An welchem Himmel hängen die Sterne?

von Eva Biringer

Berlin, 10. November 2013. Es gibt diesen einen Moment, in dem sich das Versprechen erfüllt. Eine kleinwüchsige Tänzerin bugsiert sich aus ihrem Rollstuhl und tritt ihn von sich, dieses Symbol ihrer Hilflosigkeit. Dann kriecht sie auf ihn zu, klappt ihn zusammen, setzt sich im Schneidersitz auf das Rad und stößt sich vom Boden ab. Anmutig dreht sie sich um die eigene Achse wie der kleine Kreisel in diesem Kinderlied. Ihre Behinderung wird bedeutungslos, mehr noch: durch sie entsteht etwas Originäres, ein Moment von Verletzlichkeit und Stärke. Als würde sie fliegen.

Im Rahmen des No Limits-Festivals zeigen das Theater Thikwa, das HAU, das Ballhaus Ost, das Theater RambaZamba und das Kesselhaus in der Kulturbrauerei Tanz- und Theaterstücke, Performances und Konzerte von und mit Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung. Dabei geht es nicht um ein bloßes Aufzeigen von deren künstlerischer Arbeit, sondern um die Aufhebung der zwischen Künstlern mit und ohne Behinderung verlaufenden Grenzen. Dreh- und Angelpunkt des zehntägigen Festivals ist das Theater Thikwa, jene integrative Theaterwerkstatt in Kreuzberg, die seit 1990 die ästhetische Praxis behinderter Künstler fördert.

"Streck die Arme wie Antennen zum Himmel"

Eröffnet wird die sechste Ausgabe des Festivals am Donnerstagabend mit einer Doppelproduktion. Ein elfköpfiges Ensemble, bestehend aus behinderten und nicht-behinderten Tänzern, zeigt die Arbeiten zweier portugiesischer Choreografen, Clara Andermatt und Rui Horta.

Andermatts "Levanta os Bracos como Antenas para o Céu – Streck die Arme wie Antennen zum Himmel" trägt seine Poesie bereits im Titel. In der Anfangsszene sitzen die Darsteller bewegungslos auf Drehstühlen, dazu jaulen Rockgitarren. Dann wird die kleinwüchsige Joana Caetano behutsam von einem zum anderen getragen, ein intimes Bild, das an Sebastian Hartmanns Krieg und Frieden erinnert, wo ein Schauspieler die ebenfalls kleinwüchsige Schauspielerin Jana Zöll wie ein Baby im Arm wiegte.nolimits levantaosbracos 560 juliosilvacastro uArme zu Antenenn – "Levanta os Bracos" © Julio Silva Castro

Caetanos Rollstuhl ist Segen und Fluch zugleich. Wenn er über einen Teppich aus Luftpolsterbläschen gleitet, knistert es wie Feuer, wenn man ihn zusammenfaltet, sich im Schneidersitz auf sein Rad setzt und vom Boden abstößt, hebt er seine Halterin in die Lüfte. Im Zentrum von Andermatts nicht-linearen, tänzerischen Sequenzen steht die Frage nach den Existenzbedingungen der versehrten Körper, denn versehrt sind sie alle, die wie auf Scherben trippelnde Tänzerin auf Spitzenschuhen (Juliana Andrade) ebenso wie der Tänzer António José Freitas, dessen verkürzte Beine von Schienen gestützt werden müssen. Und manchmal steckt in der scheinbaren Versehrtheit eine Kraft, dann, wenn Freitas gestützt von zwei Kollegen über die Bühne schreitet und dabei so viel stärker wirkt als die Primaballerina neben ihm.

"Beautiful People"

Im Gegensatz zu Andermatts Arbeit, die gänzlich ohne Sprache auskommt, lässt Rui Horta in "Beautiful People", dem zweiten Teil des Abends, die Tänzer zu Wort kommen. Nach der Pause spannen sich Bahnen aus blauen Lichterketten über die nebelverhangene Bühne, die allmählich zu Knäueln aufgewickelt werden. Der blinde Tänzer José Manuel Figueira erzählt, wie er seine Welt erlebt. Ein jähes, schmerzhaft blendendes Scheinwerferlicht markiert das Ende seines alten Lebens. "Etwas Neues beginnt, und es verändert sich alles."nolimits beautifulpeople 560 juliosilvacastro u"Beautiful People" © Julio Silva Castro

