Feinmechanier und Magier

von Sarah Heppekausen

Essen, 29. September 2013. Aus der Explosion, die der Filmpionier Georges Méliès im 19. Jahrhundert mit seiner Frau am Gartentisch inszenieren will, wird die Bombe, die ein Kämpfer der Nationalen Befreiungsfront im Algerienkrieg um 1960 unter einem Cafétisch hochgehen lässt.

Das ist eine typische Szene für das Theater des Robert Lepage und seiner Kompanie Ex Machina. Verwandlung ist Methode beim kanadischen Regisseur. Da wechselt die Lichtstimmung und ein paar Falltüren im Bühnenboden werfen neues Personal in angepassten Kostümen aus. So werden Jahrhunderte übersprungen, um ungeahnte Verknüpfungen zu schließen. Mittelpunkt der Inszenierung ist der theatrale Effekt. Das staunende Publikum wird Lepage vermutlich das liebste sein.

Das Erbe der Verblüffenden

Dieses formale Prinzip bringt den Theaterregisseur auch inhaltlich nah an einen seiner Protagonisten im neuen Stück "Playing Cards: Hearts", das Lepage bei der Ruhrtriennale uraufführte: Jean-Eugène Robert-Houdin (1805–1871) war Feinmechaniker und Magier. Er ließ Menschen schweben und konstruierte Automaten, die seine Zuschauer verzaubern sollten. Ein Lepage'sches Verblüffungsvorbild also.

playingcards2 560 erick labbe uDas Firmament voller Zahnräder © Érick Labbé

"Hearts" ist der zweite Teil einer geplanten Kartenspiel-Tetralogie. Nach dem Militärmotiv von "Playing Cards: Spades" (Pik) – auf der Ruhrtriennale 2012 zu Gast – widmet sich Lepage diesmal der Welt der Illusion. Die Farbe Herz wurde auch Kelch genannt, erklärt der Regisseur im Programmheft, ein Zeichen des (Aber-)Glaubens und der Magie. Wieder gibt der runde Kartentisch die kreisrunde Bühnenform vor, und die Zuschauer im Salzlager der Essener Kokerei Zollverein sitzen um diese sich drehende Spiel-Arena herum. Und wieder mischt Lepage sein Personal wie Kartenfarben, er vermengt Menschen, Orte und Zeiten zum unterhaltsamen Gesellschaftsspiel.

Vom Droschken-Taxameter zum Filmtheorie-Seminar

Da verbindet sich die Geschichte um Robert-Houdin, der von der französischen Regierung beauftragt war, die algerischen Heiligen auszutricksen, mit der von Chaffik, einem nordafrikanischen Taxifahrer in Quebec, der mitten im Arabischen Frühling nach Algerien aufbricht, um seinen verschollenen Großvater – einen ehemaligen Widerstandskämpfer – ausfindig zu machen. Die Szenen wechseln rasant. Robert-Houdin führte gerade noch sein Droschken-Taxameter vor, da zieht sich ein durchsichtiger Vorhang vors Zuschauerauge und gibt einen verschleierten Blick frei aufs Filmtheorie-Seminar an der Quebecer Uni. Thema: Georges Méliès. Der übernahm einst das Zaubertheater Robert-Houdins, um dort seine Trickfilme zu präsentieren. Ein Konglomerat aus unabhängig abhängigen Erzählsträngen wie in einem Episodenfilm.

playingcards3 280h erick labbe uIm Rausch der Magie © Érick LabbéAber trotz der schnellen Szenenwechsel wird der viereinhalbstündige Abend lang. Technisch ist die Inszenierung wie gewohnt ausgefeilt. Inhaltlich aber hangelt sie sich durch simple Motive und von einer stilisierten Figur zur nächsten. Auch das ist charakteristisch fürs Gesellschaftsspiel. Zu viel Komplexität und Denkanstrengung könnten das Vergnügen schmälern. Eine zweite Ebene findet sich allein unter der Bühne. Die spuckt Figuren und Requisiten durch Klappen, Schlitze und Gänge. Zeitgemäß kostümierte Materialien aus dem Lepage'schen Zauberkasten. Angetrieben durch rostig gelb leuchtende Zahnräder, die die Bühnenbildner Michel Gauthier und Jean Hazel unter die Decke gehängt haben.

