Scheitern an der Zeitenwende

von Geneva Moser

Luzern, 13. Oktober 2013. Ljubow Andrejewna Ranewskaja kehrt zurück. Ihr Vermögen hat sie in Paris in den Sand gesetzt, und auch das Gutshaus in Russland steht auf sandigem Boden. Der Mann ist tot, der Sohn ertrunken, der Liebhaber ein Dieb. Davon ist zunächst wenig zu spüren, als Ranewskaja, exaltiert bis ins Unerträgliche, am Ort ihrer Herkunft eintrifft. Dass ebendieser Ort der drohenden Versteigerung wegen hoher Verschuldung nicht wird entgehen können, scheint sie nur marginal zu kümmern. Die rettende Idee des Serbisch sprechenden Kaufmannes Lopachin bleibt unverstanden und ignoriert.

Das Gutshaus als Bühne auf der Bühne
Predrag Štrbac, Hausregisseur am Serbischen Nationaltheater in Novi Sad, hat den berühmten Tschechow-Stoff in Luzern im Rahmen des schweizweiten Festivals mit Schwerpunkt in Basel Culturescapes inszeniert, das in diesem Jahr den Kulturaustausch der Schweiz mit dem Balkan fördert. Štrbac macht ein gnadenlos-klamaukiges Pop-Musical draus, in dem das Luftschloss "Kirschgarten" beinahe bis auf den letzten Balken dekonstruiert wird. Von Beginn an ist klar, dass es kommen wird, wie es muss: Der geliebte Kirschgarten, ökonomischer wie emotionaler Schatz der Gutsherrin, wird verkauft. Alles Gerede und alle lächerlichen bis verzweifelt-komischen Rettungsversuche Ranewskajas und ihrer Familie sind von Vornherein zum Scheitern verurteilt. Immerhin versuchen sie es zweieinhalb Stunden lang, produzieren sich maßlos und tun trotz dringlichem Handlungsbedarf geschäftig gar nichts. Langweilig wird es dem Publikum dabei nie – das ist eine der beachtlichen Leistungen dieser Inszenierung.

kirschgarten 560 tonisuterttfotografie xJeder gegen jeden auf der Gutshausbühne: "Tschechows Kirschgarten" © Toni Suter

Das Gutshaus ist der Kern der Inszenierung und überzeugt als konsequente Umsetzung stimmiger Bildsymbolik. Die alte Zeit bröckelt: Der lottrige Holzbau beherbergt die verstaubte Vergangenheit der Familie und ihre utopischen Träume gleichermaßen. Gelebt wird hingegen nicht darin: keine Zimmer, kein Wohnraum. Das Holzkonstrukt dient vielmehr als Bühne auf der Bühne, als Ort der Selbstdarstellung. Hier wird der Kirschgarten zum Tschechow-Musical (mit Texten von Tschechow und Musik von Stefan Paul Goetsch), wo alle Hauptfiguren ihre drei Minuten Pop-Song-Berühmtheit erleben.

Hassliebe zur Vergangenheit
Ranewskajas Bruder Gajew inszeniert sich als Superman, der das Anwesen mit aberwitzigen Finanztricks retten will, in Wahrheit aber beim Erklimmen zweier Leiterstufen schon zaudert. Er und seine Schwester necken sich, jagen sich, erschrecken sich unablässig zwischen dem Gebälk, kreischen über die Schmerzgrenze hinaus nervtötend. Auch Trofimow, ewiger Student und Geliebter der Tochter Anja, hat auf den Holzbalustraden seinen großen Auftritt als intellektueller Prediger. Er versteigt sich in abgehobene Phrasen und zeigt sich in seiner Beziehung zu Anja als zur Nähe völlig unfähig. Anja findet alles schön, was er sagt, und träumt im Goldgewand vergangener Zeiten einen Pathosmoment lang von besseren Stunden gemeinsam mit ihrem Weltverbesserer. Doch die Dialoge der beiden sind so hölzern wie das Kulissenhaus. Dem alten Diener Firs, der personifizierten Vergangenheit, stülpen sie eine Zeitung über den Kopf, weil die wachsamen Blicke des Alters ihr Geplänkel stören könnten.

Überhaupt pflegt diese Familie eine seltsame Beziehung zur Vergangenheit: Lassen kann sie sie auf keinen Fall, aber behalten will sie sie auch nicht. Firs, ausgelacht und verhöhnt, singt keine Songs. Er sitzt fast immer unbeweglich und es ist einer der wenigen warmen und weichen Momente in der klamaukigen Gesamtstimmung, wenn er anfängt, von gedörrten Kirschen aus dem Kirschgarten, weich, saftig und süß, und von Marmelade für Moskau zu erzählen. Aber was nützt das schon, wenn das Rezept vergessen ist: Das Alte hat ausgedient.

Illusion weg, Rolle weg, Orientierung weg
Das Neue hingegen, das hier in der Person von Lopachin kommt und Serbisch spricht, wird nicht verstanden, ja abgelehnt. Dass die Finanz-Sanierungsidee des Kaufmanns Lopachin nicht altruistisch motiviert ist, wird schon bei der ersten Begegnung klar: Lopachin gibt sich selbstgefällig, trägt sein Konterfei auf dem T-Shirt und offenbart einen Hang zu Größenwahn, der sich bestätigt, als er das Gut kauft und barfuß mit Flasche in der Hand auf den Überresten des Hauses tanzt. Ranewskaja hätte ihn gerne an der Seite ihrer Adoptivtochter Warja gesehen, doch diese ist damit beschäftigt, Putz-besessen von einem Dasein als Nonne zu träumen. Mit Lopachin verbindet sie außer der gemeinsamen Sprache nicht viel (Schauspielerin Sonja Damjanović spricht Deutsch mit Akzent, ihre Muttersprache ist Serbisch).

