Kings in der Manege

von Jens Fischer

Lübeck, 25. Oktober 2013. Bereit stehen die Koffer der Shakespeare-Expeditionsgesellschaft für ihren Weg zu den Grenzen des Daseins, der nackten Kreatürlichkeit. Noch hocken die Forscher zischelnd, tuschelnd, murmelnd herum, vernuscheln und dimmen bis zur Unhörbarkeit leise ein paar der übermenschlich großen, existenziellen Themen des epischen Tragödienbrockens "König Lear" ins Mikrofon. Wollen ihn wohl nicht einfach nur herüberzerren auf den Erfahrungshorizont des heutigen Polit-, Beamten-, Familienbetriebs, sondern lieber schweben lassen zwischen aktuellen Bedeutungen und absolutem, zeitlosem Drama. "Welt", "Vater", "Erbe" ist zu vernehmen.

lear 560 thorstenwulff uManege frei für King Lears wilde Clownstruppe © Thorsten WulffDoch schon schlendert am Theater Lübeck Edmund, der uneheliche Sohn des Grafen Gloster, an die Rampe, tändelt ein wenig den Hamlet, zitiert gar deftig Richard III., denkt die Rolle weiter bis zu Schillers Franz Moor und zelebriert das verplaudert wie ein Conferencier. Die Pest wünscht er auf die Konventionen herab, klagt das Recht des (intellektuell) Stärkeren ein und kündigt den Generationenvertrag. Die Alten sollen enteignet werden, damit die Jugend das Leben genießen kann. Diesem Projekt schließen sich Töchter des Königs Lear an. Erst den Egoismus mit hübschen Sprachspielen maskieren, dann lustig drauflos lügen, betrügen, ränken und rankünen.

Striptease für einen Teil vom Reich

Wie in der Welt so auf der Bühne. Zur Gleichsetzung wird sie in der Inszenierung von Lübecks Schauspielchef Pit Holzwarth zur Zirkusmanege hergerichtet – für eine Spielidee des alternden Souveräns: Reichsteilung als Erbe. Um das nicht wie eine Testamentseröffnung, sondern unterhaltsam zu gestalten, fragt König Lear aus eitler Bescherungslust seine Töchter, ob sie den Papa denn ordentlich lieb haben. Und erwartet Zuneigungsformeln und rhetorische Knickse. Goneril (Susanne Höhne) beginnt unsicher zu schmeicheln, zieht sich dann aus, bietet dem Vater ihren Körper. Ein Drittel des Königreichs ist ihr sicher. Regan (Anne Schramm) nimmt die Anregung auf, umgarnt den Vater mit einem Schlips und Stiefellecken. Klar, fürs inzestuöse Flirten im professionellen Stripperin-Stil gibt's auch ein Reichsdrittel.

Allein Cordelia (Sara Wortmann) meint, dass jedes Attribut, jeder Vergleich, jedes Wort ihre Liebe verkleinere. Sie verkennt mit frischer Naivität den Ernst der Situation. Der König interpretiert dies als Abwesenheit von Liebe. Ganz leise beginnt er, seine Tochter zu verfluchen, um sich dann in Machtwortgetöse zu verlieren. Papa wird zum Haustyrann, ein Schreihals und Händefuchtler, der nun seinerseits beginnt, die jüngste Tochter auszuziehen. Lears Liebe kennt keine Gnade. Cordelia trollt sich, leicht pikiert, aber selbstbewusst. Denn etwas ganz Wichtiges ist nun deutlich: Alles dreht sich um Sex.

lear1 560 thorstenwulff uHunger? – "Sie haben vergessen vorzubestellen." © Thorsten Wulff