Lieber Wunder als Wissen

In Nullkommanix tauschen die Familienmitglieder beim ersten Kennenlernen des neu verliebten Paares ihre Plätze – der doppelte Boden macht's möglich. Aber das, was Vater und Großmutter von Taxifahrer Chaffik und ebenso die Diplomaten-Eltern von Uni-Dozentin Judith zu sagen haben, bedient sich einfachster Klischees. Da wird dem muslimischen Chaffik Schweinefleisch aufgetischt ("Ist doch bloß Haxe") und die Tochter vorm Terroristen gewarnt. Funktioniert die Übertitelung an diesem Abend mal nicht einwandfrei, lassen sich die Dialoge mühelos erahnen.

Lepage konzentriert sich auf Kunstfertigkeit. Seine Technik ist die magische Manier. Da rotiert die Bühne ebenso wie die Schauspieler in ihren verschiedenen Rollen. Figurenführung bedeutet hier durchdachte Strukturierung, kein psychologisches Austarieren. "Die Menschen wollen lieber Wunder als Wissen", sagt der Oberst, um Zauberkünstler Robert-Houdin für die Algerien-Mission zu motivieren. Auch im Publikum gibt es immer mal wieder Szenenapplaus für gelungene Tricks. Aber wenn Faszination die einzige Wirkung ist, bringt sich das Theater um seine intellektuelle Kraft. Alles bewegt sich hier, aber kaum etwas bewegt.


Playing Cards: Hearts
von Robert Lepage / Ex Machina
Regie: Robert Lepage, Dramaturgie: Peder Bjurman, Originalmusik und Sounddesign: Jean-Sébastian Côté, Bühne: Michel Gauthier und Jean Hazel, Licht: Louis-Xavier Gagnon-Lebrun, Kostüme: Sébastian Dionne.
Mit: Louis Fortier, Nuria Garcia, Reda Guerinik, Ben Grant, Catherine Hughes, Marcello Magni, Olivier Normand.
Autoren: Louis Fortier, Reda Guerinik, Ben Grant, Catherine Hughes, Kathryn Hunter, Robert Lepage, Marcello Magni, Olivier Normand.
Dauer: 4 Stunden 30 Minuten, zwei Pausen

www.ruhrtriennale.de

 

Kritikenrundschau

Stefan Keim von der Welt (1.10.2013) zeigt sich von der "unglaublichen Perfektion" des Abends fasziniert. "Lepage verschachtelt wieder sehr viele Erzählebenen und lässt sie nebeneinander mäandern, bevor sie ineinander fließen." Zudem reichere er den Abend "mit kulturhistorischen Assoziationen" an. "Jede Szene ist liebevoll durchgearbeitet, die Schauspieler agieren trotz rasantem Rollenwechsel glaubwürdig, mit vielen Zwischentönen." Eine "unfassbare Logistik" wirke im Hintergrund. "Dennoch erschlägt einen die Masse an Szenen, Figuren, Gedanken." Viele Zuschauer seien in der Pause gegangen. "Sie verpassen ein packendes Finale, in dem Lepage endlich stringenter erzählt und viele Fäden zusammen webt."

"Episodenreich und illustrativ" findet Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.10.2013) diesen Abend. Robert Lepage inszeniere die "überwiegend französischsprachige Vorlage mit nur sieben punktgenau durch viele Rollen wandelnden Schauspieler, die auf der Unterbühne in Windeseile umgeschminkt und umgekleidet werden, als großen Bilderbogen." Diese "logistische Leistung ist zum Staunen, doch je länger die mehr als vierstündige, erst zum Finale Fahrt aufnehmende Aufführung dauert, desto mehr drängt sich die Frage auf, was derart altmodisches Theater auf der Ruhrtriennale verloren hat."

