Sonnenallee - Jan Jochymski bringt in Magdeburg den Film von Brussig/Haußmann auf die Bühne
Neue Ostdeutsche Welle
von Matthias Schmidt
Magdeburg, 27. September 2013. Auf den ersten Blick sieht, was wir gerade erleben, wie eine zweite (N)ostalgiewelle aus. Die ARD bestellte sich soeben die dritte Staffel der Serie "Weißensee" – und Katrin Sass, die eine der Protagonistinnen, eine Sängerin, spielt, ist mit den Liedern ihrer Figur auf Konzerttournee. Jochen Schmidts Roman "Schneckenmühle" setzt fort, was Wolfgang Herrndorfs "Tschick" und Jan Josef Liefers' "Soundtrack meiner Kindheit" begannen. Von Uwe Tellkamps "Turm" bis zu Rayk Wielands "Ich schlage vor, dass wir uns küssen" reicht das breite Spektrum, und ihnen allen gemeinsam ist, dass das Erinnern privater als zuvor ist. Postideologisch, könnte man sagen. Es kommt ohne die anstrengende Polemik des "Dafür oder Dagegen" aus, dieses "Ja, aber es war doch nicht alles schlecht". Es beschreibt das Leben in der DDR sowohl in seiner Absurdität als auch in seiner Normalität.
Die "Hineingeborenen", die heute Mitte bis Ende 40 sind, haben die literarische Deutungshoheit über das verblichene Land übernommen, und ihre Botschaft lautet: Es ist das Land unserer Kindheit und Jugend, und die zeigen wir euch jetzt. Ja, wir haben heftig geliebt und gelebt; wir waren jung und in Maßen wild. Wir lachen und wir weinen ohne Rücksicht auf das, was mal der Sozialismus werden wollte.
Ein Satz aus dem Magdeburger Programmheft – "mit schönen Erinnerungen lässt es sich leichter leben" – bringt es psychologisch auf den Punkt und ist zugleich eine Art Eintrittskarte. Denn der Magdeburger Schauspieldirektor Jan Jochymski, 1969 in Leipzig geboren, schließt sich mit seiner "Sonnenallee"-Inszenierung der neuen Entspanntheit des Erinnerns an die DDR an.
Ostalgie-Party-Stimmung
"Es war einmal ein Land", erinnert sich zu Beginn der leicht angegraute Held Micha. Dann holt er seinen alten Personalausweis aus dem Jackett, zieht sich das Kissen unter dem Hemd hervor (ja, man hat heute etwas Bauch, wenn man zur Wende Anfang 20 war) und nimmt uns mit in seine DDR. Und zwar mit Sandows "Born in the GDR", das er mit seiner Band spielt. Ab jetzt balanciert der Abend auf einem schmalen Grat. Der beängstigend detailverliebten Ausstattung mit FDJ-Hemden und Armee-Trainingsanzügen wohnt verdächtig viel Revuehaftigkeit inne. Verstärkt wird sie noch durch die hervorragend gespielte Live-Musik von The Clash über Renft bis zu den Rolling Stones, durch tanzende NVA-Soldaten und FDJler (Schwanensee!), die prompt für Szenenapplaus sorgen. So liefen vor zehn Jahren die Ostalgieparties ...
Schauspielerisch sehen wir, das steht von Anfang an klar auf der Haben-Seite, einen Schwank voller Glanzleistungen: David Emig gibt mit extremer Gestik und Mimik einen dümmlich-beflissenen Abschnittsbevollmächtigten, der letztlich auch eine arme Sau ist. Susanne Krassa zappelt eine hysterische FDJ-Sekretärin auf die Bühne, deren Polit-ADHS selbst der Schuldirektorin auf die Nerven geht. Und wenn Silvio Hildebrandt als Michas Vater im selben Stil den DDR-Multifunktionstisch hoch- und runterkurbelt, während die Mutter über ihre Republikflucht nachdenkt, vergisst man beinahe, dass die trockene Komik von Henry Hübchen und Katharina Thalbach im Film von Leander Haußmann eigentlich unübertrefflich ist. Alles ist in einem Maße overacted, wie es sich nicht mal die Ohnsorgs im Fernsehen trauten. Zwischen den Zeilen? Ironisch? Von wegen, auf die Zwölf! Zum Kaputtlachen ist das, eine Befreiung!
"Weil wir jung waren"
Der Gefahr, den Ernst und die Tristesse der bleiernen 80er Jahre mit klischeehaftem Klamauk zu übertünchen, entgeht die Inszenierung endgültig aber erst nach der Pause. Nun treten die emotionalen Geschichten in den Vordergrund: Michas Liebe zu Miriam, seine Freundschaft zu Mario, die privaten Träume und Sehnsüchte der Jugendlichen, die in immer stärkerem Maße von der Enge und dem Dogmatismus der Gesellschaft um sie herum gefährdet werden. Die kleinen Dramen setzen das große grandios auf die Siegerstraße. Mit starken Bildern, vor allem in der Drogenszene und dem Schulrauswurf Marios, holt Jochymski die "Sonnenallee" endgültig ins Ziel. Unterhaltsam, komisch und berührend.
Am Ende zieht sich Micha das Jackett wieder an und sucht die Versöhnung mit seinem bei der Stasi gelandeten Freund Mario eben nicht in dem, was man Aufarbeitung nennt. Wie einst die Jungen kabbeln sie miteinander und machen schließlich wieder zusammen Musik. Die Stones, was sonst! So einfach ist das. "Es war einmal ein Land", sagt er, "in dem hatte ich die beste Zeit meines Lebens. Weil wir jung waren!" Dagegen ist weder etwas einzuwenden, noch ist dem etwas hinzuzufügen.
Sonnenallee
nach dem gleichnamigen Film von Thomas Brussig und Leander Haußmann, für das Theater bearbeitet und eingerichtet von Max Beinemann, Reinhard Simon und Maren Rögner
Regie: Jan Jochymski. Ausstattung: Andreas Auerbach. Musik: Sven Springer. Choreografie: Sommer Ulrickson. Dramaturgie: Caroline Gutheil.
Mit: Raimund Widra, Peter Weiss, Michael Ruchter, Konstantin Marsch, David Nádvornik, Lena Sophie Vix, Christiane Britta Böhlke, Iris Albrecht, Silvio Hildebrandt, Susanne Krassa, Sebastian Reck, David Emig.
Dauer: 2 Stunden, eine Pause
www.theater-magdeburg.de
In der Volksstimme (30.9.2013) beschreibt Hans Walter den Abend mit den Worten: "Surreal und ernst, philosophisch und irrsinnig komisch. Liebenswert und lebenswahr." Die Inszenierung mit Kult-Potential sei ungeheuer schnell und tänzerisch leicht, mit "Slapstick-Szenen wie der Grablegung von Onkel Heinz", mit "Agitprop in der Schule oder bei der Musterung" und vielen echten Requisiten der DDR-Konsumgüterproduktion.
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