Chancen zur handgreiflichen Verdeutlichung werden fortan gern genutzt. Wie in Herbert-Fritsch-Inszenierungen tiriliert es auch aus Darstellermund: "Ficken, ficken, ficken". Die Degen der Männer sind als Phallusspielzeuge im Einsatz. Und sonst? Das Wesen des Menschen ist androgyn. Hat nichts mit "König Lear" zu tun, ist aber eine dick und fett auf jede Szene projizierte Regieidee – zum Beispiel durch die Kostüme sowie die Rollen-/Geschlechterwechsel der Darsteller auf offener Bühne. Bunt und abwechslungsreich ist so die Optik. Und Edmund vergisst nicht, all das als seine Travestieshow zu moderieren. Hübsch dazu passend hat Rainer Iwersen den Text in seiner Neuübersetzung lässiger und moderner gestaltet. Da darf der Elterngeneration schon mal Demenz bescheinigt werden. Und Gagausflüge in eigener Sache fehlen auch nicht. Aufgrund der mauen Finanzlage des Theaters könne man heute leider nicht das gesamte Stückpersonal auftreten lassen, heißt es, auch  müsse man selbst die Bühnenbildkoffer verschieben: Schauspieler hätten Umbauverpflichtungen in ihren Verträgen zu akzeptieren.

Lacher statt Sympathiepunkte

Auch lustig, wenn dann noch Witze erzählt werden. Der Luftballon, was hat er denn? Immer so schreckliche Platzangst! Dass der Narr auch eher Comedy-Type denn Straßenphilosoph ist: geschenkt. Und Lears missglückte Vaterliebe, die in Einsamkeit und Depression endet? Die majestätische Aura des abdankenden Monarchen gibt ja die Fallhöhe des Stücks vor. Nur fehlt hier alles Majestätische. Lübecks Lear (ein prima Komödiant: Robert Brandt) ist eher bäuerlich grob angelegt, ein barscher, ein jähzorniger Typ, der hochmütig seine Umgebung terrorisiert. Nachvollziehbar, dass die Töchter ihn nicht pflegen wollen.

Aber irgendwann müsste die Verachtung kippen in Mitleid – wie Lear erst die Attribute des Königseins, dann die des Menschseins verliert und so zu sich kommt. Schon auf dem Weg dahin gibt's keine Sympathiepunkte, aber viele Lacher. Da steht Lear also in Tochters Speisesaal, an seinem Degen baumelt ein Ballon, und zwar an der Spitze, die also so stumpf wie Lear machtlos ist. Er ruft nach Essen. Nichts passiert. Ärger mit Tabletten betäuben. Dann tanzt Lear seine Wut. Nichts passiert. Er greint – schreit seinen Wunsch ins Megaphon, malt "HUNGER" auf den Boden. Und was sagt der vorüberhastende Kellner? "Sie haben vergessen vorzubestellen." So wird die Möglichkeit des Einfühlens, Mitleidens zerstört. Viele weitere Späße folgen. Das Drama alter Männer, die schon vor dem Tod für Verfehlungen büßen müssen, die sie zu spät als solche begreifen, findet nicht statt. Das Zentrum des Stücks, Lears Wahnsinn werdende Selbsttäuschung, bleibt leer.

 

König Lear
von William Shakespeare
Deutsch von Rainer Iwersen
Inszenierung: Pit Holzwarth, Ausstattung: Werner Brenner, Musik: Achim Gieseler, Dramaturgie: Katrin Aissen.
Mit: Robert Brandt, Andreas Hutzel, Will Workman, Susanne Höhne, Anne Schramm, Sara Wortmann und Julius Robin Weigel.
Dauer: 3 Stunden 25 Minuten, eine Pause 

www.theaterluebeck.de


Kritikenrundschau

Die Machtkämpfe in dieser "bemerkenswerten Fassung" des "Lear" resultierten weniger aus "politischem Kalkül", es gehe "vielmehr um familiäre Verwerfungen", schreibt Michael Berger in den Lübecker Nachrichten (27./28.10.2013). Die Aufführung wirke wie eine "Familienaufstellung", wobei Regisseur Holzwarth den Raum für "dramatische Zuspitzung – und auch für Witz und Slapstick" nutze. Robert Brandt sei in der Titelrolle ein "darstellerisches Ereignis". Auch wenn das Spiel mit den Mikrophonen "gelegentlich zu aufdringlich" ausfalle und sich das Finale "quälend" hinziehe, so wird doch im Ganzen diese Klassikerumsetzung, die "so unterhaltsam wie tiefschürfend ist", stark gelobt.

