Zu sehr Nische

Groß Britannien, 9. Oktober 2013. "Die Theaterkritik boomt. Die Theaterkritik ist in einer Krise", konstatiert Jake Orr, britischer Theatermacher, in seinem Blog. Der Boom resultiere aus der digitalen Theaterkritik, den Blogs und Online-Magazinen, die Krise aus dem Niedergang der Printmedien und der bezahlten Theaterkritik. Zunehmend würden Kritiken als Luxus angesehen und durch Schmalspurkritiken ersetzt (Orr verlinkt auf ein Beispiel im Independent). In zehn Jahren werde es keine (oder kaum mehr) Printkritik geben. Online schon, aber dort seien die entsprechenden Seiten auf hohen Traffic angewiesen, um Geld zu verdienen: "Theaterkritik kann das nicht, trotz all unserer Hoffnungen. Als Kunstform ist es zu sehr Nische."

Die Zukunft also: Menschen, die Kritiken schreiben wollen, sollten sich darauf einstellen, das als ihr Hobby anzusehen – so ein Kritiker auf der jüngsten Konferenz des Critic's Circle, einem Zusammenschluss britischer Kritiker. Auf der anderen Seite gebe es eine große Nachfrage nach fundierter Kritik, die niemand qualitätvoll befriedigen könne, der nicht finanziell unabhängig sei.

Fragen, keine Antworten

Deshalb fordert Orr die Kunstindustrie auf, die Theaterkritik zu retten. Die Theater hätten schließlich ein großes Interesse an dieser Art von Feedback: "Besprechungen verkaufen Tickets." Außerdem betont er die Reflexionsebene der Texte und die Fachexpertise der Kritiker.

Dann stellt Orr Fragen: "Können Theater Theaterkritiker und Theaterkritik unterstützen? Kann eine Kulturorganisation eine Theaterkritik fördern? Sollte das Arts Council England einen Fonds für die Entwicklung von Theaterkritik öffnen? Wie unterstützen Künste, Industrie und andere die Theaterkritik und wirken ihrem Untergang entgegen?" Eine Antwort hat auch Orr nicht, aber er ist davon überzeugt, dass "wir einen Weg finden müssen, um Theaterkritik zu unterstützen, zu finanzieren und zu entwickeln." Andernfalls habe Theaterkritik keine Zukunft.

Das war schon immer so

Jetzt antwortet ihm die Kritikern Lyn Gardner im Guardian. Sie relativiert die Krise: Hauptberufliche Kritiker und Blogger stünden nicht in Konkurrenz zueinander, sondern seien "Teil eines sich erweiternden, lebhaften Gesprächs, in dem Künstler zuweilen wie Kritiker schreiben und Kritiker manchmal als Kuratoren auftreten und eher wie Künstler über Werke denken und schreiben". So gäbe es Möglichkeiten für Co-Kreationen. "Das ist keine Krise, sondern ein enormer Gewinn zugunsten des Theaters."  

Auch Gardner kommt aufs Geld zu sprechen, relativiert aber auch hier. Schon während der letzten 30 Jahren hätten nur ein gutes Dutzend Kritiker allein vom Schreiben über Theater leben können. "Als ich begann, brauchte ich einen Job, um mir das Schreiben zu finanzieren. So war das auch für die Theatermacher schon immer." Erst wenn junge Leute die Hoffnung auf einen bezahlten Job verlören (als Kritiker wie als Theatermacher), gäbe es eine Krise, weil dann nur noch Menschen mit Geld Theater machen oder Kritiken schreiben könnten. "Die Frage ist: Was kann man tun, um abzusichern, dass die Arbeit weitergeht und diese Stimmen weiterhin gehört werden? Irgendwelche Ideen?"

(geka)


Mehr zum Thema? Im August entließ der britische Independent on Sunday seine Kulturkritiker, darunter den renommierten Pop-Kritiker Simon Price. Zur Krise der Theaterkritik hat Tobi Müller einen bei uns veröffentlichten Vortrag gehalten. Den deutschsprachigen Theaterblogs hat sich im Frühjahr Georg Kasch gewidmet. Außerdem haben wir den Beginn und das Ende des Schweizer Portals theaterkritik.ch hier, hier und hier begleitet, das sich von den Theatern pro Kritik hatte bezahlen lassen. Hier finden Sie eine Zusammenfassung verschiedener deutschsparchiger Medien zum Thema 'Theaterkritik im Netz'.

 

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