Sleeping Beauty (1–4) - Die erstaunliche Performerin Ann Liv Young brilliert beim Steirischen Herbst in Graz mit einem bizarr kandierten Märchenabend
Dornröschen küsst man nicht
von Friederike Felbeck
Graz, 12. Oktober 2013. Künstliche Miniweihnachtsbäume, Glitzer in Dosen und Talmi im Haar: die heilige Familie hockt in Pink gekleidet auf Häkelkissen. Im Lilifee-Reich ist alles auf Rosa getuned: Haarige Männerbeine lugen unter Tüllkleidern hervor, und unter den blonden Perücken sprießen die Vollbärte. In der Mitte ein kleines Mädchen; zwei der pinken Klone befragen sie lautstark, welche Zauberwesen sie am liebsten mag. Dann wird sie in einem Affenzahn umgemodelt: einmal Meerjungfrau, dann Fee, schließlich Prinzessin. Die Kleine reißt sich die Kostüme immer wieder selbst vom Leib. Am Ende trägt sie dasselbe rosafarbene Kleidchen und eine ungekämmte platinblonde Perücke wie ihre Sekundanten. Sie tanzt und wiegt sich zur Musik, ihre Lippen bewegen sich zum Playback von Adeles "Someone like you".
Märchenstunde mit Mutter und Tochter
Eine der beiden weiblichen Performer der insgesamt sechsköpfigen Truppe, ebenfalls im Tütü und auf Spitzenschuhen, probt zeitgleich einen Pas de deux und will in die kräftigen Arme ihrer Partner sinken – die sie ungeschickt fallen lassen. Es sind Mutter und Tochter, die auf dieser Bühne gemeinsam tanzen: Die kleine Lovey Ailish ist die Tochter der New Yorker Künstlerin Ann Liv Young und Dreh- und Angelpunkt von Youngs Tetralogie "Sleeping Beauty" ("Dornröschen").
Seit 2005 polarisiert Ann Liv Young mit Performances, die sich über alle Konventionen und Protokolle hinwegsetzen. Dabei stößt sie sich immer wieder von mythischen Mädchen- und Frauenfiguren ab: 2006 spielte sie hochschwanger und nackt bis auf eine Disney-Maske "Snow White" ("Schneewittchen"). 2010 gab sie "Cinderella" ("Aschenputtel"), urinierte und defäkierte auf der Bühne. Als herrische Undine planschte sie barbusig und mit Fischschwanz in ihrer "Mermaid Show". Inspiriert von ihrer Tochter Lovey wurde bereits 2011 "Sleeping Beauty 1" während des American Realness Festivals in New York uraufgeführt, Teil 2 folgte ein Jahr später in Oslo. Nun hat der Steirische Herbst das Familienunternehmen mit einer Fortsetzung beauftragt.
Die Mythen und die Musiken
Youngs Kielwasser ist glatter geworden. Im Next Liberty, dem Grazer Theater für junges Publikum, sitzen die etwas mehr als 100 Zuschauer in zwei Reihen im Quadrat auf der Bühne. In ihrer Mitte agieren die Performer auf einem hellerleuchteten weißen Tanzboden, auf dem penibel Requisiten und Technik bereit gestellt sind. Sie spielen Boule mit Legosteinen oder interpretieren Szenen aus Disneys Version von "Dornröschen" neu. Der Prinz (Rj Supa), der sich im Wald verirrt, jammert und weint um seine tote Mutter, als wäre Shakespeare sein Schöpfer. Dazu singen sich die Märchen-Neu-Erfinder mit dem fantastischen Country-Song "Ain't it enough" der Old Crow Medicine Show die Seele aus dem Leib: Der Abend segelt von Song zu Song, von Shakira zu den Smashing Pumpkins zu Simon and Garfunkel oder Bob Seger – das kollektive Gedächtnis als Karaoke-Playlist.
Nach der Pause sind die Vorzeichen umgekehrt. Alle tragen Grufti-Look, schwarze Perücken und dunkle Augenränder. In der Kleinfamilie "Malificent" (so heißt die böse Fee in Disneys Dornröschen-Verfilmung) streiten die Eltern um das Sorgerecht, während die Tochter Zuschauer erschreckt. In Fluggeschirren von der Decke hängend tanzen Young und ihr schwarzer Prinz "The killer in me is the killer in you" singend einen Gespenster-Zweikampf. Dann wird das Publikum aufgefordert, in den eigentlichen Zuschauerraum umzuziehen. Im Dunkeln streifen die schwarzen Gestalten wie in einer Geisterbahn fauchend und schubsend durch die Stuhlreihen – nirgendwo ist man mehr sicher. Auf der Bühne wird eine Hüpfburg mit Rutsche aufgeblasen, in der sich die schräge Addams Family verlustiert. Das Angebot an die Zuschauer, es ihnen gleich zu tun, wird kurzerhand auf das Ende des Abends verschoben, denn Ann Liv Young bricht auf in ihre wohl bekannteste Metamorphose: die grell geschminkte Südstaatlerin und Publikumsbeschimpferin Sherry.
