Rollmöpse rein, Rollmöpse raus

von Falk Schreiber

Hamburg, 5. Oktober 2013. Der Intendant macht einen Witz. "Einer der begabtesten Komödienregisseure seiner Generation wird Michael Frayns 'Der nackte Wahnsinn' inszenieren", kündigt Thalia-Hausherr Joachim Lux auf der Spielplanpressekonferenz an. Pause. "Luk Perceval." Gelächter unter den Medienvertretern, Pointe gelungen. Perceval, der Chefgrübler des zeitgenössischen Theaters, der in seiner eindrucksvollen Vita hauptsächlich schwere und schwerste Stoffe stehen hat, Dostojewski, Gorki, Fallada, immer wieder Shakespeare – der versucht sich an Frayns viel gespieltem Meta-Boulevard, der die Entstehung einer Tür-auf-Tür-zu-Klamotte mit den Mitteln der Tür-auf-Tür-zu-Klamotte zur Theatersatire erweitert. Na, das kann was werden.

"Der nackte Wahnsinn" wird jedenfalls erstmal: ziemlich lustig. Es gibt eine virtuose Slapstick-Szene, in der Regieassistentin Tini (Cathérine Seifert) mit den Tücken der Kulisse kämpft. Es gibt Kostüme, die Lisa Hagmeister in reines Bein und Victoria Trauttmansdorff in reinen Push-up verwandeln. Und es gibt eine sympathisch verzagte Figurenzeichnung, die das Klischee zwar andeutet, es aber nie ganz ausspielt: Ja, der Hauptdarsteller (Matthias Leja) ist ein eitler Fatzke mit Sprachfehler. Ja, der Regisseur (Felix Knopp, der hier an sein ehemaliges Stammensemble als Gast zurückkehrt) ist ein angeschmuddelter Provinztheatermacher, der glaubt, jedes menschliche Problem mit einem Quickie lösen zu können. Aber irgendwo ist er auch mehr, nämlich: ein Künstler, der versucht, das, was man schon nicht mehr als Kunst bezeichnen kann, irgendwie zu einem Ende zu bringen, das allen Beteiligten ihre Würde lässt. Und dass die Zuschauer wissen, dass diese Würde längst verloren ist, macht Frayns Humor aus. "Tür auf, Tür zu, Rollmöpse rein, Rollmöpse raus", salbadert der Regisseur im Stück, "das ist Farce, das ist Theater, das ist Leben." Brüller, oder?

Drama, Baby!?!
Mit diesem Humorverständnis nimmt Perceval die Vorlage ernst, tatsächlich nimmt er sie sogar zu ernst. Beispiel Bühnenbild: Katrin Brack hat hier etwas gebaut, das genau das darstellt, was es behauptet – von vorn eine Wand mit vielen Türen, die wunschgemäß auf- und zugehen, von hinten eine Sperrholzwand. Kulissennaturalismus. Und wie die Bühne keine zweite Ebene einzieht, so führt Perceval zunächst auch Regie: Er stellt Frayns Theater im Theater nach, das durch die Bank gut aufgelegte Ensemble sorgt derweil dafür, dass die Lacher an den richtigen Stellen kommen, und wäre die Inszenierung nicht handwerklich so perfekt gebaut, sie könnte auch an jedem x-beliebigen Stadttheater laufen.

der nackte wahnsinn3 560 armin smailovic hDie Welt ist nicht rosarot, sondern eher komisch gelb: Felix Knopp als Regisseur in "Der nackte Wahnsinn" © Armin Smailovic

In seinem Ernstnehmen der Vorlage scheint Perceval allerdings zu übersehen, dass diese Vorlage an manchen Stellen nicht unproblematisch daherkommt. Das fängt an bei Frayns altbackenem Frauenbild und geht dort weiter, wo man feststellt, dass der Autor nicht den Hauch eines Gespürs für Elemente wie Camp oder Queerness hat. Natürlich lassen sich überspannte Neurotiker als Witzfiguren zeichnen – aber spannender wäre es vielleicht, die Frage zu untersuchen, ob solche Überspannung nicht abschreckend, sondern unter Umständen reizvoll sein könnte? Ob in solcher Überspannung womöglich eine kreative Kraft liegen könnte? Drama, Baby! Nicht bei Frayn, und erstmal auch nicht bei Perceval.

