Ein Dach über dem Kopf

von Falk Schreiber

Hamburg, 21. September 2013. Vergangenen Winter tauchten sie plötzlich in Hamburg auf: rund 250 Schwarzafrikaner, niemand weiß genau, wie viele sie sind, niemand weiß genau, wer sie eigentlich sind, "Lampedusa-Flüchtlinge" nennt man sie. Gastarbeiter aus Zentralafrika in Libyen, die als Gaddafi-Kollaborateure verdächtigt nach Norden flohen, zunächst auf die italienische Insel Lampedusa, dann, ausgestattet mit Papieren zur freien Bewegung im Schengen-Raum und etwas Geld, nach Deutschland. Nach Hamburg.

Italien wollte sie loswerden, Hamburg will sie nicht haben. Bis auf weiteres sind sie aber rechtmäßig in der Hansestadt. Ungefähr 80 kamen seit Juni in der St. Pauli Kirche unter, einer winzigen evangelischen Kirche zwischen Reeperbahn und Elbufer. Die ein Dach über dem Kopf ist, aber eine Perspektive in Hamburg gibt es nicht: Der SPD-Senat beruft sich auf das Dublin-II-Abkommen, nach dem Flüchtlinge dort einen Asylantrag zu stellen haben, wo sie zuerst europäischen Boden betraten - und das ist Italien. Was das Thema für Deutschland erledigen würde, allein: Die Menschen sind nunmal nicht mehr in Italien, sie sind hier.

Mit Widerhaken

Elfriede Jelineks "Die Schutzbefohlenen" handelt von 60 Asylbewerbern, die Ende 2012 die Wiener Votivkirche besetzten, um (erfolglos) gegen ihre Abschiebung zu protestieren. Der auf Jelineks Homepage zugängliche Text ist eine für die Autorin typische Suada, vielstimmig, aggressiv, traurig, giftsprühend. Eigentlich hatte Jelinek "Die Schutzbefohlenen" für Nicolas Stemanns Thalia / Wiener Festwochen-Koproduktion "Kommune der Wahrheit" geschrieben, dort fand er aber keine Verwendung, weswegen das Thalia-Ensemble ihn am Samstagabend in einer "Urlesung" präsentierte: in der St. Pauli Kirche, gemeinsam mit einem Teil der dort beherbergten Flüchtlinge.

schutzbefohlenen 280 arbeitstreffen in st pauli kirche c thaliatheater"Die Schutzbefohlenen", hier noch bei der
Vorbereitung © Thalia Theater

Solch eine Aktion ist nicht ohne Widerhaken. Wird der ästhetische Anspruch eines Theaters wie dem Thalia nicht erreicht, ist der Vorwurf der gutwilligen, aber anspruchslosen Spielerei schnell zur Hand, zeigt das Ergebnis hingegen einen allzu großen künstlerischen Mehrwert, kann man dem Theater vorwerfen, das Leid von Menschen für das eigene Renommee zu missbrauchen.

Thalia-Intendant Joachim Lux balanciert nicht ungeschickt zwischen diesen Polen, indem er die Lesung so künstlerisch wie möglich anlegt, gleichzeitig aber immer im Bewusstsein behält, dass die Veranstaltung a) ein Schnellschuss ist und b) künstlerischer Mehrwert nicht das ist, was in dieser Situation am Nötigsten gebraucht wird. "Die Schutzbefohlenen" schlängelt sich dabei zwischen diesen Positionen durch, indem die Lesung sich auf ein klassisches Stadttheater-Verständnis beruft: Es gibt eine politische Diskussion in Hamburg, und das Thalia als Stadttheater hat zu dieser Diskussion einen Kommentar abzugeben. Punkt.