Jede dieser Figuren versucht auf ihre Weise mit der Zeitenwende klar zu kommen, und allesamt scheitern sie lautstark. Auch die Trauer um Mann, Sohn, Liebhaber und Heimat der Gutsherrin bleibt lärmige Show, Inszenierung, Figur. Es ist ihr zu laut hier, aber die Stille, die erträgt sie dann doch auch nicht. Die Toten aus der Vergangenheit flackern auf im Kamerablitzlicht wie Popnummern mit eingängigem Text und simpler Melodie. Ranewskaja und eigentlich allen Figuren entgleiten schließlich nicht nur der Kirschgarten und das Gutshaus, sondern der Bezug zur Realität. So ist es denn nur konsequent, dass mit dem Gutshaus – wahlweise Ruine Europa, Ruine Gesellschaftssystem, Ruine Familie, Ruine Liebesleben – auch die theatrale Illusion dekonstruiert wird. Nach und nach wird das Theater weggeräumt, das Licht geht an, falsche Schnäuze werden abgerissen, die Kulisse abgebaut,– Illusion weg, Rolle weg, Orientierung weg. Alles in den Sand gesetzt, ganz wörtlich. Platz für Neues!


Tschechows Kirschgarten
Schauspiel nach Anton Tschechow
Deutsch von Angela Schanelec nach einer Übersetzung von Arina Nestieva
Regie: Predrag Štrbac, Bühne: Vesna Popović, Kostüme: Dragica Laušević, Musik: Stefan Paul Goetsch, Songchoreografie: Cecilia de Madrazo Abad, Licht: 
Peter Weiss, Künstlerische Mitarbeit: Marija Karaklajić, Dramaturgie: Carolin Losch.
Mit: Sonja Damjanović, Jörg Dathe, Milan Kovačević, Juliane Lang, Bettina Riebesel, Horst Warning, Samuel Zumbühl.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
Kooperation mit CULTURESCAPES. Balkan 2013

www.luzernertheater.ch

 

Kritikenrundschau

Die Inszenierung zeigt frech aufgepeppt, in bunten und grotesk überzeichneten Kostümen und mit geschmeidigem Balkan-Pop garniert Tschechowa Sicht auf eine Welt, die verdrängt und überspielt", schreibt Urs Bugmann in der Neuen Luzerner Zeitung (14.10.2013). "Das ist kurzweilig und lustig, ein Spektakel, das dem Stück alle Melancholie austreibt und den Figuren ihre Zwischentöne nimmt." Die Schauspieler spielten allesamt "untadelig ihre Figuren". Doch in dieser "leicht schrillen Inszenierung" erhielten sie kaum Gelegenheit, die Tiefen aufscheinen zu lassen und die lottrigen Fassaden über ihrer Not aufzubrechen.

Die tragische Kluft zwischen bonbonbunter Nostalgie und harter ökonomischer Realität ist die Leitidee dieser halb serbischen, halb deutschen Inszenierung, schreibt Simon Aeberhard in der Basler Zeitung (14.102013). Auf der Bühne und in den Kostümen zeige sich "die offene Wunde zwischen hysterischer Ralitätsflucht des verkommenen Adels und zusammenbrechender Welt um sie herum".  Dieser "große und schöne Regiegedanke" Wrede in der zweiten Hälfte des Abends "fast buchstäblich mit dem Holzhammer" mit etwas gar simplen Kleinstadttheater-Mitteln überdeutlich gemacht. Erst zum Schluss finde die Inszenierung wieder zu einer hübschen Pointe, die die Spaltung zwischen imaginärer Realitätsflucht und den Realverhältnissen kritisch auf die Theatersituation selbst übertrage. "Auf den Ruinen des abgetragenen Baumhauses wächst die Luftmatratzen-Verion eines neuen Kirschbaums."

Das serbische Team um Regisseur Predrag Strbac lasse die europäische Perspektive kippen – auf die lokalpolitische Aktualität, schreibt Christoph Fellmann im Tages Anzeiger (14.10.2013). "Dieser Kirschgarten welkt nämlich in der Schweiz, und es sind neureiche russen wie Lopachin, die nebst den einst glanzvollen Hotels Gütsch und Bürgenstock auch diesen alten Landsitz aufkaufen, um darauf schöne neue Sommerresidenzen zu bauen." Klar, da falle nur schon die Verständigung über die Umbaupläne schwer. "Viel mehr als diese eine, letzte Pointe gibt das nicht her, und auch sonst säuft der Abend in musicalhaftem Klamauk ab."

Die Ranjewskaja in Luzern, schreibt Andreas Klaeui in der Neuen Zürcher Zeitung (16.10.2013) "ist eine hysterische Zicke". Regisseur Predrag Štrbac inszeniere den "Kirschgarten" als "knallbunten Musical-Klamauk". Lopachin, ein "balkanesischer 'Bisnesmen', spreche "konsequent serbisch", was die Gutsbesitzer "merkwürdigerweise in einer Szene verstehen, in der nächsten wieder nicht" – das bringe "andeutungsweise" etwas "Nord-Süd-Gefälle" ins Spiel. Zweieinhalb Stunden "Gegackere und Gekreische", ein paar "witzige Musikeinlagen", viel "alberner Konversationston wie aus dem Fernseh-Teenie-Ulk", "konfliktfreie Spielhaltungen". "Langeweile."

 

 

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