Klamauk versinkt in Kakophonie
Erst im dritten Akt verlässt die Inszenierung den Pfad der Werktreue – als Knopps Regisseur merkt, dass auch mit seinem Werk nicht treu gespielt wird. Die Generalprobe ist durchgeprügelt (erster Akt), die Aufführung trotz aller menschlicher Verwerfungen eingespielt (zweiter Akt), und mittlerweile muss der Regisseur erkennen, dass das, was da beklatscht wird, wenig mit dem zu tun hat, was er einst inszenierte. Die Bühne steht unter Wasser, die Darsteller sind halb sediert, halb haben sie ihre Rollen zurechtimprovisiert, und die Pointen sind so selten wie das passende Timing.

Plötzlich hat sich eine dunkle Stimmung in Percevals Inszenierung eingeschlichen, plötzlich versinkt das, was zuvor auf nahezu ärgerliche Weise gut funktionierte, in Aggression und Kakophonie. Und plötzlich kapiert man, weswegen es mehr ist als ein guter Witz, Perceval eine Komödie inszenieren zu lassen. Der Tragödienspezialist entpuppt sich hier als Regisseur, der es schafft, Trauer und Schrecken aus Gelächter herauszuschälen, ohne das Gelächter letztlich zu verraten. Das ist nicht nichts, auch wenn "Der nackte Wahnsinn" es wahrscheinlich nicht in die Reihe der epochalen Perceval-Arbeiten von "Schlachten!" (1999) über "Othello" (2003) bis Jeder stirbt für sich allein (2012) schaffen wird.
 
Der nackte Wahnsinn
von Michael Frayn, deutsch von Ursula Lyn
Regie: Luk Perceval, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Ilse Vandenbussche, Musik: Lothar Müller, Licht: Mark Van Denesse, Dramaturgie: Susanne Meister.
Mit: Lisa Hagmeister, Felix Knopp, Matthias Leja, Barbara Nüsse, Cathérine Seifert, Wolf-Dietrich Sprenger, Oda Thormeyer, Victoria Trauttmansdorff, Tilo Werner, Live-Musiker: Paul Kaiser (Schlagzeug), Lutz Krajenski (Hammondorgel), Lothar Müller (Gitarre).
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.thalia-theater.de

Kritikenrundschau

Von "dicht gedrängten Crash-Siuationen" in einer "bestens organisierten Randale" spricht Werner Theurich auf Spiegel-Online (6.10.2013). Es ist aus Theurichs Sicht "allein technisch eine große Leistung Percevals, aus dem Wust an Material einen Rausch der Theater-Selbstreferentialität zu gestalten." Was allerdings auf den ersten Blick amüsant erscheine, biete "letztlich aber nur einen anderen, keinen neuen Blickwinkel." Luk Perceval gelinge es zwar, das Stück an seine Grenzen und natürlich auch zu übertreiben. Allerdings spürt Theurich bei allem Exzess nur wenig Lust. Denn es geht Perceval seiner Einschätzung zufolge "um die Technik, nicht um Figuren". So seien am Ende alle erschöpft gewesen, auch das Publikum.

"Komisch, wirklich komisch ist es – wie schade – nur zu Beginn," schreibt Armgard Seegers in der Welt (7.10.213).Im ersten Akt der Frayn-Komödie finde Perceval mit seinen Schauspielern großartige, sehr komische Situationen. "Das war's dann aber auch. Warum das Stück, diese närrische, gut geölte Maschine, mit Musik überzogen wird – im Orchestergraben sitzt ein munter aufspielendes Trio – warum der zweite Akt durchgepeitscht und der dritte kaum noch verstehbar als Albtraum inszeniert wird, in dem lauter Egomanen auf der Bühne stehen und ihren Text einfach nebeneinander her ins Publikum brüllen, Perceval allein mag es wissen." Lediglich die Schauspieler versöhnen die Kritikerin: "Sie bilden ein herrliches Ensemble aus Könnern, die Schmierenkomödianten spielen müssen".

Michael Laages schreibt auf der Website des Deutschlandfunks (7.10.2013, 17:35 Uhr): Luk Perceval habe sich nicht getraut, sich auf die "mitreißende Motorik dieses unvergleichlichen Komödienmaschinchens" einzulassen, diese Komödie bleibe damit so etwas wie der "Nanga Parbat des ulkigen Theaters". Die Figuren des Stückes steckten voller "schauspielertypischer Psycho-Macken"; Perceval verschärfe diese durch Übertreibung. "Leider". Denn eigentlich sei das "Lachen bis der Arzt kommt" nicht das Ziel des Stückes.