Therapie auf Sherry-Art
In einem umgebauten LKW, dem "Sherry Truck", tourte sie bereits in den vergangenen Wochen durch Graz und Umgebung, bot Tinnef zum Kauf an und versorgte Willige mit Einzeltherapien sogenannten "Sherrapien" bei pinkfarbenem Milchkaffee. Jetzt bohrt sie wieder: "What did you learn?" oder "What's your problem?", und wer nicht antwortet, wird von ihren Assistenten massiert und vorgeführt. Beleidigungen und Appelle wechseln einander ab, schließlich endet sie – wohl auch wegen der mangelhaften Beteiligung der Zuschauer: "Why do you hide from each other?" ("Warum versteckt ihr euch voreinander?")
"Sleeping Beauty" ist ein prall gefüllter Gabentisch, der Träume und Ängste der Kindheit hochspült. Young gelingt es, einer kindlichen Fantasie von Feen und Prinzen zu folgen und Bilder zu schaffen, die tiefsitzende Erinnerungen wecken. Der fast dreieinhalbstündige, äußerst kurzweilige Abend wird getragen von einem witzig und virtuos agierenden Ensemble, allen voran die erstaunliche Verwandlerin Ann Liv Young. So behaglich muss es im Mutterleib gewesen sein.
Sleeping Beauty Teil 1–4 (UA Teil 3–4 Steirischer Herbst)
Text von Ann Liv Young und Dorothy Parker
Regie: Ann Liv Young, Bühne: Ann Liv Young, Kostüme: Ann Liv Young, Lovey Ailish Guerrero & Bailey Nolan, Choreografie: Ann Liv Young, Rj Supa & Lovey Ailish Guerrero, Tondesign: Ann Liv Young, Michael A. Guerrero, Lovey Ailish Guerrero & Rj Supa, Lichtdesign: Alfred Oberlassnigg & Ann Liv Young, Tontechnik: Stexx.
Mit: Ann Liv Young, Lovey Ailish Guerrero, Bailey Nolan, Michael A. Guerrero, Rj Supa.
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause
Auftragswerk Steirischer Herbst, Koproduktion Steirischer Herbst und Black Box Teater (Oslo)
www.steirischerherbst.at
Kindliche Traumbilder mutieren zu zwanghaften Geschlechterrollen, schreibt Julia Schafferhofer in der Kleinen Zeitung (12.10.2013). "Und die werden mit viel Schweiß und Kitsch in Pop-Karaoke-Sequenzen und Showeinlagen gebogen, gebrochen und zerrissen." Das sei alles sehr amerikanisch, sehr unterhaltsam und für jene, die erstmals ins Young-Universum eingeweiht werden, mitunter auch sehr befremdlich. "Und dabei durchaus erwünscht." Denn: Wohlbefinden stehe eindeutig nicht auf Youngs Agenda, das belege der zweite, in Graz uraufgeführte Teil ihrer Show. "Kohlrabenschwarz löst Zuckerlrosa ab, härtere Musik die Pophymnen." Stellenweise werde es richtig ungemütlich. In steten Wiederholungen, "gefühlt immer einen Tick zu lang", fordere Ann Liv Young ihr Publikum. Einfach sei das alles nicht. "Das Element, das den Ernst in ihrer Arbeit immer wieder bricht: Merchandising. Verkaufen statt Verbeugen."
Im Vergleich zu früheren Arbeiten von Ann Liv Young sei diese "beinahe schon" sanft, schreibt Helmut Ploebst im Standard (10.12.2013) über die beiden ersten Folgen von "Sleeping Beauty". Der "sonst übliche Rühreffekt" des Märchens bleibe hier aus. Man rechne mit dem "benebelnden Fünfzigerjahre-Kitsch aus der Disneykiste" beziehungsweise mit der "kindgerechten" Märchenfassung ab. Die Dornröschengeschichte werde "gebogen und gebrochen".
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