Podiumsdiskussion über die Wirklichkeit von Dokumentartheater
Brecht, Benz und GSG 9
von Nikolaus Merck
Berlin, 5. Dezember 2013. Was ist das eigentlich, Wirklichkeit in den Künsten? – fragt die Akademie der Künste in Berlin ein Jahr lang in einer Reihe von Veranstaltungen. Gestern war im Akademie-Foyer am Berliner Hansaplatz das Theater an der Reihe. Unter der Überschrift "Versuche über die unbekannte Gegenwart" moderierte der Journalist Thomas Irmer ein wahrhaftes Gipfeltreffen des alten und neuen Dokumentar… – "Ich mach' kein Dokumentartheater", ruft Rolf Hochhuth, "In meinem 'Stellvertreter' sind, bis auf die letzten sechs Zeilen, sämtliche Dialoge vollkommen frei erfunden. Genauso wie 24 der 28 Personen."
Als würde Himmler Hitler umbringen
"Ich mach kein Dokumentartheater", sagt auch Milo Rau, "das Video von der Ermordung der Ceaușescus gehört zu den fünf bekanntesten im Westen, mich hat die Kraft der Bilder interessiert." Milo Raus Reenactment des Geheimprozesses gegen das Ehepaar Ceaușescu im Dezember 1989 habe erstmals gezeigt, wer über den Diktator und seine Frau zu Gericht gesessen habe. "Enge Vertraute", sagt Rau, "unsere Aufführung zeigte erstmals alle Beteiligten. Und die sind, bis auf General Stanculescu, heute alle noch an der Macht. Es ist gerade so, als hätten Himmler und Göring am Ende des Krieges Hitler umgebracht und dann erklärt, sie seien Demokraten."
Angesichts des Schaffens von Rolf Hochhuth und Milo Rau – "man sagt mir, es sei wie Shakespeare!" (Rau), "Genau wie bei mir, Shakespeare!" (Hochhuth) – erübrigt sich auch die Frage nach dem Politischen. Beide sind Eingreifer, der eine, zu seiner Zeit, ein Aufklärer mit Mitteln des Dramas (das gedruckt sämtliche Dokumente mitlieferte, die im eigentlichen Stück verarbeitet wurden). Der andere ein Brechtianer reinsten Wassers, der genauso aus der Fülle der Quellen auswählt, der Geschichte nachspielen lässt, detailgenau oder verdichtet, damit Zuseher und Spieler auf neue Gedanken kommen. Die Dokumente sind ihnen das Material, man könnte auch sagen: Die Dokumente sind ihnen Zeugnisse der miserablen Wirklichkeit, sie aufzuführen (zu verdichten, nachzuspielen, wiederaufzuführen) der Beginn einer gewünschten Veränderung.
Helmut Schmidt 50 Millionen bezahlte
Bloß, was ist das eigentlich: die Wirklichkeit, und wie würklich ist diese Würklüchkeit? Wo Literaturwissenschaftler schon an der Existenz der Sache zweifeln, Kant an ihrer Erkennbarkeit, Beckett an ihrer Darstellbarkeit, setzen die Helden des Dokumentartheaters – "ich mach kein Dokumentartheater!" – die Wirklichkeit einfach voraus. Dass sie in ihrer Kunst Wirklichkeit erst konstruieren und dass es DIE wirkliche Wirklichkeit, die alle teilen, kaum geben dürfte, muss ihnen keiner erklären. Weshalb es an diesem Nachmittag in der Akademie auch niemand versucht.
Rundtisch-Gespräch zum Dokumentartheater in der Akademie der Künste in Berlin, von links: Moderator Thomas Irmer, Rolf Hochhuth (wie üblich mit grüner Krawatte), Milo Rau (mit Lederjacke), Hans-Werner Kroesinger und Helgard Haug. © www.schwindelderwirklichkeit.deDokumentartheater? Kein Problem, sagt Hans-Werner Kroesinger, gleichsam der Historiker unter den Vieren. Der ehemalige Heiner-Müller-Regieassistent hat Geschichte studiert und kennt sich mit Dokumenten als Quellen aus. Während Hochhuth verdichtet, Rau die Dokumente ergänzt und korrigiert, studiert Kroesinger die Akten. Und findet erstaunlich vieles veröffentlicht. In der Recherche zu "Failed States: Somalia" etwa, dass Helmut Schmidt 1977 die Erlaubnis zur Stürmung des entführten Flugzeugs Landshut durch die GSG 9 im somalischen Mogadischu dem Diktator Siad Barré für 50 Millionen D-Mark abkaufte. Nur merken durfte es damals niemand, weshalb Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski, Schmidts Mann für besondere Aufgaben, 25 Mio. Euro in bar im Koffer ans Horn von Afrika schleppte. Weil, wie George Tabori sagt, Texte nicht reden, bringen Kroesingers Schauspieler sie spielend zum Sprechen. Der Regisseur versteht sich dabei als "ein Autor, der nicht schreibt – ich montiere".
