Spaß statt Duldungsstarre

von Jan Fischer

Hannover, 27. Oktober 2013. Natürlich sind am Ende alle Gewinner, klar. Die Festivalleiterin Daniela Koß von der Stiftung Niedersachsen, Gastgeber des Festivals, sagt den Satz dann auch bei der Preisverleihung. Dass die Gruppe vorschlag:hammer für ihre "Solaris"-Adaption Tears in Heaven ausgezeichnet wird, überrascht niemanden. Es hätte aber auch niemanden überrascht, wenn eines der anderen fünf Stücke gewonnen hätte. Alle haben ihre eigene Qualität, sind auf ihre Weise herausragend. Die Jury hätte das Ergebnis auch einfach auswürfeln können.

Am Anfang standen 69 Bewerbungen. Einzige Bedingung war, dass die Produzenten in Niedersachsen ansässig sind. Daraus wiederum wurden fünf Gruppen ausgewählt, die allein für die Nominierung jeweils 10.000 Euro Preisgeld bekommen haben. 5.000 Euro zusätzlich für die Gewinner fallen da vergleichsweise gering aus, die Preisverleihung ist dann auch erstaunlich kurz: Eine Rede, eine Begründung, zwei Fotos, in einer Viertelstunde ist die Sache vorbei, die Leute von der Bar laufen mit Tabletts voller Sekt rum, alle, die noch geblieben sind – hauptsächlich die Mitglieder der teilnehmenden Gruppen und ein paar ihrer Freunde – schnappen sich die Gläser und strömen wieder raus, auf den Platz vor dem Theater, in die erstaunlich warme hannoveraner Herbstnacht. Wenn alles vorbei ist: Dass ist auf solchen Festivals ja auch immer ein schöner, federleichter Augenblick. Endlose Diskussionen drinnen vor der Bar und draußen, vor der Tür, bei den Rauchern. Drei verdichtete Tage Theater, vor allem dann noch Freies Theater, das ja immer auch nach eigenen Regeln tickt und im besten Fall mehr von Utopismus strotzt.

Kindersoldaten, Peitschen, entspanntes Mitmachtheater

Was haben wir gesehen? In Soldaten von werkgruppe 2 sitzen die Zuschauer im Kreis um einen riesigen Haufen Patronenhülsen, während die Performer sich an verdichteten Interviews mit Soldaten abarbeiten, Soldaten, die der Krieg in Bosnien, im Kosovo, in Afghanistan einfach nicht los lässt. Atmosphärische Erzählungen über Fehler, Tote und abgerissene Gliedmaßen – fast schon reduziert bis zur szenischen Lesung – wechseln sich mit Musikpassagen ab. Zum Höhepunkt des Stücks gibt es Bier oder wahlweise Cola für alle, und die Performer laufen und rutschen über die klickenden Patronenhülsen, im Hintergrund singt ein Kindersoldatenchor und einer der Performer läuft im Kreis und klatscht immer und immer wieder den Rhythmus zum Wort "Masar i Sharif".

bestoff joimrotenkleid 280 andreashartmann uArbeit am Selbstbild: "Jo im roten Kleid"
© Andreas Hartmann
In "Jo im roten Kleid" von Theater Triebwerk erzählen ein Cellist und ein Kontrabassist die Geschichte von Jo, der sich eines Tages ein rotes Kleid anzieht und damit auf die Straße geht, ganz ruhig, ganz leicht, ein Stück für Jugendliche und Kinder, das sich fragt: Was ist das eigentlich, mein Selbstbild, wo kommt das her, und warum überhaupt?

"Hörst du rot" von KassettenKind ist ein Waldspaziergang mit Kopfhörern auf den Spuren des Vegetarier-Wolfes Wolfgang Wolf, der zu Unrecht beschuldigt wird, das Rotkäppchen und seine Oma gefressen zu haben. Der Zuschauer ist allein mit dem Wald, seinen Geräuschen und der Stimme des Erzählers in den Ohren.

Tiere und Kirche

Die Fräulein Wunder AG zeigt mit "Bankett für Tiere" in der hannoveraner Gaststätte "Zum Stern" das Ergebnis einer Recherchereise über unser schizophrenes Verhältnis zu Tieren als szenische Collage, komplett mit Häppchen, die direkt am Tisch zubereitet werden, samt – symbolischer – Tierbefreiungsaktion. Was sich alles in allem – vor allem wegen der charmanten und natürlichen Haltung der Spielerinnen - zu einem entspannten Mitmachtheater addiert.

bestoff polis3000oratorio 280 gerhardf.ludwig uKirchenspiele von Markus & Markus
© Gerhard F. Ludwig
Markus & Markus nehmen mit "Polis 3000: oratorio" - Teil einer Trilogie - die Institution Kirche mit der ihnen eigenen Form von Theaterterrorismus auseinander, die ungefähr so funktioniert: Markus trägt einen Papsthut, schwarze Flügel und peitscht Markus aus. Markus wimmert, bittet ihn aufzuhören, sein roter Rücken zeigt, dass das hier jetzt gerade kein Spiel ist, kein Spaß. Markus peitscht weiter. "Du Arsch!", schreit Markus, und rollt sich auf den Rücken. "Dreh dich wieder um", sagt Markus, "auf dem Bauch tuts noch mehr weh".

Unbekanntes mit Gewalt verstehen

Und die Gewinnerproduktion Tears in Heaven? Haben im Grunde nur ein paar Ballons und ein paar mehr durchsichtige Kisten auf der Bühne, aber vor allen Dingen Spaß daran, Stanislaw Lems Roman "Solaris" auseinanderzunehmen, in dem es um einen Forscher geht, der auf einer Forschungsstation beginnt, seine kürzlich verstorbene Frau zu sehen.