Mein Betreten, Dein Betreten

Dieser Kommentar erfolgt mit den Mitteln des Theaters: Jelineks Text wird mal in verteilten Rollen gelesen, mal gebrüllt, mal chorisch, mal als Kanon. Der Vortrag entspricht der Musikalität der Vorlage, auch den Haken, die der Text schlägt, den Kalauern, die einem das Kichern im Halse stecken lassen, "Welches Land können wir betreten? Keines. Betreten stehen wir herum", das ist ein Spiel mit dem Begriff "Betreten", das nur so lange lustig ist, solange man nicht die Gesichter der Menschen vor Augen hat, die ständig von A nach B verschoben werden, von der einen Grenze zur anderen.

Immer wieder spielt der Text auch mit dem Handlungsort, einer Kirche, tendiert ins Predigthafte. "Ach Gott! Wer erbarmt sich unserer?" klagt Victoria Trauttmansdorff an einer Stelle, und wer allem Religiösen distanziert gegenübersteht, ist kurz skeptisch gegenüber dem hohen Ton, der hier anklingt. Andererseits ist es ja wirklich so: Der einzige Ort, der gerade wirklich Schutz bietet, ist nun einmal eine Kirche.

Migrierender Text

Währenddessen stehen die Lampedusa-Flüchtlinge im Publikum. Das hat einen unangenehmen Beigeschmack: Großartige Schauspieler sprechen einen großartigen Text, und diejenigen, um die es eigentlich geht, hören zu. Würde der Text nicht migrieren, würde er nicht immer wieder von den Stimmen der Flüchtlinge gedoppelt, Französisch, Englisch, afrikanische Sprachen. Das ist als szenische Einrichtung recht raffiniert gemacht, holt es doch die Realität der Flüchtlinge in die Performance, ohne das ästhetische Arrangement zu überfordern, auch wenn das nicht viel mehr als ein Feigenblatt sein mag. Aber immerhin, zumindest das Bewusstsein, dass ein Feigenblatt nötig ist, ist da.

Beim Schlussapplaus verbeugt sich das Ensemble im Hintergrund, im Vordergrund verbeugen sich die beteiligten Flüchtlinge. So etwas kann man naiv nennen, man kann von Symbolästhetik sprechen, die rein gar nichts an den konkreten Lebensumständen der Betroffenen verbessert. Aber es ist wahrscheinlich das Maximum an politischer Intervention, das ein Stadttheater leisten kann.

Die Schutzbefohlenen
von Elfriede Jelinek
Leitung: Joachim Lux, Friederike Harmstorf, Andreas Langkamp; Orgel: Thomas Cornelius; Fotograf: Daniel Cramer.
Mit: Sandra Flubacher, Julian Greis, Franziska Hartmann, Daniel Lommatzsch, Sebastian Rudolph, Oda Thormeyer, Victoria Trauttmansdorff, Sven Schelker, Steffen Siegmund, Alexander Simon, Tilo Werner, Patrycia Ziolkowska, Joachim Lux sowie Elfriede Jelinek und Nicolas Stemann mit einem Audiokommentar und mit der Gruppe Lampedusa in St. Pauli.
Aufführungsdauer: 1 Stunde, keine Pause.

www.thalia-theater.de
www.lampedusa-in-hamburg.org 

 

Kritikenrundschau

Von einer "bewegenden Urlesung" des Jelinek-Textes durch Schauspieler und afrikanische Kirchenasylanten berichtet Hanna-Lotte Mikuteit im Hamburger Abendblatt (23.9.2013). "Wo werden wir morgen sein und danach? Wo? Wo? Wo?" Anfangs klinge die Frage noch zögerlich, "dann immer lauter. Verzweifelter. Aus verschiedenen Ecken rufen die Afrikaner es in ihrer Sprache. Es wird still, sehr still. Obwohl 400 Menschen in der St. Pauli sind. Viele sitzen auf dem Steinboden, die meisten stehen. 'Bitte helfen Sie uns, Gott, bitte helfen Sie uns, unser Fuß hat ihr Ufer betreten, doch wie geht es jetzt weiter?' hat Schauspielerin Patrycia Ziolkowska vorher vor dem Altar aus dem von Thalia-Intendant Joachim Lux bearbeiteten Text gelesen, den die österreichische Literatur-Nobelpreisträgerin anlässlich eines Kirchen-Asyls in der Wiener Votiv-Kirche geschrieben hatte. Hier auf dem Pinnasberg über der Elbe entfalten ihre Worte eine brisante Aktualität."