Brecht'sches Lehrstück bei Rimini Protokoll
Mehr als siebzig von neunzig anberaumten Minuten sind bereits vorüber, ehe Helgard Haug von Rimini Protokoll zum ersten Mal zu Wort kommt. Genauso wie hier die Höflichkeit, fällt später auch die angekündigte Diskussion der breitformatigen Darstellung der verschiedenen Arbeitsmethoden zum Opfer. Für Rimini Protokoll stellt die "unbekannte Gegenwart" den eigentlichen Anlass für ihre Arbeit dar. Wer eine Hauptversammlung von Daimler Benz zu Theater erklärt, tätige Menschen als Experten des Alltags befragt und mit ihren eigenen Texten auf die Bühne bringt, wer Statistiken über Städte von den Stadteinwohnern verkörpern und darstellen lässt, für den muss ja das, was anderen offensichtlich vorkommt, zutiefst frag- und befragungswürdig erscheinen.
Auch Rimini Protokoll sind natürlich Brechtianer. In Situation Rooms 20 Leute mit Tablet-Computern durch 15 Räume zu schicken, um sie eine Geschichte mit vielen möglichen Varianten, abhängig von den Mitspielern spielen, also erleben zu lassen, ist ja nichts anderes als die in der Theorie des Lehrstücks vorgesehene Erfahrung, die die Spieler im Spiel machen sollen. Vielleicht unterscheiden sich die theatralen Versuchsanordnungen von Rimini Protokoll darin auch am stärksten von den Hochhuth, Rau und Kroesinger – Riminis beste Spiele werden von Nicht-Schauspielern gespielt, auf sie, die Produzenten, hat dieses Theater die kräftigsten Wirkungen. Dokumente spielen dabei, abgesehen von mündlichen Berichten, sozusagen "Oral History", kaum eine Rolle.
Und? Was ist nun das Ergebnis dieses Treffens der Dokumentartheatermacher, die mehrheitlich keine Dokumentartheatermacher sind? Vielleicht drückt ein Satz von Rolf Hochhuth den Befund am besten aus: "Wir sind in unseren Macharten verschieden, in unserer Sicht auf die Gesellschaft sind wir nicht weit voneinander entfernt." Der Gesellschaft als eine zu verändernde, mag man hinzufügen.
Der Mitschnitt des Video-Livestream der Veranstaltung wird ab 6.12.2013 unter www.schwindelderwirklichkeit.de abrufbar sein.
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(Liebes auch,
woran machen Sie Ihre Kritik fest? So ein Pauschalvorwurf gegenüber allen und jedem führt nicht unbedingt weiter.
Gespannt auf Argumente, mit besten Grüßen:
Anne Peter / Redaktion)
ich habe mich selbst mit solchen Fragen theoretisch herumgeschlagen und fürchte, es gibt keine Antwort bzw. solche Grundsatzfragen lähmen die Kreativität.
Die im Dokumentartheater dargestellte Wirklichkeit ist immer eine Momentaufnahme als Konstruktion der Autoren/RegisseurInnen auf dem Wissenstand an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt.
Wenn die Autoren/RegisseurInnen ihr Erkenntnis-Interesse selbst versuchen darzustellen, kann das Dokumentartheater hinterfragbar werden.
Ich fand Yael Ronens "Dritte Generation" in dieser Beziehung atemberaubend, weil die Produktion reiste und in Polen und Israel natürlich andere Reaktionen auslöste als in Deutschland oder Frankreich und diese Reaktionen in den anschließenden Diskussionen mit den SchauspielerInnen auch thematisierte. Das hat die Perspektiv=Ort=System-Frage von Realitätskonstruktionen für mich wirklich ganz konkret anschaulich gemacht. Ich wünschte, es gäbe mehr solche Konstruktionen. Besonders bei Kroesinger fände ich das anregend oder Hochhuths "Stellvertreter" im Vatikan. Milo Rau hat das ja mit Pussy Riot auch gemacht.
Bei Kroesingers Stück über den Völkermord in Ruanda, wo wir alle im Zelt saßen, hatte ich diesen Eindruck überhaupt nicht. Diese Berichte vom Genozid haben mich einfach umgehauen. Ich konnte nicht mal über die Machart und die Konstruktionsfrage nachdenken, sondern dachte die ganze Zeit: Warum bewältigen wir eigentlich ständig das Dritte Reich? Um von dem Genozid in unserer Gegenwart abzulenken?