1913. Darauf musste einer erst mal kommen.

Aber was ist nicht alles passiert im Jahr vor dem Kriegsausbruch, und alles auf einmal! Franz Kafka verwechselte einen Heiratsantrag mit einem Offenbarungseid. Sigmund Freud zerstritt sich mit C.G. Jung. Strawinsky führte das "Frühlingsopfer" (Le sacre du printemps) auf. Arnold Schönberg verlangte, auf die Eintrittskarten zu drucken, dass man sich als Konzertbesucher nicht das Recht erwerbe, dieses zu stören. Dr. Gottfried Benn wurde empfohlen, sich um die Toten zu kümmern. Oskar Kokoschka warb um Alma Mahler. Hitler und Stalin liefen im Park von Schönbrunn aneinander vorbei, beide tief in Gedanken versunken. Max Beckmann stellte fest, der Mensch sei und bleibe doch "ein Schwein erster Klasse". Die Mona Lisa war (und blieb nicht) verschwunden. Und niemand dachte an einen Krieg.

Jahresschau per Kaleidoskop

Illies' Buch erfasst im synchronen und kaleidoskopischen Verfahren die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, von Januar bis Dezember. Das ist interessant, wenn auch nicht immer aufschlussreich. Und für beinahe jedes Phänomen findet Illies eine prägnante Formel – das ist eben gutes Feuilleton. Über Marcel Duchamps' auf einen Küchenschemel montiertes Rad bemerkt Illies, dies sei der beiläufigste Paradigmenwechsel der Kunstgeschichte. Wie aber klingt so ein Satz aus dem Mund eines Schauspielers? Auf jeden Fall sehr, sehr episch. (Brecht schrieb 1913 übrigens erste Gedichte.) Schon Illies' Buch fehlt ja eine dramaturgische Pointe, da die einzelnen Fäden völlig selbständig nebeneinander herlaufen – siehe Hitler und Stalin im Park von Schönbrunn.

1913 3 560 thomas aurin hAm Fahrrad-Readymade à la Marcel Duchamp: Henry Meyer und Ensemble © Thomas Aurin

Aber: Ein Bestseller ist ein Bestseller ist ein Bestseller. Das wäre so, auch wenn Gertrude Stein mit ihrer Rose (aus Sacred Emily, 1913 verfasst) nicht aufträte. Und ein Bestseller mit Bildungsbürgerappell gehört auf die Bühne. Was braucht man dazu? Natürlich ein großes Ensemble inclusive Pianisten (nicht zufällig stehen 13 Personen oben). Musik also. Tanznummern. Überhaupt Nummern. Elastische Schauspieler. Unbedingt braucht man einen Conférencier – mit Mikrofon. Obwohl ja, das ist das Prinzip, jeder Schauspieler zugleich sein eigener Conférencier ist. Nämlich die Figur und derjenige – der Erzähler –, der ihr über die Schulter schaut und einen zupackenden Kommentar abgibt.

Mit Revue-Attitüden

Und kennt man sich, als Zuschauer, dabei am Ende noch aus? Naja. Die Figuren erkennt man, sie werden ja deutlich beim Namen genannt. Wobei es in dieser Hinsicht gelegentlich zu Irritationen kommt. Wenn vom 24-jährigen Hitler die Rede ist, wie er im Wiener Männerwohnheim ohne Kontakt zu anderen seine Aquarelle malt, illustriert der Schauspieler Klaus Zwick diese Passage mit einer sehr hübsch ausgeführten Chaplin-Nachahmung. Da hatte der Regisseur Vlad Massaci eine verführerische Idee, aber keine gute. Denn kann man Hitler und Chaplin ohne weiteres gleichsetzen? Steht einer als Chiffre tatsächlich für den anderen? Sind das austauschbare Ikonen?

Illies' Buch sollen viele Leser enthusiastisch angefangen, aber dann nicht wirklich zu Ende gelesen haben. Auch der Oberhausener Theaterabend zieht sich empfindlich. Das Bühnenbild von Manuela Freigang mit vielen übereinander getürmten Stühlen erweist sich als sperrig und (physisch) anspruchsvoll, oder anders gesagt: schwer zu bespielen. Alles in allem bleibt es eine Revue mit den üblichen Revue-Attitüden. Illies' These, in diesem Jahr 1913 habe sich sinnfällig der Urknall der Moderne ereignet, mag einem einleuchten oder auch nicht. Los war auf jeden Fall viel. Es wurde sogar ein Olympiastadion eingeweiht, für eine Olympiade, die dann, aus zwingenden Gründen, nicht stattfand.


