Gefühlsproduktion vor dem Wolkenhimmelrollo

von Leopold Lippert

Graz, 6. Oktober 2013. "Sei nicht du selbst" – zwar kein Ausrufezeichen, aber doch ein Motto steht über Boris Nikitins Auftragsinszenierung für den Steirischen Herbst und das Schauspielhaus Graz, in dem er sich der großen Fragen des Theaters annimmt. Es soll um Identität, Authentizität und Präsenz gehen. Und um die ewige Zerreißprobe zwischen "echt jetzt?" und "nur Spaß!", die jeder Bühnenkonstellation innewohnt.

sei-nicht-du-selbst 280h lupispuma uSelbstsein oder nicht Selbstsein? Das ist hier die
Frage... © Lupi Spuma
Praktikable Strategie fürs gute Leben

Man könnte das bierernst thematisieren, eine post-everything Einführungsvorlesung abhalten und gegen den vermeintlichen Authentizitätszwang wettern. Man könnte auch zur Beweisführung antreten, dass das So-tun-als-ob eine sehr praktikable Strategie zum guten Leben im Spätkapitalismus ist. Und man könnte schließlich das Theater als politisch korrekte Versuchsanordnung begreifen, um irgendwelche Rückschlüsse auf soziale Wirklichkeiten zu ziehen.

Man kann das aber auch ganz flapsig machen und wie Boris Nikitin den schmalen Grat zwischen Echtem und Falschem, zwischen Selbstsein und Nichtselbstsein leichtfüßig entlangspazieren und dabei die Zuschauer lustvoll in allerlei Fallen tappen lassen. Das geht dann so: Da sitzen fünf Schauspieler, vier Männer (Thomas Frank, Adrian Gillott, Lorenz Kabas, Julian Meding) und eine Frau (Katharina Klar), auf schlichten Stühlen an der Bühnenvorderseite der kleinen Probebühne des Grazer Schauspielhauses und erzählen abwechselnd, aber nie durcheinander, wer sie sind.

Wiederholung und Differenz

Es sind die obligatorischen biographischen Stichpunkte: beruflicher Werdegang, prägende Kindheitserinnerungen in Wien-Floridsdorf ("viele Sonnenstudios, keine Buchhandlung") oder Murau ("ein Ort in der Obersteiermark, für alle, die nicht aus der Gegend sind"), aktuelle Krisen und Probleme und die Lehren, die man aus emotionalen Extremsituationen gezogen hat. Dann zeigt Thomas Frank, ganz Schauspieler, dass es eigentlich ziemlich einfach ist, einfach mal draufloszuheulen. Klar, man kennt die Techniken und Dramaturgien der Gefühlsproduktion, und einige im Publikum lachen sogar, aber irgendwie fühlt es sich auch ganz echt an. Echt, ohne authentisch zu sein. Geht das überhaupt?

Langsam, und erst nach und nach bemerkbar, wiederholen sich Versatzstücke aus den Erzählungen, sie werden anders angeordnet, leicht abgewandelt, vermeintliche Fakten kommen durcheinander. Manche Lebenserinnerungen hört man dreimal, gar viermal, aus verschiedenen Mündern. Das endlose performative Spannungsfeld zwischen Wiederholung und Differenz hat man selten so amüsant und doch präzise wahrgenommen. Am Ende werden die Schauspieler ihre Kleider getauscht haben und die Rollen der jeweils anderen angenommen haben. Das sieht grotesk aus, wenn aus dem bulligen Thomas "Ich habe 115 Kilo" Frank die zierliche Katharina Klar wird (und umgekehrt), und ist wohl ungefähr genauso "echt" wie der (zu) süßliche Fertiggerichtduft aus der spartanischen Bühnenküche, der da schon durch den Raum strömt. Also irgendwie ein bisschen.

sei-nicht-du-selbst 560lupispuma uEchter Duft von echtem Essen? © Lupi Spuma

Das kann doch nicht wahr sein, das Leben!

Die zweite Hälfte der eineinhalbstündigen Inszenierung entpuppt sich dann als Parodie eines Well-made-plays. In einer schäbigen aber realistischen Einzimmerwohnung mit Wolkenhimmelrollo setzen sich die Schauspieler an einen abgewohnten Esstisch, stochern in aller Seelenruhe in Fertigpasta herum (nicht immer im eigenen Teller!) und trinken Rotwein. Dabei unterhalten sie sich auch miteinander, aber zu leise, um wirklich verstanden zu werden. Manchmal glaubt man zu hören, dass sie vom Schauspielerdeutsch zu ihren jeweiligen Dialekten gewechselt haben. Ist das jetzt authentischer? Nikitin lässt in der Schwebe, ob die gemurmelten Gespräche Idyll sein sollen oder ob hier gleich etwas explodiert.

Auch der Spielleiter Adrian Gillott, der in "Unsere kleine Stadt"-Manier immer wieder aus der Wohnung tritt (er muss dazu die Tür nehmen), um dem Publikum allwissend die Gedanken seiner Schauspielerkollegen zu verraten, löst das Küchentisch-Dilemma nicht auf. Es gehe schließlich um etwas anderes. "Life can't be true! Go on, pretend!" feuert er mikrofonverstärkt und walzeruntermalt das Publikum an, doch seine schier endlose Motivationsrede, eine bunte und manchmal jenseitige Aufzählung von "Als-ob"-Möglichkeiten gibt die traurige Absurdität der Prämisse preis. "Pretend that you are the last person with AIDS!" ruft er schließlich und spätestens dann ist allen klar: Auch das Nicht-du-selbst-sein hat seine Grenzen.

 

Sei nicht du selbst! (UA)
Konzept und Regie: Boris Nikitin, Konzept und Sound: Matthias Meppelink, Bühne: Boris Nikitin und Katharina Trajceski, Dramaturgie: Flori Gugger.
Mit: Thomas Frank, Adrian Gillott, Lorenz Kabas, Katharina Klar und Julian Meding.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten

www.schauspielhaus-graz.com
www.steirischerherbst.at

Kritikenrundschau

Der Abend sei "eine komische Demontage der Marke Ich, der Lüge des einzigartigen Selbst, das es immer und überall zu präsentieren gilt", so Colette M. Schmidt im Wiener Standard (7.10.2013). Am Ende, nachdem die Schauspieler zunächst "dieses Selbst über Eckdaten ihrer Biografien" erzählten, um danach in Rollen zu schlüpfen, "sitzen die Schauspieler wieder aufgefädelt am Bühnenrand, während hinter ihnen die Geräusche des gemeinsamen Mahls – das Klimpern des Geschirrs, die murmelnden Unterhaltungen – vom Band weiterlaufen. Sie haben ihre Figuren verlassen. Das Selbst bleibt unauffindbar."

Ob "Sei nicht du selbst" zu einer Selbstfindung beigetragen habe, bleibe offen, findet ein namenloser Autor in der Kleinen Zeitung (7.10.2013). Immerhin: Das Publikm "applaudiert, pfeift und hatte seinen Spaß."

 

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