Auch wenn seine Welt im Dunkeln liege, sei sie bunt, er nehme die Dinge eben anders war. Neben solch berührenden Momenten stehen Sequenzen voller Gewalt: Drei träge Kämpfer, die sich in Zeitlupe Kinnhaken und Kopfnüsse verpassen, die Gesichter comichaft verzerrt. Eine mit Gaffa Band gefesselte Tänzerin (Sónia Gouveia), die sich in ihrer scheinbaren Freiheit gefällt, bis der blinde Tänzer es durchschneidet. Ein Mann (Ricardo Mendes), der seiner gehbehinderten Partnerin die Redefreiheit verwehrt. Dass sich die alltägliche Gewalt in der Kunst fortsetzt und keinen Unterschied macht zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, hat bei Horta paradoxerweise etwas Versöhnliches.

"Borderlines"

Im Gegensatz dazu ist die Gewalt in "Borderlines" roh, sinnlos und doch allgegenwärtig. Panaibra Gabriel Candas Tanzstück ist eine Zumutung, ein kaum auszuhaltendes Schauerstück über den Bürgerkrieg in Mosambik, der Heimat des Choreographen. Zwei der Tänzer tragen dessen Spuren unwiderruflich eingeschrieben, als Beinstümpfe und verkrüppelte Füße. Zusammen mit drei nicht-behinderten Darstellern schleppen sie sich über die Bühne, oftmals nicht mehr als zitternde, zuckende Klumpen. Opfer werden zu Tätern werden zu Opfern, für alle gilt: So werden Menschen gebrochen. Jeder wirft den ersten Ziegelstein.nolimits borderlines 560 michaelbause uWer wirft den Ziegelstein? "Borderlines" © Michael Bause

Die minutenlange Szene, in der Amelia Socovinho, Maria Tembe, Sonia Mulapha und Domingos Bie den Mann in ihrer Mitte (Antonio Billa) bespucken, bis die Spucke versiegt, wird sich in die Erinnerung brennen. Billa bleibt nicht mehr als ein leises Klagen: "Nobody knows the trouble I've seen", Candas brachiale Ästhetisierung von Gewalt ist für den Zuschauer so kräftezehrend wie für die Tänzer, wenn sie am Ende des Stücks eine Menschenkette bilden von der einen Bühnenseite zur anderen. Am Ziel angelangt, zieht sich eine der Frauen an der Wand empor. Aber da ist nichts. An diesem Himmel hängen keine Sterne.

qualitaetskontrolle3h 280 matthiasdreher uMaria-Cristina Hallwachs in "Qualitätskontrolle"
© Matthias Dreher

"Qualitätskontrolle"

José Manuel Figueira, der blinde Tänzer in "Beautiful People", sehnte sich am meisten nach der blauen Stunde und nach den Sternen. Er sagte das ohne Bitterkeit; sein Leben sei schön. Ganz ähnlich tritt Maria-Cristina Hallwachs in Qualitätskontrolle auf. Das Performancekollektiv Rimini Protokoll macht sie zu einer ihrer "Expertinnen des Alltags", und zwar für Pränataldiagnostik. Dabei ist Hallwachs nicht bloß Expertin, sondern eine Königin des Alltags, deren Optimismus und Lebensfreude die eigenen Wehwehchen umgehend in Bedeutungslosigkeit verpuffen lassen. Seit ihrem 18. Lebensjahr ist Hallwachs vom Hals ab gelähmt, viele der Ärzte hielten ihren Fall für aussichtslos und nicht einmal die Ethikkommission wurde sich einig, ob ein solches Leben lebenswert sei. Empört ist die mittlerweile 39-Jährige noch immer über diese Frage: "Natürlich will ich leben. Ich liebe das Leben."

"Prazan Glas"

Auch in der serbischen Produktion "Prazan Glas – The Empty Voice" begegnen wir lauter Lebensfrohen. Saša Asentić, Gründer des Kollektivs Per.Art, führt Live-Interviews mit einem fünfzehnköpfigen Ensemble. Mehr oder weniger autobiografisch rollen die Darsteller ihre Lebensgeschichte auf, der eine in Form einer Arie, der andere, indem er inbrünstig serbische Volkslieder schmettert, wieder ein anderer als Liebeserklärung an seine Lieblingscomichelden, während die Übrigen im lockeren Stuhlkreis auf ihren Einsatz warten. Einerseits zeugt das selbstreferentielle Hinterfragen der eigenen Performerrolle von Souveränität, andererseits besteht "Prazan Glas – The Empty Voice" doch zu sehr auf der "Andersartigkeit" seines Personals.