1913 (UA)
nach Florian Illies
Regie: Vlad Massaci, Bühne und Kostüme: Manuela Freigang, Musik: Vasile Sirli, Choreografie: Florin Fieroiu, Musikalische Einstudierung: Robert Weinsheimer, Dramaturgie: Rüdiger Bering.
Mit: Nora Buzalka, Anna Polke, Anja Schweitzer, Lise Wolle, Konstantin Buchholz, Sergej Lubic, Henry Meyer, Martin Müller-Reisinger, Moritz Peschke, Hartmut Stanke, Michael Witte, Klaus Zwick. Am Flügel Robert Weinsheimer.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.theater-oberhausen.de

 

Auch eine Jahresschau der anderen Art bot Chris Kondek mit Please kill 2011 am Berliner HAU. Mit dem kurz nach 1913 einsetzenden 1. Weltkrieg setzt sich Karl Kraus' Die letzten Tage der Menschheit auseinander, die Patrick Wengenroth 2010 ebenfalls am HAU Berlin auf die Bühne brachte.


Kritikenrundschau

"Kenntnisreich, aber unterschiedlos hat Illies Material angehäuft; Massaci hat es letztlich nur leidlich illustrieren können", resümiert Michael Laages in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (21.9.2013). Was im Buch charmant wirken möge, sei auf der Bühne "von Schlaumeierei kaum zu unterscheiden". Das "Konstruktionsproblem" des Textes (Illies wolle "erzählen wie ein überzeitlicher Reporter, also immer nah am Ereignis; aber er tut das natürlich mit dem Wissen das Nachgeborenen) kehre in der "mäßig einfallsreichen Inszenierung" von Vlad Massaci wieder, die stark an der "Misch-Form aus szenischem und erzählerisch-kommentierendem Ich" laboriere und unter "der Vielzahl von historischen Daten und privaten Fakten" schier zusammenbreche.

"Schon das Buch ist nicht als schlüssige Argumentation aufgebaut, sondern als Mosaik mal mehr, mal weniger relevanter Anekdoten", berichtet Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (online 22.9.2013). In der Anordnung der Textauszüge zur Revue entstehe ein "Kraftakt, den das Ensemble bewundernswert bewältigt". Trotz der "Schauwerte", um die sich Regisseur Massaci bemühe, fällt das Fazit ernüchtert aus: "Aber nicht jeder Bestseller taugt für die Bretter, die die Welt bedeuten."

"Der Zuschauer erlebt Schauspieler, die sowohl Charaktere darstellen müssen, als auch gleichzeitig in der dritten Person Kommentare zu dieser Person sprechen", schreibt Arnold Hohmann auf dem Portal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung derwesten.de (22.9.2013). "Das geschieht zumeist mit einem auf Dauer dann doch störenden ironischen Unterton, der auch schon im Buch von Florian Illies zu spüren ist." Illies Buch biete "ein endloses 'Name Dropping'" und verströme den "Geruch nach Boulevard". In der ausgedünnten Bühnenfassung präsentierten die Schauspieler das "Panoptikum der Charaktere mit viel Klavierspiel und gelegentlichem Gesang".

"Der Hunger der Bühnen nach publikumsträchtigem Recyclingstoff ist ungestillt", diagnostiziert Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (23.9.2013) im Allgemeinen und kritisiert den Oberhausener Illies-Abend im Besonderen: Die "1913"-Adaption "erlahmt als Rezitations-Revue", als "Sachbuch-Nachbuchstabieren". Während Illies durch "Lakonik" unterhalte und im kunsthistorischen Blick auf die Geschichte eine Tragikomik entfalte; "portioniert und präsentiert" das Theater "Häppchen, ohne den Überbau zu transferieren". Illies' Text "verliert seine Schicksalhaftigkeit – ohne etwas anderes Reizvolles zu gewinnen."

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