Metaphysischer Trip

von Claude Bühler

Zürich, 9. November 2013. Schon bei der Platzwahl geht es los: Furzkissen liegen auf allen Sitzen, und sie werden ausprobiert. Im Programmheft steht die Anweisung: "Sie dürfen sich entspannen". Ach ja? Geht das überhaupt bei "Alice im Wunderland", das seit seinem Erscheinen 1865 Lesergenerationen in einen seltsamen Bann aus Staunen, Begeisterung und Angst versetzt? Eine Seite weiter: "Es gibt hier nichts zu verstehen". Das könnte man heute auch so verstehen, dass es nicht leicht durchschaubar wird in dieser "Alice im Wunderland"-Inszenierung von Antú Romero Nunes. Absehbar, dass wir uns bei dem 30-Jährigen nicht einfach, wie bei den vielen Verfilmungen und Bühnenversionen, mit der kleinen Alice ins Kaninchenloch fallen lassen können, um zu erleben, wie sie die Abenteuer bei den sprechenden Tieren, den Kartensoldaten, der Herzkönigin, dem Faselhasen und dem Hutmacher besteht.

Und weiter steht da: "Folgen Sie dem Hasen". Zunächst ist aber kein Hase in Sicht. Stattdessen marschieren aus der Tiefe der dunkeln, kahlen Bühne Menschen in Bademänteln mit den bekannten Tierköpfen darauf: Grinsekatze, Hündchen, Ferkel. Das Ensemble nimmt die Masken ab, singt wie einst im Abspann beim Cartoon-Hase Bugs Bunny: "Das Publikum war heute wieder wundervoll ... Wir sagen Dankeschön und auf Wiedersehen ...". Schlussapplaus. Schon alles fertig?

Herumirrend zwischen Monolithen

Gleich darauf ruft Alice (Henrike Johanna Jörrisen) im blauen Blümchenkleid: "Hallo Kinder. Seid Ihr alle da?" Das erwachsene Publikum: "Jaaaa!". Aber sie folgt nicht dem Hasen, der auf Rollen im Riesenraum herumkurvt. Der Fliegenpilz ist interessanter. Alice hält ihn neben das Gesicht, lächelt kokett, als wäre dabei was Anrüchiges. Der Pilz als Penis? Das Kinderbuch als Drogentrip? Sie beisst rein, stöhnt, erbricht. Und auf einmal gleiten übermannshohe, weiße Lichtkästen auf und nieder. Sie sehen aus wie italienische Designermöbel und stellen das einzig Mysteriöse der Aufführung dar: schicksalsmächtig und abweisend wie der Monolith in Kubricks Science-Fiction "2001: A Space Odyssey". Wer zieht da die Fäden? Alice verschwindet hinter ihnen im Dunkel: Die Verwandlung, wie es in der Stückfassung heißt.

alice 0181 560 toni suter uAuf dem Weg zu sich selbst: "Alice im Wunderland" in Zürich © Toni Suter

Aus der Raumtiefe robbt eine Raupe heran, verwandelt sich zum Schmetterling im eng anliegenden, durchsichtigen Glanzdress und bezirzt die Heldin. Jirka Zett posiert verführerisch. Aber das ist nur zur Lockerung gedacht. Denn Alice stellt dem eitlen Tier gleich die Frage aller Fragen: "Wer bin ich denn?" Später muss Alice fürchten, dass sie nur im Traum des träumenden Königs existiert, also – peng! – weg ist, wenn er aufwacht. Und von der weißen Königin (Hilke Altefrohne) erhält sie die Lektion, dass sie immer einsam bleiben werde. Den König und die Königin oder auch den schwarzen und den weißen Ritter, die einander auf Leben und Tod bekämpfen, hat Nunes aus dem Folgebuch "Alice hinter den Spiegeln" importiert, um Alice noch mehr grundlegenden Fragen aussetzen zu können.

Wie soll man leben?

Aber hier mildern weder Wunderland noch kindliche Spielfreude den metaphysischen Grusel. Alice ist ein erwachsenes Girl und Nunes stellt sie in eine harte Schwarzweiss-Bühnenwelt. Dazu schiebt er weitere Ebenen ein. Etwa die Karikatur des Kindertheaters: Vier Alices und zwei Mabels veranstalten mit dem Publikum ein Furzkissenkonzert. Oder er zieht heutigen Pausenhof-Slang auf die Bühne. Alice ruft der Herzogin: "Sag mal Tomate". Und reimt: "Deine Muschi kann Karate".

Als Mobbingopfer kriegt Alices dicke, dumme Freundin Mabel einen eigenen Auftritt: Dass die Erde bei der Drehung "eiere", verschaffe ihr "Augenblicke des Trostes in dieser misslungenen Welt". Wie in MTV-Videoclips performen Anna Katharina Bauer und Lisa Marie Neumann eigene R'n'B-Songs ("I've got reflections, of creatures in my brain"), die mit live angesteuerten Loops das Wunderland als eine virtuell erzeugte Fantasiewelt vorstellen.

