Genie und Revolutionär

von Nikolaus Merck

Darmstadt, November 2013. In der Nacht des 1. August 1834 ging Georg Büchner über Land. Im blauen Polenrock, Zylinder auf dem Kopf. Die Jacke signalisierte den radikalen Liberalen, der Hut den Studenten. Nicht gerade die unauffälligste Kleidung im bäurischen Oberhessen, zumal für den Verfasser des umstürzlerischen Hessischen Landboten, den die Polizei steckbrieflich suchte.

Bürger, Intellektueller, Leuchtgestalt

Die auch für damalige Verhältnisse leicht hippieske Kleidung zeigt das Selbstbewusstsein des Sohnes aus gutbürgerlichem Haus, Absolventen eines Elite-Gymnasiums, den Angehörigen des exklusiven Zirkels der Studentenschaft. So einer verachtete die Dummbatzen der Polizei, drei Jahre später schrieb er es auf in "Leonce und Lena". So einer trat der Obrigkeit mit frechem Dünkel entgegen. Und nicht wenige aus seiner Schule dachten wie er: links, rebellisch, bereit, die Republik gegen die untertanseligen Eltern und das fürstliche Militär mit Gewalt zu erkämpfen.

Der junge, fortschrittlich gesinnte Intellektuelle – ein Gärstoff für Veränderung, nicht nur vor 130 Jahren. Auch Rudi Dutschke besaß ein heftig unterstrichenes Exemplar des Hessischen Landboten.

buechner ausstellung portrait 280 alexis muston uGeorg Büchner auf den Steinen des Felsenmeers,
Bleistiftzeichnung von Alexis Muston, 1833,
Leihgabe Fonds Muston an Freies Deutsches
Hochstift / Frankfurter Goethe-Museum
Georg Büchner wäre am 17. Oktober 200 Jahre alt geworden. Der Namenspatron des wichtigsten deutschen Literaturpreises starb 1837 gerade mal 23jährig im Zürcher Exil an Typhus. Er hinterließ drei Dramen, eine Erzählung, eine Flugschrift, die Dissertation und Briefe. Ein schmales Werk? Genug für 18 großformatige Bände der textkritischen, detailselig noch das letzte Manuskriptblatt erfassenden Marburger Ausgabe. Eine Forschungsarbeit, wie sie nur Leuchtgestalten widerfährt: Kafka, Goethe, Hölderlin und eben Büchner.

Was diesen Arztsohn, promovierten Mediziner und Philosophen, den Poeten prägte, was er sah, was er hörte, was er las, kann man jetzt in einem verschachtelt schiefwinkligen Ausstellungsparcours im Kongresszentrum Darmstadtium in Darmstadt sehen und hören.

Klettern und Shakespeare im Walde

Wie klein dieses Darmstadt war, Museum, Theater, Schule, Kasernen, mitten drinnen das großherzogliche Schloss. 21.000-Seelen zählte die Residenz des Großherzogtums Hessen, verwinkelt und eng die Gassen der Altstadt, bürgerlich-aristokratisch dagegen die neuen Stadtteile im Westen, wo Büchners Familie wohnte. 24 Menschen lebten im Haus in der Grafenstraße, zehn Mal so viele auf gleichem Raum in der Hinkelsgasse, das Quartier verbrannte im Zweiten Weltkrieg. Im Westen gähnte das flache Ried, mit Büchners Geburtsort Goddelau, aufregend romantisch der Odenwald im Süden und Westen, wo der Straßburger Freund Alexis Muston Büchner beim Klettern im Felsenmeer zeichnete.

buechner ausstellung kritzelseite 560 uGeorg Büchner, "Kritzelseite" im Schulheft, Frühjahr 1831, Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und
Schiller-Archiv

Sein papierschnipselgroßes Büchner-Portrait, vielleicht von Rand einer Briefschaft, hatte man dagegen jahrzehntelang verloren geglaubt, erst jüngst war es bei einem Nachfahren des Franzosen wieder aufgetaucht. Auch der zweite Dachboden-Büchner, ein junger Mann im Piratenwams mit Notenblatt, unlängst in Gießen aufgefunden, hängt in der Darmstädter Ausstellung. Frappierend die Ähnlichkeit mit Mustons Büchner, gleichwohl zweifeln Fachleute, ob es sich bei August Hoffmanns Zeichnung wirklich um dessen Darmstädter Bekannten handelt.