 

Kommentare  
Die Schutzbefohlenen, Hamburg: diskriminierungsfreie Sprache
Informationen für Journalisten zu diskriminierungsfreier Sprache
5-5/2008
„Schwarzafrika/Schwarzafrikaner/Schwarzafrikanisch“

Der Begriff "Schwarzafrikaner" dient dazu, alle Kulturen und Menschen, die originär in
afrikanischen Ländern unterhalb der Sahara beheimatet sind, zusammenzufassen.
Da eine solche Zusammenfassung jedoch geografisch und kulturell willkürlich ist, muss zur
Beantwortung der Frage, weshalb und wie der Begriff dennoch verwendet wird, der Gebrauch des Wortes in der Sprache betrachtet werden. Dies lässt schnell erkennen, dass der Begriff „Schwarzafrikaner“ vor allem der Stereotypisierung dient:
Zum einen verdeckt der Ausdruck die Notwendigkeit, afrikanische Kulturen ebenso wie die
europäischen als divers zu verstehen und zu kommunizieren. Die Verwendung von
„Schwarzafrikanisch“ ermöglicht es, über Kulturen zu schreiben oder vorzutragen, ohne über
diese recherchiert zu haben, und trotz Unkenntnis vielseitige pauschalisierende Deutungen
vorzunehmen. Würde keine Unkenntnis vorliegen, so würde etwa differenziert werden, aus
welchen Ländern oder Kulturen die betreffenden Personen/Erzeugnisse/Publikationen genau
kommen - eine Informationsbeschaffung, die bezüglich europäischer Länder ebenso zumutbar ist wie sie auch eingefordert wird.

Zum anderen fungiert der Begriff „Schwarzafrikaner“ im Sprachgebrauch als Rückgriff auf
biologistische Rassekonzepte - unter dem Deckmantel politischer correctness, weil vorgeblich auf rassistische Wortwahl verzichtet wird. Die veralteten wie kolonialen Rassetheorien werden im Wortsinn aber unmittelbar fortgeführt: durch die Verweigerung der Zurkenntnisnahme kultureller Diversität der benannten willkürlich konstruierten Gruppe, und durch die große Präsenz der pejorativen Konnotationen, die der Begriff „Schwarzafrikaner“ im sprachlichen und institutionellen Konsens der Mehrheitsgesellschaft de facto birgt.

Informationen für Journalisten zu diskriminierungsfreier Sprache
5-5/2008
© der braune mob e.V. 2008 - www.derbraunemob.info

http://www.derbraunemob.info/shared/download/warum_nicht_schwarzafrikaner.pdf#page=1&zoom=auto,0,605

http://www.derbraunemob.info/deutsch/index.htm
Die Schutzbefohlenen, HH: Differenzierungsmangel
"Aber es ist wahrscheinlich das Maximum an politischer Intervention, das ein Stadttheater leisten kann."

Nun denn, wenn dem so ist, wozu dann überhaupt eine derartige Intervention?

