Die DNA des Ungewissen

von Tim Schomacker

Münster, 20. September 2013. Nein, Aufsehen wie die Entschlüsselung des menschlichen Genoms (oder zumindest der Erstabdruck des Codes auf einem Zeitungstitel) erregt dieser Abend nicht. Ein Biochemiker kommt zwar vor, später. Irgendwann stellt auch wer die Frage nach dem freien Willen in den Raum. Aber einen Satz mit einem dicken Fragezeichen zu sagen, stellt noch keine analytische Haltung dar.

Ganz am Anfang sehen wir zwei junge Liebende. Sie will, dass er ihr etwas verrät. Er will das nicht. "Das Problem ist, dass du es dann weißt", sagt er. Und trocknet sich mit dem Handtuch ab. Sie ist verstimmt, trollt sich grummelnd aufs Badetuch. Ihr Blick verheißt kurzfristigen Liebesentzug, woraufhin er ihr "es" doch verrät. Flüsternd, ins Ohr. So dass das Geheimnis, "es", für uns als Gesagtes erkennbar, aber im Wortlaut ungesagt bleibt. Ihr Gesichtsausdruck verdunkelt sich von hell-erwartungsvollem Lächeln zu relativem Entsetzen. Nun weiß sie "es". Und wir wissen, dass es um Geheimnisse geht. Darum, wie man an sie kommt. Und darum, dass man sie hinterher manchmal gar nicht so gerne hätte entdecken wollen.

Permanente Auf- und Abtritte
Dass die heute 75-jährige Caryl Churchill einmal eine emblematische Figur einer sozialistisch, feministisch und theatermodern orientierten britischen Dramatik war, davon ist dreißig Jahre nach ihren "Top Girls" nicht viel zu sehen. Regisseurin Caro Thum bringt mit "Liebe und Information" eine Sammlung von ganz kurzen Dialogen erstmals deutschsprachig auf die Bühne, die sich in immer neuen Varianten um die Titel gebenden Großbegriffe drehen. Doch mit keiner neuen Situation kommt "Liebe und Information" wesentlich von der Stelle. Es geht um Krieg und Macht und Geschlechter und Verliebtsein und Wissenschaft und Krankheit und viele andere menschseinsbezogene Substantive – aber es bleibt eine Sammlung von Startschüssen, bei denen einem das Rennen vorenthalten wird.

liebeundinformation1 560 oliver berg uGeheimnisse haben kann man nicht allein: Claudia Hübschmann und Rasmus Max Wirth in "Liebe und Information" © Oliver Berg

Auf dem breiten, hinten eng zulaufenden Keil der weitgehend undekorierten kleinen Münsteraner Bühne reihen sich Szenen aneinander. Diverse Türen in den gerippten Wänden links und rechts eigenen sich prima für permanente Auf- und Abtritte. So geht ein Kommissar, der nicht an das Geheimnis des Befragten kommt, genervt durch dieselbe (Verhörraum-)Tür hinaus, durch die dann ein schüchternes Blondchen in ein angedeutetes Café hereinkommt. Sie sieht sich beim Blind Date einem Wissenschaftler gegenüber, der ihr haarklein seine Hirnforschungs-Versuchsreihen mit Küken auseinandersetzt, während er verlegen an einer roten Blume herumnestelt. Ein Kleinkrimineller gibt sein Wissen der Polizei preis, woraufhin sich seine energisch staubsaugende Gattin über die Risiken des Kollegenverpfeifens mokiert. Ein junger Mann erfährt, dass seine Schwester eigentlich seine Mutter ist. Ein etwas älterer Mann muss bei Gedächtnisübungen erschreckt den eigenen Vater im Kinderzimmer erblicken. Ein Gelähmter im Rollstuhl löchert seine Pflegerin, weil er wissen möchte, was Schmerz ist ("Das ist also so etwas wie Unwohlsein in den Beinen?").

liebeundinformation2 280h oliver berg uEin Kollektiv auf der Suche nach der DNA des
Ungewissen © Oliver Berg
Weder konkret noch abstrakt
Einmal klumpt sich das neunköpfige Ensemble sehr hübsch zu einem auf ein nicht näher spezifiziertes Idol wartenden Fanhaufen zusammen. Die beiden Sprechenden werden von den vor ihnen Drängenden abgeschirmt. Einmal sagt einer, der sich von der wissbegierigen und auskunftsfreudigen Welt zurückgezogen hat auf immer, den schönen Satz: "Ich würde mich ja umbringen, aber dann schreiben sie einen Nachruf."

So geht es denn dahin. Churchill belässt ihre Szenen – laut Spielanweisung möge man die Reihenfolge selbst bestimmen – in einer Zwischenwelt, die nicht wirklich realistisch und konkret, aber auch nicht ausschließlich abstrakt (um nicht zu sagen: philosophisch) ist. Vor allem aber nehmen weder sie noch Thum das in der Eingangssequenz leitmotivisch gesetzte Geheimnis als solches ernst. Von da an wird nämlich alles ausbuchstabiert. Und diese Klarheit (der Rollen, der Figuren, der Stichworte) tut der Aufführung nicht gut.

Nur ganz selten gibt es einen sprechfreien und nicht gleich von Bedeutung zugeschütteten Moment, wie wenn ein Mann sich langsam, staunend einen asiatischbunten Nachtrock überstreift – und in der eintretenden, mit dem gleichen Nachtrock bekleideten Frau seine eigene Gattin nicht wiedererkennt. Die DNA des Ungewissen ähnelt bei Thum sonst eher einem Holzperlenkettenbausatz, bei dem man vorab weiß, was herauskommen wird. Ob man mit Churchills Materialsammlung Gravierendes anfangen kann auf der Bühne, diese Frage bleibt nach dieser deutschsprachigen Erstaufführung offen.

Liebe und Information
von Caryl Churchill, aus dem Englischen von Hannes Becker
Regie: Caro Thum, Bühne, Kostüme: Wolf Gutjahr, Musik und Sounddesign: Malte Preuß, Dramaturgie: Friederike Engel.
Mit: Regine Andratschke, Frank Peter Dettmann, Lilly Gropper, Ilja Harjes, Claudia Hübschmann, Johanna Marx, Julia Stefanie Möller, Gerhard Mohr, Rasmus Max Wirth.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.theater-muenster.com

 


Kritikenrundschau

Caryl Churchill habe "ihren Interpreten ein wunderbar offenes Spielmaterial bereitgestellt", schreibt Harald Suerland in den Westfälischen Nachrichten (23.9.2013). Caro Thum bringe Churchills Texte "nicht nur zu dialogischem Leben, sondern spitzt sie auch noch zu, indem sie etwa einen langen Monolog über die Farben der Rose einer Blinden anvertraut". Die Autorin "fügt szenische Aphorismen aneinander, und das neunköpfige Ensemble macht lauter kleine Hauptrollen daraus".

Ein "Kaleidoskop moderner Befindlichkeiten" habe Churchill geschaffen, berichtet Helmut Jasny in der Münsterschen Zeitung (23.9.2013). Die 49 Szenen, die mal lustig, mal ernst seien, wirkten in der Gänze, "als würde ein ungeduldiger Fernsehzuschauer von Programm zu Programm zappen." Trotzdem, so der Kritiker, "gestaltet sich die Sache recht unterhaltsam", weil Regissurin Caro Thum ein "sicheres Gespür für Timing" besitze und das Ensemble die zahlreichen Figuren "glaubhaft" entwickle.

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