Shakespeares Spiralmuster

von Georg Kasch

Berlin, 9. Oktober 2013. Ziemlich zu Beginn gibt es einen Moment, da baut sich Lilith Stangenberg vorne auf, während alle anderen hinten am Flügel gemeinsam harte Monsterakkorde greifen. Mit jedem von ihnen verändert sich Stangenbergs Gesichtsausdruck, biegt sich ihr freundliches Lächeln zur Fratze, bis die Lider gefährlich flackern, die Augen zucken und sich die Mundwinkel einander bedrohlich nähern. Dann löst sich die Spannung ins Gegenteil, irgendwann wechselt sie nur noch zwischen Gut und Böse, ein irres Gewitter der Emotionen, das einerseits hochnotkomisch ist, andererseits aber jene zwei Gesichter nahezu simultan ins Bild bannt, die das Theater repräsentieren: die lachende und die weinende Maske.

Es ist also schon Theater, was hier über Bert Neumanns Bühne geht – vorne latexroter Guckkasten, hinten leeres Riesenrund mit Flügel in der Mitte –, obwohl der Titel doch insistiert: "Das Schottenstück. Konzert für Macbeth". Stimmt ja ebenso: Die meisten in David Martons erprobtem Team sind Musiker, und so reihen sich die Titel aneinander zwischen Purcell und Ysaÿe, The Doors und Nina Simone, oft in großartig eigenwilligen Interpretationen.

Sound-Staccato meets Texttransfer

Einmal spielen sie Bachs Orgel-Passacaglia in aberwitziger Besetzung mit E-Gitarre, Trompete, Geige, Querflöte, Akkordeon und Melodica, rau und mit weitem Sehnsuchtsatem, bis die Musik ins Terror-Staccato kippt und Trompeter Paul Brody die Kopfschmerz-Visionen der Lady jazzt. Überhaupt die Lady: Ihre Texte bestimmen den alptraumhaft-ironischen Bilderreigen mit einer guten Hand voll Shakespeare-Zitate. Schließlich ist "das schottische Stück" die unter abergläubischen Schauspielern übliche Bezeichnung für "Macbeth".

schottenstueck 560b thomasaurin hLady Lilith Stangenberg im "Schottenstück" © Thomas Aurin

Der Feldherr allerdings bleibt abwesend – oft hat man den Eindruck, der Abend sei jener Alptraum, den sein Gewissen ihm aufzwingt. Schließlich wandelt sich Macbeth unter dem Druck des Schicksalsspruchs und dem der ehrgeizigen Lady erst allmählich vom loyalen Krieger zum mordenden Karrieristen, das geht natürlich nicht ohne psychische Begleiterscheinungen ab. Zwar spricht einmal der Bariton Thorbjörn Björnsson Macbeth' Worte, nachdem Lilith Stangenbergs Lady lakonisch Banquo entsorgt hat. Aber er bleibt klar ein Medium: Beide sitzen auf der zentralen Scheibe mit ihrem psychodelischen rot-weißen Spiralmuster, Björnsson trägt Kopfhörer und Radioempfänger und wiederholt mühsam die deutschen Worte, die ihm jemand hinter der Szene vorspricht. Plötzlich wechselt er den Sender und damit in einen isländischen Stadionbericht.

Vom Abpflücken falscher Wimpern

Stangenberg wiederum spielt ihre Lady mit einer wundersamen Mischung aus staunender Anverwandlung und inniger Distanz: Sie pendelt mit so hoher Schlagzahl zwischen Mädchenunschuld und Boshaftigkeitsfuror, Wahn und Wahnwitz, Grimm und Grimasse, dass es einen trotz schönster Parodie immer wieder gruselt. Ihr gollumhaftes Grinsen fletscht die Zähne.

Allein mit welcher Eleganz sie sich auch die zweite falsche Wimper abpflückt, nachdem ihr die eine schon abhanden kam, und sie einer Kollegin reicht wie der Zofe vom Dienst, ist zum Niederknien. Dann wieder schleicht sie umher, als wäre sie einem expressionistischen Stummfilm entsprungen.

Wahnsinns Vernissage-Gesellschaft

Oft entstehen so zwingende Assoziationen, öffnen sich psychologische Spiegelwelten zum Shakespearedrama. Dann wieder plätschern die Bilder so vor sich hin, und das chronologische Abklappern der Lady-Befindlichkeiten wirkt zuweilen wie eine Pflichtübung, als wolle das Team sagen: Guckt, wir spielen wirklich Shakespeare! Dann wieder verbeugt sich Marton mit einem genialen Einfall vor der wilden Volksbühne, wo er einst als Musiker arbeitete und mit Wozzeck einen Karriere-Grundstein legte: Da bespritzen und besudeln Gabriella Hámori und Thorbjörn Björnsson mit Ganzkörpereinsatz und Blutfarbe große Blätter, die Pianistin Marie Goyette mit nicht nachlassender Begeisterung einsammelt, signiert und an den Rundhorizont heftet, wo sich dann eine blasierte Vernissage-Gesellschaft versammelt und die Lady austickt, weil sie überall Tote sieht.