Der Regisseur schneidet seinen Spielern den Weg in die Eskalation ab, er treibt Eskalation, Schmierentheater, Affenzirkus von der ersten Sekunde an, so Peter Kümmel in der Zeit (10.10.2013). Von Beginn an ringen Ertrinkende um Luft, im Zustand der Panik. "Luk Perceval will offensichtlich, dass man seinen Spielern ansieht, wie sehr sie sich schinden. Es ist, als habe man es mit Sklaven zu tun", von ihnen erlebe man eher die Arbeit des Komischseins als das Gelingen von Komik, "man leidet mit den Spielern, statt über sie zu lachen". Fazit: "Je fürchterlicher das Stück, je mieser die Pointen, je elender die Schauspieler, so sagt Perceval
mit dieser Szene, desto entfesselter ist der Applaus, desto glücklicher das Publikum. Auf der Grundlage dieser Annahme, die, so unser Verdacht, auch das real anwesende Publikum mitverhaftet, lässt sich mit dem Nackten Wahnsinn nach dem Schema der Selffulfilling Prophecy jeder denkbare Schindluder treiben. Perceval hat ihn getrieben."

 

Kommentare  
Der nackte Wahnsinn, HH: immer gleiche Vorurteile
"wäre die Inszenierung nicht handwerklich so perfekt gebaut, sie könnte auch an jedem x-beliebigen Stadttheater laufen."
geht doch nichts über die immer gleichen Vorurteile : gutes Theater gibt es nur an "großen" Häusern.
Der nackte Wahnsinn, HH: Gott sei Dank
Soll wohl heißen, dass handwerklich gut gebaute Komödien an einem x-beliebigen Stadttheater nicht existieren, was? Na, Gott sei Dank hat Perceval im letzten Akt noch Mehrwert eingebaut.
Nackter Wahnsinn, Thalia HH: gar nicht werktreu
Herr Schreiber, die Aufführung ist doch von Anfang an nicht werktreu. Die Dramaturgin ist im Stück eigentlich die Inspizientin, der Inspizient ist im Stück eigentlich ein Techniker, und Barbara Nüsses Alkoholikerin ist nach Frayn eigentlich ein Mann.
Nackter Wahnsinn, Thalia HH: der Kritiker antwortet
@Landei: Naja, das sind kleine Verschiebungen, aber mal ehrlich: Macht es tatsächlich einen nennenswerten Regieeingriff aus, wenn eine Rolle statt mit einem Mann mit einer Frau besetzt wird? Da gehört meiner Meinung nach schon mehr dazu, zumal gerade die drei genannten Beispiele nicht unbedingt Rollen betreffen, die im Zentrum des Stücks stehen.

@JulaFe und Provinzhandwerker: Natürlich entsteht gutes Theater auch an kleinen Häusern, tagtäglich. Aber man kann sich doch nicht davon frei machen, dass es unterschiedliche Erwartungen gibt, wenn einerseits ein Regisseur antritt, der jüngst die Inszenierung des Jahres abgeliefert hat, andererseits ein Regisseur an einem (in der Regel auch finanziell schlechter ausgestatteten) Stadttheater. Ich halte diese Erwartungen nicht für einen Ausdruck von Arroganz sondern für Realismus.
Der nackte Wahnsinn, HH: langatmig und langweilig
Meiner Meinung nach war es eher ein schlechter Witz, Perceval eine Komödie inszenieren zu lassen. Er hat jedenfalls bewiesen, dass er Boulevard nicht gut inszenieren kann. Was für ein - inbesondere nach der Pause - unsäglicher, langweiliger und langatmiger Klamauk, der übrigens auch beim Premierenpublikum nicht besonders gut angekommen ist. Müder Beifall für die Beteiligten - wobei die sich die Schauspieler bei den ununterbrochenen Slapstickeinlagen bis zur Erschöpfung verausgabt haben. Wenn diese Inszenierung als Kassenschlager gedacht war, halten Lux und seine Leute die Zuschauer anscheinend für debil.
Der nackte Wahnsinn, HH: langweilig
Ich habe mich noch nie im Theater so gelangweilt, wie an diesem Abend. Diesem Humor kann ich einfach nichts abgewinnen. Die Zeiten von "Dick und Doof" sind nun wahrlich vorbei.
Schade ums Geld und den abend in HH.
Der nackte Wahnsinn, HH: Kitschverdacht
Die arrogante Kritik eines arroganten Kritikers (Handwerk am Stadttheater) über einen arroganten Regisseur, der meint, auch dieses fulminante Wellmade-Play durch seine Kunst veredeln zu müssen.
Noch nie habe ich die Verehrung für diesen Regisseur verstanden. Leider habe ich Schlachten nicht gesehen und glaubwürdige Zeugen versichern mir, dass es grossartig war. Nur was ich später gesehen habe, war alles andere als epochal wie der Kritiker meint, eher kunstgewerblich wie Othello oder betulich affirmativ wie Jeder stirbt für sich allein. Wäre es an einem Stadttheater passiert, man hätte es glatt für Kitsch halten können.
Der nackte Wahnsinn, HH: eiskalter Auftrag
Hallo Komödie !
Das ist ein sehr , sehr unterschätztes Gebiet in der Theaterwelt . Unfreiwillig komisch ist leider vieles , aber zu wissen , das muss jetzt komisch werden weils drüber steht , also den eiskalten Auftrag erfüllen , und das dann zu schaffen ,das ist wirklich schwierig . Da kann man nämlich ein nicht-Gelingen nicht mehr als Kunst verkaufen wie leider bei dem ganzen Rest . Das ist dann einfach nur ein großes Versagen .
Macht aber nix . Ist schon vielen passiert .
Der nackte Wahnsinn, HH: Äh, Charts?!
Sorry, liebe Nachtkritik-Redaktion,