Gleich vis-à-vis von Alexis Mustons Zeichenbrevier findet sich im engen zweiten Gang Shakespeares Totenmaske. Seine Dramen lernten die Gymnasiasten auf Waldspaziergängen auswendig, die Schlegel-Tieckschen Übersetzungen hatten gerade den gereinigten, deutschen Shakespeare erfunden; die Shakespearomanie schlägt sich später in Büchners eigenen Texten nieder, 89 Stellen in "Dantons Tod" gehen auf seinen Säulenheiligen zurück.

buechner ausstellung aphrodite 200 u"Venus mit dem schönen Hintern",
Aphrodite Kallipygos, 2. Jh. v. Chr.,
Gipsabguss, Philipps-Universität
Marburg, Foto: H. Fenchel

Stationendrama

Die Ausstellung folgt Büchners Lebensweg in Stationen. Von Darmstadt, mit seinen obrigkeitshörigen Bürgern, die "die Sahara in Herz und Seele" trugen, der nachgebauten Wohnstube – die rotblonde Locke des Helden an der Wand hinter Glas –, nach Straßburg, wo der Wind politischer Freiheit wehte, die scharfen politischen Karikaturen eines Honoré Daumier zu bestaunen und die Ereignisse der französischen Revolution noch frisch in Erinnerung waren, bis hin zum Zürcher Exil mit dem halb nachgebauten Sterbezimmer drei mal fünf Meter. Eine Art News-Ticker räumt mit dem Vorurteil auf, zwischen dem Wiener Kongress 1815 und den Revolutionen von 1848 habe es sich um eine selbstzufriedene Duckmäuserepoche gehandelt. In Wirklichkeit waren Aufstände und Rebellionen zwischen 1830 und 1836 an der Tagesordnung. Militär, das die Bevölkerung niederkartätschte, gehörte zur Alltagserfahrung.

Von unten, aus dem hessischen Polizeistaat, nach oben, an die Orte der Freiheit Straßburg und Zürich, baut sich die Ausstellung auf. An den Wänden die bekannten Sentenzen, Dantons Frage "Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet?" oder die Fürsten-Veräppelung aus "Leonce-und-Lena", wo König Peter moniert: "Der freie Wille steht da vorn ganz offen".

Mühen wurden nicht noch Kosten gescheut. Natürlich gibt es Original-Blätter aus den Manuskripten, die Kritzelhefte der Schulzeit mit Pauker-Beschimpfungen, eine Marie-Szene aus "Woyzeck". Eine englische Druckerpresse, auf solch einem Ungetüm mag der "Hessische Landbote" gedruckt worden sein, jene "wichtigste politische Flugschrift zwischen den Bauernkriegen und dem Kommunistischen Manifest". Allein ihre illegale Beschaffung dürfte ein eigenes Gustostückerl an Organisations- und Untergrundarbeit dargestellt haben. Nebenan, auf dem Revolutionsplatz, der "Danton"-Station, reckt sich eine Guillotine, die französischen Besatzer ließen sie beim Rückzug aus Dillenburg zurück, und die Replik einer griechischen Aphrodite, jene "Venus mit dem schönen Hintern", die sich die Dantonisten als Türsteherin der Republik wünschten.