Was weniger gut zusammenpasst, kann man natürlich immer auf die Traumlogik schieben – den Rest kittet der Soundtrack von vergeblichem Streben und nahendem Wahnsinn, zusammengehalten vom Alleskönner Sir Henry an Cembalo und Synthesizer. Ein Kommentar und ein Abgesang, der im Hiob-Vers der Purcell-Beerdigungsmusik für Queen Mary kulminiert: "Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht." Wenn schon Alpvision, dann mit Wohlklang.

 

Das Schottenstück. Konzert für Macbeth
nach William Shakespeare in der Übersetzung Friedrich Schillers für das Weimarer Hoftheater 1800
Regie: David Marton, Raum: Bert Neumann, Kostüme: Nina von Mechow, Licht: Frank Novak, Dramaturgie: Thomas Martin, Barbara Engelhardt.
Mit: Thorbjörn Björnsson, Paul Brody, Marie Goyette, Gabriella Hámori, Jelena Kuljic, Sir Henry, Lilith Stangenberg, Nurit Stark. Chor: Caroline Olbertz, Winnie Brückner, Marcus Gartschock.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause.

www.volksbuehne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

"Erstaunliche musikalische Interpretationen" hat André Mumot vom Deutschlandradio Kultur (Verschriftlichung der Fazit-Sendung vom 9.10.2013) in Martons "Konzert für Macbeth" vernommen. "Das Ergebnis aber ist ein Flickenteppich der für sich selbst stehenden Ideen, der originellen und der platten Einfälle." Überraschend bleibe, "wie viel Albernheiten, wie viel kraftmeierischen Radau" Marton dazwischenschiebt, "wie viel simple Blut- und Wasserplanscherei (...), wie viel vordergründig lärmende Ekstase". Viele der szenischen Einfällen blieben "erratisch, austauschbar, verweisen kaum noch auf Macbeth und strapazieren so die Zuschauergeduld." Stangenberg sei "immer wieder sehr, sehr komisch", markiere aber auch "das größte Problem des Abends, der sein inneres Anliegen konsequent verrätselt und verwitzelt: Emotionale Eindringlichkeit, Ernsthaftigkeit und Tiefe sind nur in der Musik zu finden".

"Träumen Frauen von starken Helden? Sind rettende Ritter und Mörder auf dem Weg zum Königsthron eigentlich Frauenfantasien?", fragt Katrin Bettina Müller in der taz (11.10.2013) angesichts dieses "Schottenstücks". Macbeth sei hier "eher nur als Statist unterwegs". Die Fokussierung auf die Lady "als eigentlicher Motor" hinter den Morden sei "zwar keine neue Interpretation, aber selten wird sie so weit getrieben, dass ihre Rolle als einzige übrigbleibt". Durch Nina Simones Song "Tomorrow is my turn" werde auch der Lady Angst davor spürbar, "dass nichts so wird, wie sie imaginiert (...). Ihr Macht- und Lebenshunger als der einer konsequent von der Teilnahme am Glück Ausgeschlossenen." Trotz starker Momente sei diese Arbeit "längst nicht so gelungen" wie frühere von Marton. Es hapere diesmal an der und an Handwerklichem: "Der Text säuft akustisch ab und wird unverständlich. Die Musiker bleiben schauspielerisch blass, und viele Szenen gehen im großen Bühnenraum fast verloren - sodass am Ende der Eindruck einer skizzenhaften Ideensammlung bleibt".

"Es ist ein Abend, wie es wenige gibt", schreibt hingegen Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (11.10.2013): "anstrengend, laut und sehr zart, mit leisestem Witz und augenaufregenden Bildern". "Äußerlich, mit dem flotten Auge und dem halben Ohr genommen, tritt dieser Abend als bloßer Bilderreigen auf. In seinem Inneren glüht jedoch ein Theater, das ins Absolute strebt und in lauter Einzelheiten zerfällt, das überrumpeln will und doch aller Verklärung misstraut. Eine schartig stachlige Bühnengroßwelt, die mit allen Sinnen begriffen sein will – oder sich nicht begreifen lässt." "Macbeth" sei hier "Chiffre für alle Widersprüche, die in getriebenen, verfolgten, also wachen, sinnensensiblen Seelen zusammenkommen, auch für die Ungeheuerlichkeiten, die daraus geboren werden". "Leicht ließe sich dieser Abend dabei als fahriger Szenenwürfelkasten verspotten. Das jedoch hieße nicht nur die musikalische Extraklasse (...) verfehlen. Am Ende mag der Abend etwas zerfasern, (...) aber wie entschieden er zumeist seiner eigenen inneren Kompositionslogik folgt!"

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