Keks ist nicht gleich Keks

von Simone Kaempf

Berlin, 16. November 2013. Mascha, die Russin, kann nicht auf Stöckelschuhen laufen. Damit fängt der Zuschreibungsirrsinn gleich schon mal an. Baku, ihr Geburtsort, liegt in Aserbaidschan. Russisch kann sie also nicht sein. Für eine Deutsche ist sie nicht blond genug. Für eine Jüdin nicht jüdisch genug. Cem wiederum: schwul, die Eltern Türken, er selbst deutsch. Sowas gibt's nicht, sagt Horst aus dem thüringischen Apolda: "Ein schwuler Moslem? Der ist doch nicht deutsch!" Alles eine Frage der Perspektive also. Und bald vervollständigen der lactose-allergische Araber oder der softe Deutsche das Panorama der sieben Figuren, die Regisseurin Yael Ronen aus dem Roman "Der Russe ist einer, der Birken liebt" herauspickt, um ihre komplizierten Identitäts-Splitter samt aller anhaftenden Vorurteile und Ressentiments erst einmal ironie-satt auszubreiten.  

Dieses Intro im lockeren Improvisations-Stil nimmt einen gefangen, weil es in seiner Zuspitzung an den eigenen Vorurteilen rüttelt. Und erstmal scheint es auch die Türen zu öffnen für die Handlung von Olga Grjasnowas Roman, den Ronen als zweite große Eröffnungspremiere der Intendanz Shermin Langhoff am Maxim Gorki Theater adaptiert hat (die erste war am Freitag Nurkan Erpulats Kirschgarten). Die junge Mascha steht im Zentrum des Buchs, aus ihrer Sicht entfaltet sich ein Tableau darüber, was es heißt, als Tochter aserbaidschanischer Einwanderer in Deutschland aufgewachsen zu sein. Sie spricht fünf Sprachen, will Übersetzerin werden, führt nach außen ein  unkompliziertes Leben. Aber als ihr deutscher Freund nach einer Sportverletzung stirbt, driftet sie nicht nur in Trauer und Schuldgefühle ab, sondern wird auch von ihrer Kindheit in einem Kriegsgebiet eingeholt.

Rennen ins Unglück
Dieses Handlungsgerüst inszeniert Ronen als gerafftes Stationendrama: Szenen im Krankenhaus, auf dem Friedhof, beim Wiedersehen mit ihrer alten Liebe bilden die Eckpfeiler. Auf der Bühne liegt eine umgekippte überdimensionierte Birke. Mal bettet man sich darauf, mal balanciert man auf dem Stamm wie über einen Abgrund. Maschas Erlebnisse in Israel sind gestrichen. Im Schnelldurchlauf wird das Abgleiten in ein Unglücklichsein erzählt, mit einem ziemlich melancholischen, tschechow-haften Resümee. "Ein ganzes Leben schrumpft auf ein paar flüchtige Momente, die immer mehr verblassen", sagt Mascha am Ende; diesen Weg in die Ernsthaftigkeit geht die Inszenierung in jeder Hinsicht mit. 

Russe3 560 ThomasAurin xAnastasia Gubareva als Mascha auf dem Weg ins Unglück, links Dimitrij Schaad. © Thomas Aurin

Und das ist ziemlich schade. Denn das holzschnittartige Nachspielen des Romans passt nicht mit der freien Lesart des Anfangs zusammen, durch die man ja ein gekonnt leichthändig skizziertes Bild davon gewann, wie Zuschreibungen entstehen und welchen Druck sie aufbauen. Manchmal flammen im Spiel Reste davon auf, wenn sich aus scheinbar skurrilen Zuschreibungen plötzlich Dialoge entfachen, die aufhorchen lassen. Eine Tüte salzige Kekse wird da plötzlich zum Beispiel dafür, dass Keks nicht gleich Keks ist, sondern auch etwas, dem man mit Vorbehalten begegnet. Das ist interessanter und hat in dieser Konstellation mehr Existenzkern als die Hauptfigur planmäßig in ihr Unglück rennen zu sehen.

Musikalisch wider den Zuschreibungsfuror
Anastasia Gubareva übernimmt den Part der Mascha mit einer Spielfreude, die durchlässig für die Nöte ihrer Figur bleibt. Aber für die Innensicht der Figur bietet die Inszenierung einfach zu wenig Möglichkeit. Man freut sich auch sehr an Dimitrij Schaad, Schauspieler und Musiker, der an der Gitarre kleine Meta-Kommentare einsprengselt und zwischen den Szenen immer wieder Spannung aufbaut. Vor allem legt er eine fluffige, selbstironische Haltung an den Tag, die dem Zuschreibungsfuror etwas Eigenes entgegen setzt. Und das holt er aus etwas heraus, das weit über den Text hinausgeht.

Die Inszenierung lässt einen mit gemischten Gefühlen zurück. Im Maxim Gorki Theater herrschen jedoch noch das Glück und die Selbstbegeisterung der Aufbrechenden: großer Jubel für die Schauspieler, die Regisseurin, für Olga Grjasnowa und für sich selbst.

Der Russe ist einer, der Birken liebt (UA)
von Olga Grjasnowa in einer Bühnenfassung von Yael Ronen
Regie: Yael Ronen, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Esther Krapiwnikow, Video: Benjamin Krieg, Musik: Yaniv Fridel / Dimitrij Schaad, Dramaturgie: Irina Szodruch.
Mit: Mehmet Ateşçí, Knut Berger, Anastasia Gubareva, Orit Nahmias, Tim Porath, Dimitrij Schaad, Thomas Wodianka.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.gorki.de


Mehr zum neuen Maxim Gorki Theater: Die erste Premiere der Intendanz Shermin Langhoff war am 15. November 2013 Der Kirschgarten in der Regie von Nurkan Erpulat.