All das wäre zu verwinden, dank der Momente stiller Melancholie, die sich beim Anblick vergilbter Dias von Geburtstagstorten und Strandausflügen einstellt. Wenn nicht am Ende des Stücks die konsequente Entzauberung erfolgte in Form einer den Zuschauern  aufgezwungenen Diskussionsrunde. Ein tendenziell unkommunikatives Publikum durch Suggestivfragen ("Warum seid ihr hier?") zum Sprechen zu bringen, ist keine gute Idee. Wenn doch jemand fragt ("Bist Du verliebt?"), treten umgehend die Wahrer der political correctness auf den Plan ("Das ist keine Freakshow").

Feier des Nicht-Virtuosen

Zumal das zweitägige Symposium unter dem Motto "Wen kümmert's, wer spricht?" genug Anlass zu Diskussionen bot. Herausragend war der Vortrag über "Strukturierte Entgrenzung. Zur Ordnung des Theaters" des Soziologen Denis Hänzi. Dessen unprätentiöse Vortragsweise ("Die besten Sprüche kommen nie von einem selbst") nahm stellenweise performative Züge an, etwa, wenn er in sympathischer Zerstreutheit seine eigenen Formulierungen hinterfragte. So einen heiteren Umgang mit dem oft sperrigen, manchmal pädagogischen und immer herausfordernden Themenkomplex Inklusion vor, hinter und auf der Bühne wünscht man dem No Limits-Festival auch für seine kommenden Ausgaben. Damit sich das Versprechen von der "Feier des Nicht-Virtuosen" erfüllt.

Irgendwo, irgendwann in diesen turbulenten Festivaltagen las ich den Satz: "Man will immer ein Stückchen Himmel sehen." Ich dachte dabei an den blinden Tänzer aus "Beautiful People", dessen Sterne nicht verschwunden sind, sondern in seiner Vorstellung weiterglühen, und an Maria-Christina Hallwachs' glückliches Gesicht auf dem Videoscreen, als ihr Segelflugzeug vom Boden abhob. Ich dachte auch an Joana Caetano auf dem Rad ihres Rollstuhls. Sie musste den Blick gar nicht heben. Der Himmel war überall.


Dançando com a Diferença
Levanta os Braços como Antenas para o Céu (Streckt die Arme wie Antennen zum Himmel) & Beautiful People
Regie: Clara Andermatt & Rui Horta
Mit: António José Freitas, Bárbara Matos, Elsa Freitas, Joana Caetano, José Manuel Figueira, Juliana Andrade, Luisa Aguiar, Ricardo Mendes, Sofia Marote, Sónia Gouveia, Telmo Ferreira, Sara Anjo.

Borderlines
Choreografie: Panaibra Gabriel Canda
Mit: Amelia Socovinho, Antonio Bila, Domingos Bie, Maria Tembe, Sonia Mulapha.

Prazan Glas (The Empty Voice)
von Per.Art
Regie: Saša Asentić.
Mit: Natalija Vladisavljević, Goran Gostojić, Marijana Šugić, Snežana Bulatović, Dejan Šuljan, Marina Sremački, Marko Bašica, Vuk Vuković, Beata Perge, Bojana Stojanović, Mihailo Petrović, Dalibor Šandor, Frosina Dimovska, Dunja Crnjanski, Andrej Nenadov, Saša Asentić.

Qualitätskontrolle
von Rimini Protokoll
Regie: Helgard Haug, Daniel Wetzel.
Mit: Maria-Cristina Hallwachs, Timea Mihályi, Admir Dzinić.

"Wen kümmert's, wer spricht?"
Internationales Symposium
Mit: Margaret Ames & Adrian Jones, Saša Asentić, Dominik Bender, bigNOTWENDIGKEIT, Katja de Braganca, Denis Hänzi, Hans Harald Janke, Georg Kasch, Mathilde Pavis, Frederic Poppe, Peter Pankow, Anne-Françoise Rouche & Thierry Van Hasselt, Thomas Thieme u.a.

www.no-limits-festival.de

Mehr zum Thema Inklusionstheater findet sich in einem Beitrag von Georg Kasch. Zahlreiche weitere Beiträge zum Thema erreicht man über das nachtkritik.de-Lexikon.

 

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