 

Kommentare  
Playing Cards, Ruhrtriennale: verzeihliche Unfertigkeit
man sollte wohl um der Ehrlichkeit willen anmerken, dass das Stück gegen Ende einen reichlich unfertigen Eindruck machte, was zwar zunächst (auch die vom Stück an sich erweckten Erwartungen) enttäuscht, jedoch ahnen ließ, dass vieles scheinbar sehr einfaches sich am Ende auf wundersame und bewegende und vermutlich auch intellektuell genussfähige Weise zusammengefügt hätte. Da fehlte wohl eine Probenwoche, und es fehlte beim Applaus auch der Mut der Regie, darob vors Publikum zu treten. Da auch das Risiko, nicht bis zur Premiere fertig zu sein, untrennbar zum Theater gehört, sollte ein Regisseur, und insbesondere einer vom Kaliber Lepages, diese Größe besitzen. Angesichts der ersten drei Stunden des Abends würde man ihm ja auch alles verzeihen wollen.
Playing Cards, Ruhrtriennale: nicht mehr frisch
Andreas Rossmann (FAZ) hat leider Recht. Lepage hat sein "beste bevor" Datum längst überschritten. Der erste Teil von "Playing Cards" (2012) war schon eine Zumutung. Aber wer auf dem Festivalkarussel steht....
Playing Cards, Ruhrtriennale: wie entwickelt es sich weiter?
aber falls zugereister recht haben sollte, kann hier vielleicht jemand berichten, wie das Stück dann in den nächsten Vorstellungen aussieht, unterstellt, es wurde dann unterdessen zu Ende geprobt...?
Playing Cards, Ruhrtriennale: Arbeitsweise
Lepage arbeitet einfach so: die Premiere ist ein Ausschnitt aus einem späten Probenstadium. Wer sich ein fertiges Stück erwartete wird enttäuscht und sollte besser zur letzten Vorstellung gehen (die in der Regel auch um ca. 1 h kürzer ist, als die erste).
Playing Cards, Ruhrtriennale: Knirschen im Gebälk
Ein Besuch in der Aufführung vom 3.10. hat leider keine Besserung gezeigt: die Dialoge sind und bleiben - wie die Figurenkonzeption - banal und bewegen sich nicht über Klischees hinaus. Die behauptete Verknüpfung historischer Ereignisse, die szenisch durch Überblendung und Schnitt inzeniert wird, gewinnt im Stück nie Plausibilität, auch, weil es schlicht keine Verbindung gibt. Was im Stück erzählt wird, lässt sich in wenigen Sätzen mitteilen und vermutlich in gut einer Stunde aufführen, ohne dass dadurch irgendein Verlust zu erwarten wäre. Anders gesagt: dieser Theaterabend hat inhaltlich wie ästhetisch keine Substanz. Und selbst die Magie rascher Bilderwechsel, die die letzte Verteidigungslinie für diesen Abend wäre, funktioniert nicht recht: jedem Bühnenarbeiter, der geduckt versucht, ungesehen Requisiten zu bewegen, sieht das Publikum genau auf die Finger, es knirscht nicht selten im Gebälk, und wo auf der Bühne nichts passiert, wird das Gewusel der fleißigen Helfer oft umso sichtbarer. Da man zudem mit nur wenigen Schaupielern arbeitet, sich aber um historische akkurate Kostümierung bemüht, rutscht manche Szene gar aufs Niveau einer Schüleraufführung herab, wenn der weiße Rauschebart aus dem Fundus herhalten muss, den ins Kostüm gezwängten, aber aus Zeitmangel nicht alt geschminkten Darsteller, dem der Bart daher eben als ganz offenslichtlich falscher Bart im Gesicht steht, nun als gestandenen Victor Hugo auszuweisen.
Kurz: Eine Besserung ist nicht eingetreten. Sie ist wohl auch nicht zu erwarten, wo technischer Aufwand Substanz ersetzen soll, wie Sarah Heppekausen hier bereits genau vorgeführt hat.
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