Kritikenrundschau

Eberhard Spreng schreibt auf der Website des Deutschlandfunks (17.11.2013):Burlesk komisch sei die erste Szene, wenn sich die "jungen Protagonisten" aus Grjasnowas Roman "gegenseitig mit Vorurteilen" traktierten. Dann aber bekämen die Freunde um Mascha "zunehmend Profil", "berührend" vor allem Dimitri Schaad in der Rolle des schwulen Moslems Cem. Ronen habe mit einer "konzentrierten Inszenierung" das Porträt einer neuen Generation gezeichnet, "für die die alten kulturellen, ethnischen oder religiösen Identifikationen erledigt sind". Nur bei Anastasia Gubarevas "hyperaktiver Hauptfigur" bleibe die "tiefenpsychologische Verzahnung von Kriegstrauma und tragischem Scheitern im Frieden und der Liebe wenig verständlich".

Yael Ronen habe Grjasnowas Roman zwar heftig beschnitten, gestalte jedoch die Hauptfigur der Mascha zu einer Chiffre für heutigen Ich- und Orientierungsverlust, findet Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (19.11.2013). Anastasia Gubareva spiele diese Mascha, eine glaubensferne Jüdin aus Baku in Deutschland, die durch einen Unfall ihren Freund verliert, sich erst in die Arme ihres Ex-Freundes Sami und dann nach Israel flüchtet, mit großer Intensität und herbem Hang zum Komödiantischen. "Das Spiel um Selbst- und Fremdzuschreibung wird dabei zum Spiel mit den Theatermitteln, zum Balanceakt auf dem schmalen Grat zwischen Klamauk und Katastrophe."

Ronen spitze beherzt zu und drehe das Ganze dreimal weiter in Richtung Groteske, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (19.11.2013). "Als absurdes Typenkabarett mit hochwirksamen Selbstdekonstruktionskräften aber funktioniert das Resultat bestens." Zumal hier – wenn sich schon mal eine derart gute Gelegenheit zum Stereotypen-Bashing bietet – nicht nur ethnische Klischees mit Grandezza durch den Kakao gezogen werden, sondern auch der Typus des Frauenverstehers oder der des akademischen Kosmopolitenstrebers.

"Im Roman wird aus der Sicht von Mascha erhellend wie komisch mit diskriminierenden Klischees und normativen Zuschreibungen gespielt", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.11.2013). Yael Ronen reduziere ihn hingegen auf eine erotisch bewegte Beziehungskiste, aus der vor lauter Selbstbeobachtung die Reflexionen über die gesellschaftlichen Zustände, die Grjasnowas Buch ungemein lebendig machen, getilgt würden. "Zur Besinnung kommt die über weite Strecken pennälerhaft aufgekratzte, oberflächlich umtriebige Inszenierung erst, als die beiden am Schluss beim Telefonieren einen zaghaften Blick in die Zukunft wagen, weil 'Erinnerungen irreführend sind', wie ihnen klarwird."

Yael Ronen hat Olga Grjasnowas Roman als lässig und genau differenzierendes Erzähltheater adaptiert, schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (18.11.2013) "mit richtigen Menschen − und ohne Angst vor dem Klischee." Ronen habe ein paar Schicksalsverstrickungen gestrichen und schnippe den Zuschauer mühelos aus den tiefen strapaziösen Seelengründen der Identifikation hinauf auf die Metaebene, "indem Maschas Freund Cem (Dimitrij Schaad) zur Gitarre greift und das Geschehen stört, reflektiert, weitertransportiert oder einfach rotzfrechtraurig besingt." Und Anastasia Grubareva sei eine tolle Mascha, "mit zynischem Humor gesegnet, leidenschaftlich".

Leicht und elegant, weil nicht mit programmatischem Furor getragen, komme "Der Russe ist einer, der Birken liebt" daher, schreibt Jenny Hoch in der Welt (19.11.2013). Yael Ronen nähere sich dem komplexen Glutkern des Stücks – Kriegstraumata, Verlorenheit, Heimatlosigkeit – "mit der wohl einzig möglichen, weil nicht in Betroffenheitskitsch ausartenden Haltung: Humor."

Peter Laudenbach schreibt in der Süddeutschen Zeitung (20.11.2013), Yael Ronens Romanadaption sei "in der Figurenzeichnung wie im Ausleuchten der Konflikte und komplizierten Identitätskonstruktionen" wesentlich "undifferenzierter" als Olga Grjasnowas Vorlage. Ronen erzähle "schnörkellos, komisch, am Anfang mit Freude an kabarettistisch zugespitzten Stereotypen", lasse sich dann aber "auch ohne Ironiefilter und Grobzeichner" auf ihre Figuren ein. Dass der Abend "emotionale Kraft" entwickele, liege vor allem an Anastasia Gubareva, sie spiele die "herben Ausbrüche, die großen, aber unsortierten Gefühle" ihrer Figur, "mit Wucht, Feinheit und Intelligenz".

In seinem Neustart-Porträt zum Gorki (Gesamtfazit: ein "guter Anfang") für die Zeit (28.11.2013) schreibt Peter Kümmel: "Das Stück entbehrt der Tiefe des Romans, es funktioniert ein wenig wie eine Zauberposse im Geist des guten alten Grips Theaters: Konflikte werden durch Witz, Musik und lakonische Umbauarbeiten auf offener Bühne gelöst (...). Man kann nicht sagen, dass dieses postmigrantische Theater über das emanzipatorische Theater eines Volker Ludwig hinauswiese. Immerhin, je länger das Spiel andauert, desto mehr vollzieht es die Verwandlung vom aufgekratzten Jugendstück zum fesselnden Schauspiel."

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