aber wie kommt denn eine derart schlechte Inszenierung einer Klamotte, die - abgesehen von Falk Schreibers Heldenverehrung für Luk Perceval - schlechte bis grottenschlechte Kritiken bekommen und das Publikum gelangweilt hat, auf den fünften Platz der Nachtkritik-Charts? Das kann ich wirklich nicht mehr nachvollziehen.

(Werte(r) B.B.,
wie Sie der Anmerkung zur Ermittlung der nachtkritik-Charts entnehmen können, erfassen diese die Stimmenvielfalt aus Nachtkritiken, Kritikenrundschauen (da gab es keineswegs nur Totalverrisse, sondern auch Abwägendes) und Leserbeteiligung (das Interesse der Leser an dem Abend und der Kritik ist ziemlich hoch) in einem Algorithmus. Heraus kommen nicht die tollsten, sondern die Theaterabende, die bei Kritik und Publikum gerade für verstärkte Aufmerksamkeit sorgen.
Beste Grüße,
die Redaktion / ape)
Der nackte Wahnsinn, HH: Kritiker fragt nach
Lieber B.B., ein wenig würde mich ja doch interessieren, wo Sie in dem Artikel "Heldenverehrung für Luk Perceval" sehen? Weil der Text keine "schlechte bis grottenschlechte Kritik" war, wie Sie sie sich gewünscht hätten? Und die die Kollegen bei Licht betrachtet auch nicht geschrieben haben?
Der nackte Wahnsinn, HH: letzter Absatz
@Falk Schreiber

Lieber Herr Schreiber,

dabei habe ich mich auf den letzten Absatz Ihrer Kritik bezogen. Im Gegensatz Zu Ihnen fand ich Percevals Neudeutung des dritten Aktes in einen "Albtraum des Regisseurs" schlichtweg misslungen. Und vielleicht kann man ja "Schlachten" noch als "epochal" bezeichnen. Aber "Othello" und "Jeder stirbt für sich allein"?
Nackter Wahnsinn, Hamburg: der 3. Akt
LiebeR B.B.,
Danke für die Rückmeldung. Tatsächlich gehen unsere Meinungen bezüglich des dritten Akts auseinander - für mich rettete Percevals Deutung hier die Inszenierung, die ohne diesen dritten Akt doch sehr belanglos geblieben wäre. Die Bedeutung von "Othello" und "Jeder stirbt für sich allein" sollte man nicht zu gering schätzen: Immerhin waren beide Inszenierungen beim Theatertreffen, so etwas kommt nicht ungefähr. Vielleicht mag "epochal" hier ein sehr großes Wort sein, andererseits kann man schon fragen, ob es während der vergangenen 15 Jahre allzuviele Inszenierungen gab, auf die dieser Begriff mehr zutreffen würde?
Nackter Wahnsinn, Hamburg: epochaler "Othello"
also othello war nicht beim theatertreffen, für mich war die inszenierung, zumindest in München, dennoch "epochal"
Der nackte Wahnsinn, Hamburg: noch nicht fertig?
Also, ich habe die Premiere von der "Nackte Wahnsinn" so in Erinnerung, dass das Publikum während des erstes Akts ausgiebig und viel gelacht hat ( ich auch), im zweiten Akt war das Stück auch noch schön anzusehen und der dritte Akt fiel schon raus.
Vielleicht fehlte da noch eine Woche Probenzeit, um das ganze rund zu kriegen ? In einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt kurz vor der Premiere hatte Perceval so etwas gesagt, dass sie eigentlich noch nicht fertg sind.

Würde mich mal interessieren, ob nach der Premiere noch was an der Inszenierung verändert wurde ?

Weiss da jemand was ?
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