Ihre Rezension, Herr Schreiber läßt doch erkennen, wie wenig es tatsächlich um die Menschen ging/geht, die da von wo und warum flüchten mußten und warum sie auf unabsehbare Zeit nicht zurückkehren können werden.
Sie, Herr Schreiber, wie selbstverständlich auch die Verantwortlichen vom Thalia Theater, kennen den Namen der Autorin, die Namen der Schauspieler und Schauspielerinnen, sogar die Namen des Organisten, des Photographen usw. sind Ihnen/dem Thalia Theater bekannt.
Von den "Schutzbefohlenen" kennen Sie nicht einmal das Herkunftsland, nicht die (Mutter-)Sprache die sie sprechen. (Geschweige denn eben einen Namen.) Wozu auch, denn "die Nobelpreisträgerin klagt aus Sicht von Afrikanern..." (Mich wundert, daß es überhaupt einigen nichtdeutschen/nichteuropäischen Menschen gestattet war, ihre eigene Stimme hören zu lassen - Das lag wohl daran, daß der Text, die Sprache, dann ja immer noch von der "Nobelpreisträgerin" kam. Nun denn).

Herrje, es leben etwa eine Milliarde Menschen auf diesem Kontinent, vierundfünfzig verschiedene Staaten, es werden über zweitausend verschieden Sprachen gesprochen. Und die einzigen Bezeichnungen die Ihnen einfallen sind, "Schwarzafrikaner" und "Flüchtlinge" - das ist übrigens ein Diminutiv (sic) - mehr nicht.

Aber es ist wahrscheinlich das Maximum an journalistischer Differenzierung, das ein Feuilleton leisten kann.

Nun denn, wenn dem so ist, wozu dann überhaupt ...
Schutzbefohlenen, HH: Danke für die Anmerkungen
Lieber kolja, lieber f.e.,
zunächst einmal vielen Dank für die Anmerkungen zur diskriminierungsfreien Sprache, die gut und wichtig sind. Der Begriff "Schwarzafrikaner" ist womöglich tatsächlich nicht ganz glücklich gewählt, allerdings: Was wäre an dieser Stelle sinnvoller? Eine Differenzierung der Herkunft doch wohl nicht. Wenn Sie sich mit der Situation in St. Pauli beschäftigt haben, dann wissen Sie, dass diese Differenzierung gerade in der aktuellen Situation nicht nur schwierig sondern sogar verfehlt wäre.
Dass ich die Informationspolitik des Thalia bezüglich der Namen der Beteiligten problematisch fand, wird im Text meiner Meinung nach deutlich. Ich spreche doch explizit von "Symbolästhetik" beim Schlussapplaus - "Die Schutzbefohlenen" war ein Stück des Thalia, dass sich am Ende eine Gruppe namenloser Afrikaner vor den mit Namen gennannten Schauspielern verbeugte, war nicht viel mehr als ein Feigenblatt. Nur: Was erwarten Sie von einer Kritik, wenn nicht eine Benennung dieses Problems?
Dennoch: Ihre Anmerkungen sind wichtig. Gerade, damit ich als Textarbeiter mir das möglicherweise diskriminierende Moment von Sprache immer wieder bewusst mache.
Die Schutzbefohlenen, Hamburg: berührend und hilflos
Comeback der "HebeBühne- der Theater Blog"
Michael Jetters Ode an die "Die Schutzbefohlenen" von Elfriede Jelinek
von Michael Jetter / Inszenierung Thalia Theater Hamburg
Ich muss es gleich am Anfang sagen, dieser (Theater) Abend ist ein sehr wichtiger Abend, ein berührender Abend und auch ein unglaublich hilfloser Abend auf einer der profiliertesten Bühnen im deutschsprachigen Raum, insbesondere in Anbetracht der existentiell bedrohlichen Situation der auftretenden Flüchtlinge aus der Hamburger St. Pauli Kirche. :
http://lagazzettadelvino.blogspot.de/2014/09/hebebuhne-der-theater-blog-michael.html
Die Schutzbefohlenen, Hamburg: ein Symptom
Für Euripides, ist das Gastrecht ein heiliges Recht, dass zu brechen, Fluch auf sich zieht.
Die entwickelten Länder leben seit Jahrhunderten auf Kosten der ärmeren Länder und heute liefern sie ihnen Waffen. Diese Flüchtlinge sind ein Symptom.
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