Gewinnt Alice in den Büchern, hin und her pendelnd zwischen Gedankenlosigkeit und erwachendem Durchsetzungswillen, nach und nach Format, schreit sie hier im Finale verzweifelt: "Wie lebt man?" Es gälte eben doch einiges (besser) zu verstehen in Nunes' Theaterland: Ist die Ich-Frage hier generell als Angstfrage gemeint, ist das unbefangene Spiel nicht mehr als Furzkissen-Klamauk? Fazit: Die Alice-Bücher lesen und staunen.

Alice im Wunderland
von Lewis Carroll, Stückfassung Antú Romero Nunes und Ensemble
Regie: Antú Romero Nunes, Bühne: Florian Lösche, Musik: les deux et mol (Anna Katharina Bauer, Johannes Hofmann, Lisa Marie Neumann), Kostüme: Judith Hepting, Dramaturgie: Julia Reichert.
Mit: Hilke Altefrohne, Henrike Johanna Jörissen, Nils Kahnwald, Claudius Körber, Jirka Zett, Anna Katharina Bauer, Lisa Marie Neumann. Statisten: Marika Bors-Horvath, Pia Cattori, Luise Döbeli, Sibylla Iten, Oda Müller.
Dauer: 80 Minuten, keine Pause.

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

Barbara Villiger Heilig schreibt auf NZZ.ch (10.11.2013, 14:53 Uhr), dem Online-Portal der Neuen Zürcher Zeitung: Nunes ziele über die bekannte Geschichte hinaus – und verheddere sich komplett im Spiel mit Sinn, Unsinn, Wahnsinn. Zwar träten die bekannten Figuren auf, im Vordergrund aber stehe Henrike Johanna Jörissens Alice, die sich allsogleich multipliziere und fortan nebst ihrer Identität den roten Faden suche. Die mehrfache Alice werde ergänzt durch eine doppelte Mabel. Ihr Monolog stamme samt der Figur aus Wolfram Lotz' "Einige Nachrichten an das All", wie es überhaupt danach aussehe, als lehne sich Nunes an seine Lotz-Inszenierung vor einem Jahr in Wien an. Nur bleibe was dort grandios aufging, in Zürich zwischen "improvisierter Performance und szenischem Brainstorming von furchtbar bescheidenem Tiefgang" stecken. Auch kurze 80 Minuten könnten manchmal ganz schön lang sein.

Bettina Schulte schreibt in der Badischen Zeitung aus Freiburg (11.11.2013): Mit dem Furzkissen-Furzkonzert gehe es im "großbürgerlich saturierten Theatersaal" wie auf dem "Kindergeburtstag" zu. Die Begeisterung sei "wirklich riesengroß". Dass Lewis Carroll seinen Unsinn einer "präzisen inneren Traumlogik" folgen lässt, habe Nunes weiter nicht gestört. Der Regisseur behandele das Buch als eine "Stoffsammlung". Dass Alice in "durchaus bedrohlicher Weise mit der Instabilität ihrer Identität konfrontiert wird", werde von dieser Inszenierung ins "albern Harmlose" gezogen. "Für die suggestive Traumwelt von "Alice im Wunderland" ist das aber zu wenig."

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.11.2013) schreibt Martin Halter, der Abend sei "ein Kindergeburtstagsfest, bei dem psychedelische Bonbons und Haschplätzchen gereicht und Spiele gespielt werden, deren Logik sich dem erwachsenen Menschenverstand entzieht". Nunes wolle "verunsichern, verstören, verzaubern: Theater als Spiel, Machwerk und reine Zauberei." Dementsprechend solle seine Alice keine Allegorie für irgendetwas sein, "sondern regelhafte Sinnverweigerung, eine Einladung, das innere Kind zu entdecken". Das gelinge ihm hin und wieder sogar, doch wenn es gelinge, sei es "eher Schuhfall als Schickschal".

In der Welt (12.11.2013) schreibt Klara Obermüller: "Die Vorlage ist nicht viel mehr als Spielmaterial und die Aufführung Zitat. Beides dient nur dem Zweck dient, sich sein eigenes, verrücktes Wunderland hinter den Spiegeln zu erschaffen." Warum überhaupt "Alice" gespielt werde, fragt sich die Autorin. Antowort: Romane sind in Mode, die Bilder von "Alice" sind ins kollektive Gedächtnis eingegangen. "Das Spiel in der Pfauenbühne funktioniert, weil der Stoff Allgemeingut geworden ist und sich ein Großteil des Publikums nur noch sehr vage Erinnerungen an die Lektüre des Buches aus Kindertagen bewahrt hat."

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