Wunderkammer

Diese 400 Objekte sind akribischer Lektüre abgewonnen, ihre Inszenierung als Wunderkammer schafft ein sprechendes Panaroma der Büchner-Zeit. Mag sein, dass Büchner einen Teil davon wirklich selbst sah, Carel von Savoys Gemälde "Christus erscheint den Jüngern in Emmaus" jedenfalls hing im Darmstädter Schloss, und Büchner hat es im Kunstgespräch in "Lenz" detailgenau beschrieben. Und angesichts der ragenden Pelzquaste am Offiziers-Tschako des Tambourmajors dürfte sich für die Zeitgenossen jede weitere Frage zur sexuellen Metaphorik im "Woyzeck" erübrigt haben.

buechner ausstellung tambourmajor 280 uFranz Hubert Müller/Josef Völlinger, Tambourmajor,
kolorierte Lithographie, Schlossmuseum Darmstadt,
Foto: Rühl und Bormann
Dass Büchner sich in erster Linie als Naturwissenschaftler und Philosoph verstand, mit Karriere-Ambitionen an der Universität, unterschlägt die Ausstellung nicht. Auch wenn sie sich mehr für den genialen Freizeit-Dichter interessiert, der unter dem vom Vater geschenkten Anatomie-Atlas das "Danton"-Manuskript versteckte. Neben allerhand Lurchleibigem in Spiritus zeigt ein eigens produzierter Film die Sektion einer Barbe mit historischem Sezierbesteck, das Freilegen der Schädelnerven, über die Büchner auf der wissenschaftlichen Höhe seiner Zeit promovierte.

Auf die beiden im Moment gängigen Büchner-Bilder, hie der frühkommunistische Revolutionär, wie ihn der Biograph Jan-Christoph Hauschild ("Verschwörung für die Gleichheit", Hofmann und Campe 2013) zeichnete, da das romantisch-christliche Genie von Hermann Kurzke ("Georg Büchner. Geschichte eines Genies", München 2013) wollte sich der Darmstädter Ausstellungsmacher Ralf Beil nicht einlassen.

Modernität

Statt 'entweder oder' ein 'sowohl als auch', lautete sein Arbeitsmotto. Wobei eindrucksvoll der Erweis erbracht wird, wie modern und von den Moral- und Anstandslehren seiner Zeit unbeeinflusst Büchner schrieb. Als guter Shakespearianer und stocknüchterner Anatom ließ es Büchner in seinen Stücken an drastischen Anspielungen, Zoten und informierten leiblichen Details nicht fehlen. Wie sexualisiert indes seine Zeit unter der wohlanständigen Oberfläche war, legt das erotische Kabinett voll von expliziten Bildern, Uhren und Kartenspielen nahe.

Modern aber war vor allem Büchners virtuose Collage-Technik. Er griff nicht nur ganze Stoffe aus Zeitungen ("Woyzeck") oder Zeitschriften ("Dantons Tod") auf, vor allem borgte, bearbeitete und montierte er mit stupender Behändigkeit Sätze, die er in seinen Lektüren von Shakespeare und Goethe, der Bibel, Grimms Märchen oder Heinrich Heine gefunden hatte. Computer-animierte Videofilme zeichnen diesen Collage-Prozess beim Schreiben anschaulich nach.

Die lesenswerten Aufsätze des Katalogs unterfüttern die Anschauung der Inszenierungspracht. In diesem 610seitigen Wackerstein laufen die Abbildungen gegenstrebig und auf dem Kopf stehend zum Text. Derart verwirklichen sie zuletzt doch die Sehnsucht von Lenz: "Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte."

 

Georg Büchner – Revolutionär mit Feder und Skalpell
Ausstellung des Instituts Mathildenhöhe Darmstadt in Zusammenarbeit mit der Büchner-Forschungsstelle Marburg
Darmstadtium, Darmstadt, bis 16. Februar.
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10 – 18 Uhr, Donnerstag 10 – 21 Uhr,
Montag geschlossen.
Eintritt: inklusive Audioguide 10 €, 8 € ermäßigt, Familienkarte: 20 € (zwei Erwachsene mit Kindern).
Der Katalog, Hatje Cantz 2013, herausgegeben von Ralf Beil und Burghard Dedner, 610 Seiten, 58 Euro.

www.mathildenhoehe.eu

 

Mehr zu Georg Büchner: Dirk Pilz hat die neue Biographie von Hermann Kurzke Georg Büchner. Geschichte eines Genies gelesen und besprochen.

 

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