Während er versucht zu begreifen, was vor sich geht, kommt er auf den Gedanken, dass der Planet unter ihm ein bewusstes Wesen sein könnte, dass auf diese Weise versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen. vorschlag:hammer konzentrieren sich auf den kolonialistischen Aspekt der Geschichte, auf die Forscher, die versuchen, Unbekanntes mit den ihnen bekannten Mitteln zu verstehen, dabei scheitern, und es dann mit Gewalt probieren.

bestoff tears in heaven 3 mae ost uKontaktaufnahme in "Tears in heaven"
© Mae Ost
Allen Produktionen ist gemeinsam, dass sie sich mit sozialen und politischen Themen beschäftigen, Widersprüche und Probleme aufzeigen, und von da aus versuchen, den Absprung hin zu einer Lösung und einer besseren Welt zu finden – sei es als subtile Andeutung wie die Frage nach Obrigkeitshörigkeit in "Hörst du Rot?", als brutaler Witz wie in "Polis 3000: oratorio", in dem Markus & Markus  vorschlagen, als Alternative zur Kirche doch lieber an sie zu glauben, oder irgendwo dazwischen. Allen Stücken ist gemeinsam, dass sie sich nicht damit abgeben, Geschichten zu erzählen und zu hoffen, dass es damit getan ist, sondern dass immer eine gehörige Portion Utopismus und Idealismus drinsteckt.

Viel Idealismus

Festivals wie das "Best Off" zeigen dann auch immer wieder, dass genau das das Problem des Freien Theaters ist. Nicht der Idealismus, nicht der Utopismus, nein, das Problem ist eher, dass der Idealismus fast das einzige ist, was das Freie Theater antreibt. Ausreichende Finanzierung ist es jedenfalls nicht, genau so wenig wie Breitenwirkung.

Man muss erst einmal ein groß angelegtes Festival veranstalten, damit überhaupt Publikum für Freies Theater da ist. Das präsentiert sich zwar innovationsstark, aber auch als Theater für Theatermacher, sich tendenziell eher selbst befruchtend. Und wenn dann die neuen Formen in die großen Theater gelangen, ist die Freie Szene schon längst weiter gezogen und arbeitet an etwas völlig anderem.

Eine bessere Welt

Die das Festival begleitende Ausstellung "brenne und sei dankbar" zeigt das noch einmal deutlich: Theatermacher in der Freien Szene verdienen wenig und werden vom Staat oft nur mit einem Bruchteil dessen gefördert, was staatliche Theater bekommen, haben oft Zweitjobs und viel zu lange Arbeitszeiten. Die Situation der Freien Szene ist alles andere als rosig, besser wird sie angesichts von Kürzungen staatlicher Förderungen nicht, und das obwohl – nur um das noch einmal zu betonen – Neuerungen im Theater in den meisten Fällen in der Freien Szene ausgebrütet werden.

Kein Wunder, dass alle Produktionen des "Best Off" auf ihre Art von einer besseren Welt träumen: Sie und vielleicht auch die Welt haben es bitter nötig. Alle Produktionen des Festivals zeigen, dass Freies Theater sich lohnen kann, dass es interessant und spannend sein kann, dass es eine Alternative zur Duldungsstarre in der x-tausendsten Aufführung irgendwelcher Klassiker gibt. Festivals wie das "Best Off" sind da, trotz der doch beeindruckenden Preisgelder, ein Tropfen auf dem heißen Stein. Am Ende sind alle Gewinner, ja, aber auf lange Sicht wären ein paar mehr davon angebracht.

Soldaten. Ein szenisch-musikalischer Einsatzbericht
von werkgruppe2
Mit: Andreas Jeßing, Nikolaus Kühn, Bernhard Meyer, Karl Miller, Leif Scheele, Martin Schnippa und Sängern des Göttinger Knabenchores Inszenierung: Julia Roesler, Musikalische Leitung: Insa Rudolph, Bühne: Nicola Antonia Schmid Kostüme: Julia Schiller, Dramaturgie: Anna Gerhards, Co-Autorin: Isabelle Stolzenburg, Mitarbeit Recherche: Vera Barner.
In Kooperation mit dem Deutschen Theater in Göttingen und dem Göttinger Knabenchor Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

Jo im roten Kleid
von Theater Triebwerk
Cello: Uwe Schade, Bass: Heino Sellhorn, Regie: Nina Mattenklotz, Ausstattung: Silke Rudolph.
Eine Koproduktion mit dem Theater für Niedersachsen
Dauer: 45 Minuten, keine Pause

Hörst du Rot?
Ein begehbares Hörspiel Von KassettenKind Sprecher: Norman Grotegut, Stephan Stock und Antonia Tittel.
Dauer: 40 Minuten, keine Pause

Ein Bankett für Tiere
von Fräulein Wunder AG
Von und mit: Melanie Hinz, Verena Lobert, Vanessa Lutz, Malte Pfeiffer, Carmen Waack Ausstattung, Kostüm: Verena zu Knyphausen, Assistenz: Michael Kranixfeld, Marleen Wolter, Video, Sound: Jonas Hummel, Maurice Braun, Thomas Orr.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

Polis 3000: oratorio
von Markus&Markus
von und mit: Katarina Eckold, Lara-Joy Hamann, Markus Wenzel, Markus Schäfer und Manuela Pirozzi.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

Tears in Heaven
von vorschlag:hammer
von und mit: Kristofer Gudmundsson, Gesine Hohmann, Margrit Sengebusch, Stephan Stock und Gästen.
Kooperation mit der Zürcher Hochschule der Künste und dem Ballhaus Ost.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.stnds.de

 

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