Zürich, offene Stadt?

von Claude Bühler

Zürich, 3. Oktober 2013. Der Start sieht aus wie eine Hinwendung zum italienischen Kino des Neorealismus: Peter Kastenmüller eröffnete vergangene Woche seine Intendanz am Neumarkttheater mit seiner Bühnenversion von Luchino Viscontis Rocco und seine Brüder – dies unter dem saisonalen Überthema "Offene Stadt", was an einen anderen Klassiker der Epoche erinnert: an "Rom, offene Stadt" von Roberto Rossellini. Dem Realismus scheint Direktor Kastenmüller allerdings auf neue Art auf die Spur kommen zu wollen. Er macht es sich nicht leicht. Und uns auch nicht: bei seiner "Rocco"-Inszenierung über die süditalienische Familie, die im reichen Mailand ankommt und scheitert, bekundeten die Rezensenten Mühe angesichts der abstrahierenden Erzählformen.

Integrationskurs, bunter Abend, Probelesung?

Eine Einordnung fällt auch bei seinem ersten "Offene Stadt"-Projektabend, Titel: "Arrivals I", schwer. Sind wir im Integrationskurs? Am bunten Abend einer Kirchgemeinde? An einer Probelesung? Oder müssen wir es hilflos als eine Installation aus Schauspiel, Videoeinspielung, Musikdarbietung und realen Menschen mit ihren Geschichten benennen?

Wie bei "Rocco" geht es bei der "Arrivals"-Serie (geplant sind vier Abende) um Menschen, die in einer großen Stadt ankommen. Hier sitzen Migranten aus Afghanistan, Brasilien, der Türkei, aus St. Petersburg, die seit einiger Zeit in Zürich leben, am großen Tisch, das Publikum mit ihnen oder auf den Rängen gleich hintendran. Das Paar aus Afghanistan hat gekocht, es wird gemeinsam gegessen, aus dem Alltag in der Schweiz berichtet. Aber spielen diese Menschen die Hauptrolle? Oder eher die Erzähldramaturgie? Wir sehen, um es filmisch auszudrücken, immer nur Totalen.

Weg ist die Nahaufnahme

Da ist etwa der Text von Björn Bicker, den der Autor als "Hohelied" bezeichnet und aus Gesprächen mit dem Ehepaar Riane und Thomas Ucar geformt hat. Das Paar berichtete ihm von seinen Anpassungsanstrengungen mit den Sprachkursen, der Pünktlichkeit im Büro, der schwierigen Wohnungssuche. Aber auch Intimes kam zur Sprache wie der starke Kinderwunsch, die Gebete zu Jesus Christus und die Last des Fremdfühlens.

arrivals1 560 caspar urban weber uGul Afroz Haidari in "Arrivals I" im Theater Neumarkt  © Caspar Urban Weber

Jedoch hat Bicker die brisanten Inhalte weitgehend in eine gekünstelte Dichtung in kantigem Protokollstil eingepackt, der Emotionen einfriert: "Sie hat glasige Augen. Sie sagt nichts. Sie weiß nicht, wie sie es sagen soll. Sie spricht portugiesisch." Und der Text wird auch bis auf eine kurze Szene (Wörterabfragen für den Sprachkurs) nicht von der dasitzenden Brasilianerin und dem anwesenden türkischstämmigen Schweizer vorgetragen, sondern von deutschen Schauspielern (Martin Butzke, Janet Rothe, Jan Viethen) ab Blatt vorgelesen. Die setzen bühnenroutiniert ihre Schauspielerironie drauf. Weg ist die Nahaufnahme, das direkte Schwingungserlebnis von Hoffnungen und Schmerzen.

In der Totale bleiben wir auch bei den Auftritten der Sängerin Anjelika Oberholzer-Smirnova aus St. Petersburg. Als wollte sie ein geselliges Beisammensein auflockern, besteigt sie quasi spontan eine Bühne und setzt sich ans Klavier, um Brechts "Mackie Messer" oder eine russische Ballade zu singen. Aber trotz des beherzten Einsatzes der Könnerin: Sie klingt wie neben sich, fahrig, zweckoptimistisch. Geht es um Exilmelancholie?

Allmächtige Schweiz

Den lustigen Gegenpol setzt der Nigerianer Tony Fidelis, der in Videoeinspielungen über die Schweiz redet. "Auf den Baustellen und in den Fabriken hier findest du keine Schweizer", meint er. Sehr nobel umschifft er es, dem Schweizer Griesgrämigkeit vorzuwerfen: "Da wo ich herkomme, sind die Leute immer glücklich und lachen, egal in welchen Umständen sie stecken". Und er präsentiert sich herzlich naiv mit gelbem Lamborghini und schönen Frauen in einem R'n'B-Videoclip, der ihm den Weg aus der Schoko-Fabrik in die Charts ebnen soll.

Überhaupt die Schweiz. Alle reden von den "allmächtigen Schweizer Gesetzen", dem "hohen Grad der Organisiertheit", dem "Sicherheitsdenken". Dem könnten sie, so Oberholzer-Smirnova sehr behutsam, einen guten Beitrag an Kreativität und Lebensfreude zuschießen. Auch hier die Totale, anstatt konkrete Reibungspunkte oder Wirkungen dieser Kreativität darzustellen.

Vielleicht wagen Kastenmüller und Dramaturgin Fadrina Arpagaus in den Folgen "Arrivals II-IV" mehr Close-ups, mehr Nähe? Das Ganze ist als work in progress angelegt. An sich will das Neumarkttheater die "globalisierte Arrival City" (Programmtext) wie "eine Folie über Zürich legen", um "herauszufinden", wie sich die "Kräfte, die das Ankommen freisetzt, für alle nutzen lassen". Schön gedacht. Für die gewünschte Wirkung braucht es offenbar viel Publikum und starke Beteiligung. Bei der Premiere war nur ein kleines Grüppchen zugegen.

 

Arrivals I – Das Hohelied
Ein Projekt von Peter Kastenmüller, Björn Bicker, Michael Graessner und Tobias Yves Zindel
Regie: Peter Kastenmüller, Text: Björn Bicker, Bühne: Michael Graessner, Kostüme: Karoline Bierner, Video: Tobias Yves Zindel, Dramaturgie: Fadrina Arpagaus.
Mit: Riane da Gomes Ucar, Thomas Ucar, Gul Afroz Haidari, Reza Ahmadi, Tony Fidelis, Anjelika Oberholzer-Smirnova, Martin Butzke, Janet Rothe, Jan Viethen.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.theaterneumarkt.ch

 

 

Kritikenrundschau

Als "essayistische Sessions" beschreibt Katja Baigger von der Neuen Zürcher Zeitung (Lokalteil, 5.10.2013) die "Arrivals"-Abende. Beim ersten Teil höre man den "Helden der Ankunft gerne zu. Schade, dass sie bisweilen ihren Einsatz verpassen. Am Ende franst das Porträt aus, seine Gesprächsfäden werden beim gemeinsamen Essen aufgenommen."

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