Im Bann der Botoxklone

von Shirin Sojitrawalla

Mainz, 2. Oktober 2013. Diese Julia gibt sich nicht auf und ändert einfach den Text ihres Lebens, indem sie die betreffende Seite aus dem Reclamheft reißt und sich auf und davon macht. Ermöglichten tut das der smarte, wilde Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson. Der entwirft hier wie dort opulente Theaterlandschaften. In Mainz dichtet er Shakespeares trostlosen Liebesklassiker zum überbordenden Emanzipationsstück um, und zwar mit Sinn und Verstand, Chuzpe und Übermut.

Jósef Haldórsson hat ihm dafür ein gigantisches Geisterschiff auf die Drehbühne des Großen Hauses gestellt, ein abgewohntes Baugerüst, das Ruine, Kriegslandschaft und Wohnhaus ist. Hoch oben fristet Girlie Julia ihr glattes Dasein wie in einem Adlerhorst und nur über steile Geraden zu erreichen. Pascale Pfeuti spielt sie als zunehmend schnippisches blondes Etwas, das zwar nicht bis vier zählen kann, aber dennoch weiß, was sie nicht will. Ihre Eltern könnten dabei gut und bestimmt auch gerne Vor- oder Nachfahren der RTL2-Geissens sein: Neureiche Botoxklone, die ihren schlechten Geschmack spazieren führen wie Paris Hilton ihre Schoßhündchen.
romeo und julia 2 560 mathias spaan pascale pfeuti kleiner c bettina mueller uRomeo (Mathias Spaan) und Julia (Pascale Pfeuti) © Bettina Müller

Stefan Walz als Capulet verdient sein Geld mutmaßlich mit Waffenschieberei und seine propere Gattin, umwerfend gespielt von Nicole Kersten, steht so stramm und blöd in der Gegend herum, dass es die wahre Freude ist, ihr dabei zuzusehen. Die Neureichen von heute als die Adligen von gestern.

Wollt ihr die totale Liebe?!

Zu Beginn dreht sich das Schiff wie besoffen und die totenblassen Figuren treten auf wie in der Geisterbahn; zum Fest werfen sich alle in Schale. Die Feier der Capulets gerät zur schnippenden Swingnummer, wie überhaupt der Musik (Gabriel Cazes) eine tragende Rolle zukommt. Flügel und Tuba gehören zum Personal, Tom Waits, Leonard Cohen, Jacques Brel werden lustvoll verwurstet, wesentliche Szenen mit Soundtrack unterlegt. Zum Fest treten dann Romeo, Mercutio und Benvolio als Rat Pack in Erscheinung, wobei sich der zappelige Romeo erst als hysterische Heulboje präsentiert, schließlich ist er zu Beginn ja noch unglücklich in Rosalinde verknallt, um danach ganz und gar toll die totale Liebe zu wollen.

romeo und julia 6 560 mathias spaan pascale pfeuti kleiner c bettina mueller uAuf dem Geisterschiff der Liebe: Mathias Spaan und Pascale Pfeuti © Bettina Müller

Mathias Spaan spielt ihn mit schwarz untermalten Augen, die vor Selbstvergessenheit leuchten. Wenn er für Julia eine Liebesschnulze anstimmt, sieht er aus wie Pete(r) Doherty und trägt Superman-T-Shirt und ironisches Grinsen im jungen Gesicht. Wie es dem Abend ohnehin gelingt, die Jugend, von der das Stück geradezu lebt, voll auszureizen. Dabei ist es auch das Unbotmäßige, das diese Inszenierung zu einer außergewöhnlichen macht. Die einzelnen Regieeinfälle mögen nicht neu sein, sie sind nicht neu, zuweilen zitiert sich Arnarsson auch selbst. Doch die ungestüme Montage der einzelnen Ideen zu einem wahnwitzigen Ganzen, ist schon eine Kunst für sich. Dabei würde man sich bisweilen wünschen, es gebe jemanden, der da zügelnd eingreifen könnte, doch wahrscheinlich ist der Wunsch so abwegig wie der Gedanke an einen behutsameren Liebeswahn Romeos.

romeo julia3 280 mathias-spaan-pascale-pfeuti c bettina mueller uTragisches Ende: Matthias Spaan & Pascale Pfeuti
© Bettina Müller

Fliegende Emotionalität

Den Derbheiten Shakespeares begegnet der Abend mit heutiger Derbheit. Sprachliche Brutalität entlädt sich auf der Bühne zuweilen auch körperlich. Anderes löst Arnarsson eher spielerisch: Die Akteure bekleckern sich mit Kunstblut, Wassermelonen mimen Schädelinhalte und in den Mund gestoßene Äpfel magensaure Küsse. Auf gar keinen Fall vergessen zu erwähnen darf man die hinreißende Balkonszene. Dabei verjuxt Arnarsson die Szene und bewahrt doch ihre hoch fliegende Emotionalität. Weder Kitsch noch Klamauk geht er dabei aus dem Weg und kann auf ein starkes Ensemble vertrauen: Lorenz Klee gibt Graf Paris als sagenhaft speckigen Lustmolch, Christoph Türkay Tybalt als eiskalten Streber und Andrea Quirbach die Amme in beseelter Geradheit.

