Das ist bekannt

von Thomas Rothschild

Oktober 2013. Wann fängt die Gegenwart an? Für Andreas Englhart in den 1960er Jahren. Vielleicht wurde ihm diese willkürliche Setzung durch den Umstand aufgenötigt, dass er "Das Theater der Gegenwart" auf 125 kleinformatigen Seiten unterbringen musste, aber einen geschichtlichen Überblick, nicht einen Essay zur aktuellen Lage liefern wollte. Mehr als eine elementare Einführung konnte und sollte das dem Format der Reihe entsprechend nicht werden. Dass nur das deutschsprachige Theater gemeint ist, unterschlägt der Titel. Versteht es sich von selbst, dass Ariane Mnouchkine oder Robert Lepage nicht zur Gegenwart gehören? Andererseits ignoriert Englhart regionale und sogar nationale Besonderheiten, wenn er etwa Johann Nestroy für das Unterhaltungstheater in Anspruch nimmt, ohne dessen Verwurzelung im Wiener Volkstheater zu erwähnen, die aus benennbaren Gründen außerhalb Österreichs keine Entsprechung fand.

Wie stets bei solchen kursorischen Darstellungen kann man über Gewichtungen streiten. Aber welche Kriterien für die Marginalisierung von Thomas Langhoff, Alexander Lang, Pina Bausch, Alvis Hermanis verantwortlich sind, ist nicht eruierbar. In der kurzen Liste der "exemplarischen Inszenierungen" kommen sie, wie übrigens die Regisseurinnen inklusive Andrea Breth, nicht vor. Für die Autorinnen hält Elfriede Jelinek einsam die Position. Ist das Bedauern über die Benachteiligung von Schauspielerinnen an einer Stelle im Text nur eine rhetorisch-opportunistische Pflichtübung?

Was lernt man von der Schludrigkeit?

Im Bemühen, möglichst alles abzudecken, was irgendwie mit dem Thema zu tun hat, nützt Englhart das terminologische Angebot, das zurzeit in Umlauf ist, ohne die Begriffe zu präzisieren – so windet er sich beim Versuch, "Postdramatik" zu definieren – und nach ihrer Kompatibilität zu fragen. Das führt zu mancherlei Unschärfen. Sind Privattheater, die den "öffentlichen Theatern" (gemeint sind Theater in öffentlicher Trägerschaft) gegenübergestellt werden, nicht öffentlich? Was ist "neo" am "(Neo-)Strukturellen"? Passt der Begriff des "Dokumentartheaters" gleichermaßen auf Rolf Hochhuth, den Englhart für dessen "Pionier" hält, und auf Rimini Protokoll?

Manches ist auch einfach widersprüchlich oder unrichtig. Das Regietheater sei zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden, habe aber gegen das "texttreue, konventionelle Theater der 1950er Jahre" opponiert. George Bernard Shaw sei auf Thornton Wilder gefolgt (das stimmt noch nicht einmal für die deutschen Bühnen). Erwin Piscator und Fritz Kortner waren nicht "politisch weniger belastet" als Gustaf Gründgens – sie waren gar nicht belastet. Was besagt so eine Schludrigkeit über das Denken eines Autors?

Englhart nennt für seine Thesen meist Beispiele, was den Vorteil hat, jene vom puren Behauptungscharakter zu befreien, aber den Nachteil, dass sie meist sehr beliebig ausfallen und zudem voraussetzen, dass Leser, die einer so verallgemeinernden Einführung bedürfen, sie kennen. Ist das etwa bei Heiner Goebbels' Stifters Dinge oder den Wiener Aktionisten der Fall? Das wohl am häufigsten vorkommende Wort ist "bekannt". Dass etwas "bekannt wurde", bestimmt weitgehend Englharts Auswahl.

Auf die Gefahr, sich den Vorwurf der Beckmesserei einzuheimsen, muss doch gefragt werden, wie groß das Vertrauen zu einem in München an der Universität und an der Theaterakademie lehrenden Autor sein darf, der den doppelten, schlicht falschen Superlativ "bestsubventionierteste" zulässt und aus dem "Marsch durch die Institutionen" einen "Marsch durch die Instanzen" macht.

 

Andreas Englhart
Das Theater der Gegenwart.
C.H. Beck, München 2013, 128 S., 8,95 Euro

 

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