Als "Fest für Ensemble und Publikum" empfindet Karin Lubowski von Schleswig-Holstein am Sonntag (27.10.2013) diesen Abend. Holzwarth beweise, dass "Tragisches nicht trübe sein muss, moralinsauer und langatmig schon gar nicht". Robert Brandt präsentiere in der Titelrolle die "zweite Seite der Tyrannen-Medaille – Unsicherheit, Borniertheit, Feigheit". Bei allem Lob merkt die Kritikerin doch an, dass es gelegentlich "hartes Zuschauerbrot" sei, "auf Spiel-Höhe" zu bleiben und empfiehlt daher die Lektüre des Programmhefts.

Kommentare  
König Lear, Lübeck: überplakativer Stil
Ja, von einer Fallhöhe bei diesem Lear habe ich letztlich auch nichts
gesehen; gerade zu Beginn, als er Cordelia aus dem Verteilungskreis stößt, sah ich weniger den "Bäuerlichen" als eine Art Zuhältertyp.
Die verletzte Liebe Lears qua Cordelias Aufrichtigkeit wirkt (siehe Programmheft) nach innen- der körperliche Ausbruch Lears dagegen ist nicht zuletzt psychologisch (fast ist das eine Notdurft-/Vergewaltigungsszene) vollkommen unschlüssig, er nimmt der Figur Lears von vornherein die spätere Entwicklungsbasis, was in der Folgezeit im Spannungsbogenflachland mit überdeutlichen und schlaglichthaft gesetzten Bildern zu "kitten" gesucht wird. Dieser überplakative Stil mit vielen Schlaglichtern ist geradezu eine Lübecker Manier (wie auch das Androgyne !); leider bleiben all die Zitate und Spieleinfälle (wie auch an diesem Abend) zumeist völlig disparat, nehmen aber rein zeitlich einen ungeheuren Raum ein, so daß ein ziemlich gestutzter und geglätteter Text dennoch das "Drama" von knapp 3 1/2 Stunden zu füllen hat, wobei -trotz der gehörigen Spieldauer- die Schlußszenen dann geradezu durchgehetzt werden (müssen). Wie Regan und Goneril letztlich Edmund verfallen und nur (!) um seiner willen den Niedergang finden, fand ich geradezu absurd, die Idee, quasi alle Beteiligten für gaga zu erklären, um dann doch immer wieder auf die dramen(tränen)drüse zu drücken (wortwörtlich), ist weder spannend noch geht sie eine glückliche Verbindung mit anderen Spielelementen ein; in der zweiten Halbzeit verliert sich der Narr vollends und wird zur bloßen Stand- und Staunefigur mit "Einsamkeitsmusiksolo" zum Schluß des Stückes. Und: Dieser Lear, ein alter Mann ?? Wie biegsam im Sturm, wie hurtig sonst im Stück, nein, ich seh nicht, wo das alles hinführen soll, wie das zB. uns und unsere Welt infrage zu stellen tauglich sein könnte. Wo läuft es interpretatorisch drauf hinaus, daß so betont wird: "Hier wird gespielt, der kundige Shakespeareleser möge sich daraus selbst etwas basteln !" So ähnlich wird es tatsächlich hervorgebracht.
Irgendwie sollte das wohl auch beckettartig sein, aber das nehmen die überexpressiven Szenen vollends aus dem Visier. Am besten fand ich noch die "Zaubereridee" oder "Conferenciers"-Rolle Edmunds, welche diesen in die Nähe eines Jago bringt. Aber, da liegt auch ein wenig der Hund begaben, Edmund ist halt nicht so präsent im Stück wie Jago, um das hier hinreichend motivieren zu können. Anfang und Ende des Stückes zeigen geradezu symbolisch, wie das alles heillos auseinandergefranst ist..
König Lear, Lübeck: Lübecker Manier?
@ AZ: Was bedeutet "Lübecker Manier"? In allen Inszenierungen dort?
König Lear, Lübeck: spielstärkstes Ensemble im Land
