Das Geisterschloss

von Nikolaus Merck

Oktober 2013. Das Buch sieht schön aus, im Stil der zehner Jahre des 20. Jahrhunderts, mit Lesebändchen, Goldprägung auf Textil und ebenso luftig wie kostbar gesetzt. Ein Handschmeichler, ein Augenschmaus für die Leute seiner Generation. Der Autor Ulrich Tukur, geboren im südhessischen Viernheim, was man ihm manchmal noch anhört, ist Jahrgang 1957. Mithin ein Angehöriger der herrschenden Generation, Angela Merkel, Sigmar Gabriel, die Mehrzahl der Oberherren der DAX-Konzerne, solche Leut'.

Venedig, "Tatort", Tanzkapelle

Allerdings behauptet Tukur den gesellschaftlichen Sonderfall. Er ist draußen, lebt in Venedig, spielt nur gelegentlich im großen Einebner Fernsehen. Gleichzeitig ist er drinnen, als einer der größten Stars des deutschen Schauspielwesens und ehemaliger Zadek-Spieler. Preise, Ehrungen zuhauf, Heldenrollen im Kino. Als ausgemachter Böser: blutgefrierend, als "Tatort"-Kommissar (doch im Fernsehen) mit Kopftumor: berückend.

Außerdem zählt Tukur, Beneidenswerter, zu den Multi-Talenten. Er spielt, er musiziert erfolgreich mit seinen Rhythmus-Boys im Stile der zwanziger Jahre, dann und wann schreibt er ein Buch. Sein erstes, 2005, hieß "Die Seerose im Speisesaal" und versammelte zauberhafte Geschichten aus Venedig und der Tukur'schen Biographie. Die Verleihung des diesjährigen Jacob-Grimm-Preises Deutsche Sprache drückt die Anerkennung aus, die der Schauspieler als Autor genießt.

Der verschwundene Regieassistent

Jetzt hat er eine Novelle vorgelegt: Die Spieluhr. Eine gothic novel, Schauerromanchen, schwarze Serie à la E. T. A. Hoffmann und Edgar Allan Poe. Nur weniger grausam, mehr an Verwirrungen von Zeit und Identität interessiert. Inspiriert vom Drehort seines Films Séraphine (2008) über die vergessene Impressionistin Séraphine de Senlis, einem alten Schloss in Frankreich, hat er das Drehbuch kurzerhand weiter- und ausgesponnen. Der Erzähler führt sich ein als Schauspieler, der die Film-Rolle des Kunstsammlers Wilhelm Uhden spielt, wie Tukur in "Séraphine". Aber alsbald hebt die Handlung ab. Der Regieassistent verschwindet, wie man später erfährt, in einem Gobelin zunächst, dann in einem Gemälde: Er hat, so wird er selber sagen, die Schönheit gesucht, einen Blick ins Paradies geworfen und ist zur Hölle gefahren. Ein gefahrvoller Dreiklang, der als geheimes Motto des Buches taugt.

Auf des Assistenten Spuren begibt sich der Schauspieler in das Schloss (nur durch Zeitschleuse aufzufinden), gerät ins Jahr 1944, begegnet einem himmlisch musikalischen Knaben namens Amadé und der verführerischen Marquise von Montrague, die, überirdisch schön und vor geraumer Zeit verschieden, sich recht bösartig gebärdet und unglücklicherweise in einem Gemälde haust, wie eine Spinne, die ihre Liebhaber nach der Liebesnacht verschlingt. So entrollt sich unter mancherlei real-historischer wie phantastischer Gefahren ein fröhliches, gelegentlich leicht schaudervolles Hin und Her durch Epochen und Wirklichkeiten.

Wahnhaft verfallene Welt

Der Erzähler geht dabei durch mehrere Verwandlungen, mal ist er Wilhelm Uhde, mal der Schauspieler, der Uhde spielt, mal ein Staatssekretär Wilhelm aus Nazi-Deutschland, verwickelt in den 20. Juli 1944, behält jedoch stets das Bewusstsein eines Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts. Zudem tauchen andere Figuren auf, ein Regisseur, ein Major der Wehrmacht, die man gar nicht anders denn als Rollen des Ulrich Tukur sich vorstellen kann. Natürlich geht es bei dieser Ineinanderspiegelung nebenbei auch um das Identitätsproblem, in dem Zuschauer, so sie sich mit Schauspielkunst auseinandersetzen, sich gerne verheddern: Ist das jetzt noch die Figur oder schon der private Schauspieler, den ich in der Rolle sehe?

tukur coverAuch die Dinge in "Die Spieluhr" tun verlässlich das, was ihnen das Genre gebietet. Musik rinnt "wie flüssiges Silber", Rokoko-Gemälde glühen auf, der Mond steht ungeheuer oben und verbreitet Stille. Das ist gut zu lesen, ohne der Kolportage anheim zu fallen, und gehört verlässlich mehr zum Traum als zur Wirklichkeit. Ein Surplus an Kurzweil ergibt sich, wenn man versucht, die Bezüge und zitierten Kunst-Welten zu entschlüsseln. Hier grüßt das Schloss aus Der große Meaulnes von Henri Alain-Fournier (Danke an den Verlag, ich hatte keine Ahnung, dass dieser Kultroman von 1913 auch nur existiert), dort Woody Allen mit seinen Zeitsprüngen aus Midnight in Paris oder alte chinesische Fabeln, in denen Maler in ihren Bildern verschwinden.

Ulrich Tukur selber erklärt gerne, er lebe selbstverständlich in mehreren Welten und wechsele in andere Zeiten und Geschichten, wenn ihm "der Dreck, der Lärm, die Industrialisierung", kurz: die, wie es in "Die Spieluhr" heißt, "dem Geld und Stumpfsinn wahnhaft verfallene Welt" zu sehr auf die Nerven fällt. Dass es bei seiner Novelle dann berufsgemäß recht filmisch zugeht, dass er (Kamera-)Fahrten, Schnitte und Erzähl-Ellipsen aufbietet, um den Leser gebührlich zu überraschen, macht die Sache, die sich ja im Kopf zu einer Melange aus Tukur-Biographie-Kenntnissen, den verdeckt zitierten und manchmal entschlüsselten Vorbildern und der eigentlichen, erzählten Geschichte verdichtet, nur umso erfreulicher.

 

Ulrich Tukur
Die Spieluhr. Eine Novelle
Ullstein Buchverlage, Berlin 2013, 160 S., 18 Euro

 

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