Bis auf den Schluss läuft so ziemlich alles ab wie im Original, gespielt wird die klare Übersetzung von Thomas Brasch, und doch verliert das Stück unter der musikalischen Berieselung und Mätzchenabfeierei an Rasanz. Und die kennzeichnet das um 1595 uraufgeführte Drama durchaus: In wenigen Tagen und hohem Tempo schnurrt die Handlung bei Shakespeare ihrem tragischen Ende entgegen. Thorleifur Örn Arnarsson lässt sich mehr Zeit, strafft erst am Ende, verschleppt sonst mancherlei. Doch das sind bloß Mäkeleien am Rande eines ebenso ausgelassenen wie unterhaltsamen Abends, der die Liebesblödigkeit hoch leben lässt.

 

Romeo und Julia
von William Shakespeare
Deutsch von Thomas Brasch
Inszenierung: Thorleifur Örn Arnarsson, Bühne: Jósef Halldórsson, Kostüme: Filippia Elísdóttir; Dramaturgie: Barbara Stößel, Musik: Gabriel Cazes, Kampfchoreographie: Annette Bauer.
Mit: Mathias Spaan, Pascale Pfeuti, Monika Dortschy, Gregor Trakis, Tilman Rose, Christoph Türkay, Stefan Walz, Nicole Kersten Marcus Mislin, Zlatko Maltar, Lorenz Klee, Andrea Quirbach, Tibor Locher und Gabriel Cazes.
Dauer: 2 Stunden und 50 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-mainz.de

 

Wie Shakespeares Liebesklassiker in letzter Zeit sonst so auf die Bühne kam? Hier die Nachtkritiken zu den Romeo und Julia-Inszenierungen von Lars Eidinger (Schaubühne Berlin, April 2013) und Mokhallad Rasem (Salzburger Festspiele, August 2013), der dafür in Salzburg mit dem Young Directors Award ausgezeichnet wurde. Auch Arnarsson selbst hat "Romeo und Julia" schon einmal auf die Bühne gebracht, in St. Gallen nämlich, wo er daraus die Liebestragödie als Wikinger-Saga erzählte.

 

Kritikenrundschau

Nach Ansicht von Michael Jacobs (Allgemeine Zeitung, 4.10.2013) sprüht Arnarssons Interpretation nur so "vor Einfällen, Action, Anachronismen, ironischen Brechungen". Die "Liebesnarreteien" bringe er "unter strikter Umgehung von Kitsch und Pathos als parodistisch angehauchte, tragikomische Slapstick-Nummern auf die Bretter". Von der "Ideenflut", mit der er "die Essenz des ganz aufs Wort gebauten Stücks in drastische, teils aberwitzige Bilder gießt, profitiert das ganze Ensemble". Im zweiten Teil werde das Tempo gebremst, "die latente Komik weicht gebührenderem Ernst" und es gelängen poetische Momente. Eine "radikal entschlackte wie lebensprall überspitzte Inszenierung" mit einem "finalen Akt der Emanzipation von der blutrünstigen Tragödie und ihrem Schöpfer".

"Zielgruppe voll erreicht", konstatiert Eva-Maria Magel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Rhein-Main-Teil, 4.10.2013). Selten werde bei einer Liebestragödie wohl so viel gelacht wie bei Arnarssons in Mainz. Seine Inszenierung sei "bei aller Lust am Übertreiben bis ins Detail durchdacht". "Einige der postdramatischen Einsprengsel hätte sich Arnarsson zwar sparen können. Andererseits kommen sie auf eine heutige Weise wieder dem Shakespeareschen Volkstheater nahe." Bei der "spielerischen Üppigkeit" müsse allerdings "die Poesie des Textes bluten. Was in der Reclam-Ausgabe gerade jüngeren Lesern Kopfzerbrechen bereitet, wird weggelassen, ironisch gebrochen – oder übersetzt. In große, aus dem Fernsehkitsch geborgte Bilder, die für poetisch oder romantisch gehalten werden dürfen; und kleine, die es sind." Fazit: "ein äußerst kurzweiliges, erfrischend neu erzähltes Stück Theater".

"Der alte William hätte mit solcher Machart womöglich ebenso viel Freude gehabt, wie das zunächst irritierte, dann angetane Mainzer Publikum, schreibt Andreas Precht in der Mainzer Rhein-Zeitung (4.10.2013).

Thorleifur Örn Arnarssons Sicht auf Shakespeares "Romeo und Julia" greift aus Sicht von Judith von Sternburg von der Frankfurter Rundschau (7.10.2013) "in die Vollen der theatralen Bebilderungs- und auch Bespaßungsmöglichkeiten." Manches dabei sei "leichtfertig und banal". Allerdings reihe dieser Regisseur in seiner Inszenierung "eine tausendmal gesehene Szene an die andere und es ist zugleich imposant, wie der Isländer sie nicht allenthalben, aber immer wieder frisch angeht."

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