Nein, zum Glück nicht in allen. Und diese "Manier" ist auch deswegen
so zweifelhaft, weil "man" die Spielerinnen und Spieler einerseits auch immer wieder einmal anders spielen sieht und sie es anders zudem auch bei weitem spannender können (ich halte das Lübecker Ensemble für das spielstärkste in Schleswig-Holstein) als es in diesem
"Lear" zum Ausdruck kommen durfte. Sara Wortmanns Spiel in dieser speziellen Inszenierung erinnerte mich am ehesten an diese Lübecker Möglichkeiten, aber gerade in der zweiten Hälfte des "Lear" war der letzte Sturm zum (loopenden) Lüftchen geworden, und mit der Hinwegräumung der Zauberkoffer (5 an der Zahl und möglicherweise vom benachbarten "Zaubertheater" entliehen - wegen der Kosten ??) war es ebenso mit jeglichen "Theaterzauber". lg aus Leipzig
König Lear, Lübeck: mit Leben gefüllt
Als "Travestieshow" allerdings würde ich den Abend dann doch nicht unbedingt charakterisieren wollen, nicht nur weil er seine Längen hat und sich -in diesem Falle eher- glücklicherweise Zeit nimmt für die Rollen-Verwandlungen und somit entschieden vom Charakter einer Nummernrevue oder bloßen Show entfernt. Vergleiche ich diesen "Lear" des Lübecker Hausherren mit dem seinerzeitigen "Lear" oder dem gegenwärtigen "Othello" des Kieler Hausherren, so muß ich dem Lübecker "Lear" wahrlich zugute halten, daß die "Neben-
oder Randfiguren" durchaus mit Leben erfüllt werden und nicht bloße Staffage bleiben (wie weitestgehend in Kiel: "Abziehbilder"-
Figuren), so sie sich bewegen (denn als Stehfiguren entleeren sich die Lübecker merkwürdig, was mit zum Schlaglicht-Dramaturgie-Eindruck führt, ganz extrem beim Narren). Gerade die Gegenüberstellungen durch die vorgenommenen Rollenwechsel sah ich weniger als Travestiemoment denn als gedanklich schlüssige Entgegenstellungen. Kent zB. geht gut und gerne auch als erstgeborener Sohn Lears auf, der sein Leben beherzt in die Hand nimmt, nicht weniger entschieden agiert Goneril. Der zögerliche,
ja verzärtelte Edgar und die beeinflußbare Regan, die auch mehr einem "ästhetischen" Lebensentwurf folgen mag, das Nesthäkchen Codelia und der Haken im Nest Edmund ineins gedacht als Fingerzeig für sich ausschließende Lebensentwürfe und -möglichkeiten weiblicher und männlicher Nachkommenschaften (wäre Codelia als nachgeborener Codelius nicht auch als ein Edmundcharakter denkbar),
das finde ich hier im Fundus der Rollen-Wechselaktionen dann doch;
da sie etwas Schlüssiges haben, verwirren sie eigentlich auch kaum,
so nach dem Motto "Spricht jetzt der Narr oder Oswald ?". Bleibt in Lübeck und Kiel (wo man bei dem "Othello" nur auf die Eifersuchtsgeschichte fußt und bei Schnitzlers "Liebelei" (Regie: Dedi Baron) das "Ständeproblem" vollends außen vor läßt) gemeinsam: eine empfindliche Entpolitisierung der Stoffe ! Ob Lear nun der letzte Preuße ist, wenn seine Gefolgschaft mit Pickelhauben
aufparadiert und als Anspielung für die "verspätete Nation" herhalten soll, und heutzutage der letzte Preuße eigentlich ein Bayer (Kents Verkleidung), bleibt genauso diffus in der Luft wie der Auftritt des Kieler Cassio (einmal in Reichsparteitagslook des jungen Offiziersstrebers, seitengescheitelt, nach der Degradierung
als flotter GI in etwa: Amerikakritik, versteckte ??)..
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